Читать книгу Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 12 - Martina Meier - Страница 9

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Weiße Weihnacht

Es regnete. Mal wieder. Aus dem Fallrohr der Regenrinne schossen Sturzbäche, schwere Tropfen klatschten gegen die Fensterscheiben, die Welt verschwamm für einen kurzen Moment vor Toms Augen. Gestern hatte es ebenfalls aus Kübeln geschüttet, vorgestern war ein feiner Nieselregen niedergegangen, davor hatte es tagelang Bindfäden geregnet. „Nässe kommt in allen Formen vom Himmel“, dachte Tom und presste die Nase an das Glas, sodass dieses beschlug, „aber kein Schnee.“ Hin und wieder wurden die Regentropfen dicker, mit etwas Fantasie konnte er sogar kleine Schneekristalle erkennen. Auf dem Weg zur Erde aber schmolzen sie. Die Erwachsenen sprachen von scheußlichen Graupelschauern und Schmuddelwetter.

In drei Tagen war Weihnachten. Voller Sehnsucht wartete Tom auf Schnee. Kalt genug war es, glaubte er. Mit hochgezogenen Schultern und aufgestellten Mantelkragen huschten die Menschen durch die Straßen. Jeden Morgen, wenn Tom aus dem Bett sprang, in freudiger Erwartung zum Fenster eilte, sah er Grau. Mal war es ein helleres Grau wie eine freundliche Wolke, häufig war es dunkel wie die alte vergammelte Betonwand auf dem Schulhof neben dem Hausmeisterbüro.

Wenn er am Frühstückstisch fragte: „Wann schneit es endlich?“, variierten die Antworten nur wenig. Es gab ein Schulterzucken, wenn sein Vater die Zeitung las, oder ein undefiniertes „Irgendwann“. Seine Mutter sagte sogar: „Hoffentlich schneit es nicht!“ Es mache das Autofahren schwer, man müsse Schneeschippen, die Straßen seien rutschig, die Bürgersteige ebenso und der Dreck danach, wenn es wieder taute …

Als seine Mutter ihm „Gute Nacht“ wünschte, fragte Tom erneut: „Meist du, morgen gibt es Schnee?“

Wenigstens ließ sich seine Mutter dieses Mal zu einer ehrlichen Antwort hinreißen. „Nein, es ist nichts angekündigt!“ Und als ob das nicht schlimm genug wäre, schob sie nach: „Auch Weihnachten soll es nicht schneien, haben sie heute gesagt.“

„Das ist gemein!“

„Träum dich doch in eine Schneelandschaft!“, erwiderte seine Mutter lächelnd. „Stell sie dir einfach vor — eine weiße Fläche!“

Eine weiße Fläche! Wie langweilig das klang. Tom fühlte sich an die geflieste Wand im alten Schwimmbad am Stadtrand erinnert. Er überlegte: Wie sähe seine ideale Winterwelt aus? Eine leicht hügelige Landschaft müsste es sein. Eine, die Konturen aufwies: sanft geschwungene Buckel mit einer schönen Decke Schnee, bestimmt einen Meter dick. Dazu ein paar Tannen mit weißen Hauben und ein Dorf, dessen Kirchturm die in eine Mulde gekuschelten Häuser deutlich überragte. Vielleicht ein Wald am Horizont. Die Mutter hatte das Zimmer längst verlassen, als Tom noch immer in seinen Gedanken in der Winterlandschaft unterwegs war.

Wie sollte der Himmel aussehen? Blau, weiß, grau? Welche Tageszeit sollte es sein? Und er brauchte einen Weg. Wie schnell sich ein schmaler Pfad in Gedanken einfügen ließ. Er war schneebedeckt wie der Rest der Landschaft, doch konnte Tom Fußspuren ausmachen, die darauf hindeuteten, irgendjemand vor ihm hatte diesen Weg genommen. Aufregend! Auch Tom würde diesen Trampelpfad gehen, eine kleine Brücke überqueren, unter der ein Bächlein gurgelte. Tom wurde müder und müder, er hatte Schwierigkeiten, sich auf sein Bild zu konzentrieren. Schade, dachte er, er wäre heute gerne noch lange durch seine Winterlandschaft gewandert. Und dann war er eingeschlafen.

Natürlich konnte man auch am Tag träumen. Aber deutlich mehr Spaß machte es, wenn er im Bett lag. Außergewöhnlich früh zog sich Tom heute in sein Zimmer zurück. Seine Eltern hatten ihm einen skeptischen Blick zugeworfen, als er sich bereits um sieben Uhr abends für die Nacht verabschiedete.

Auf Knopfdruck konnte Tom sein Bild von gestern wiederherstellen. Schön war es. Herrlich winterlich. Inzwischen hatte Tom sich für einen blauen Himmel mit ein paar zerrupften Wolken entschieden. Mittagszeit sollte es sein. Die Sonne, die um diese Uhrzeit hoch am Himmel stand, brachte die Schneefelder, die vor ihm lagen, zum Glänzen. Es glitzerte und funkelte, bis Tom die Augen schließen musste. Plötzlich hatte er eine Sonnenbrille auf der Nase. Er blickte an sich herunter: Seine Füße steckten in roten Moonboots, mit denen er fast zehn Zentimeter größer war als sonst. Aber er trug weder Anorak noch Mütze oder Handschuhe. Trotzdem fror er nicht.

„Seltsam“, dachte er, „so viel Schnee, aber keine Kälte.“ Munter stapfte er los, in Richtung des Dorfes. Was ihn dort wohl erwarten würde? Das Gefühl der Vorfreude stieg in ihm auf.

Neben ihm türmte sich der Schnee einen halben Meter hoch — eine dicke, unberührte, flauschige Schicht Weiß, die einladend aussah. Lange hatte er keinen Schnee mehr erlebt. Beinahe hatte Tom vergessen, was man damit alles anstellen konnte. Aber nur beinahe. Als Erstes sprang er in die stäubende weiße Pracht, wirbelte fröhlich herum, drehte sich im Kreis, dann warf er sich in den Schnee. Auf dem Rücken, wie in einem Daunenbett liegend, betrachtete er den Himmel über sich. Ein paar schwarze Vögel flogen über ihn hinweg. Wie ging das noch? Richtig, Arme und Beine lang gestreckt öffnen und wieder schließen, wie beim Hampelmannspringen. Mit wenigen Bewegungen hatte er einen Schneeengel gezaubert. Nachdem Tom aufgestanden war, sich den Schnee von der Kleidung geklopft hatte — so viel Ordnung musste auch im Traum sein —, begutachtete er sein Werk. Vielleicht brauchte es einen weiteren Engel, damit der eine nicht einsam war. Zu zweit war es immer schöner. Abermals sprang Tom in die dicke Decke, warf mit Schnee um sich, bevor er den zweiten Abdruck formte.

Nur ein paar Schritte später war Tom auf der Holzbrücke, die über den Bach führte, der munter durch die Landschaft gluckerte. Unter dem Steg hingen filigrane Eiszapfen dicht nebeneinander wie eine Borte aus Kristall.

Tom kniete sich auf das Holz, brach einen der Zapfen ab und hatte einen Eislutscher. Weiter lief er, griff neben sich, formte Schneebälle, warf sie in die Luft und schaute ihnen zu, wie sie mit einem stumpfen Geräusch wieder in den Schnee tauchten.

Sehr schnell näherte er sich dem Dorf. Er konnte die Kirche deutlich erkennen, einige Häuser und — oh nein — die Bilder verschwammen vor seinen Augen.

Am nächsten Abend begann Tom seine Erkundung im Dorf. Er wanderte über den verschneiten Dorfplatz, um den sich die Kirche und eine Handvoll Häuser gruppierten. Tom spähte durch die Fenster der kleinen Gebäude, sah holzgetäfelte gemütlich aussehende Stuben, aber keine Menschen. Natürlich nicht. Zu dieser Tageszeit waren alle unterwegs.

Es müsste Nachmittag sein, entschied er. Schwupps, waren sie da: Junge, Alte, Kinder, Hunde und Katzen. Mit einem Mal herrschte ein buntes Treiben im Dorf.

„Weihnachtlicher könnte es aussehen“, überlegte Tom. Kaum hatte er den Gedanken beendet, entdeckte er Eislaternen, Tannengestecke und -girlanden, Sternenketten und rote Christbaumkugeln an dunklen Tannen und viele Kerzen. Einen Schneemann, nein mehrere Schneemänner. Eine Garde von Schneemännern.

Auf einmal begann es zu schneien. Tom legte den Kopf in den Nacken, sah die weißen Flocken und hatte das Gefühl, dem Himmel entgegenzuschweben. Es war wunder-, wunder-, wunderschön.

„Tom!“

Tom schreckte hoch. Wo war er? Seine Mutter stand neben seinem Bett. Ihre Augen strahlten. Es war Morgen.

„Du wirst nicht glauben, was los ist“, sagte seine Mutter und schob mit einem Schwung die Gardinen beiseite. „Es schneit! Es gibt eine weiße Weihnacht!“

Ungläubig betrachtete Tom das Schneetreiben vor dem Fenster, bevor sich ein Lächeln um seinen Mund legte.

Bettina Schneider lebt in Berlin.

Wünsch dich ins Wunder-Weihnachtsland Band 12

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