Читать книгу Wünsch dich ins Märchen-Wunderland - Martina Meier - Страница 12
Оглавление*
Nurofelia im Raupenschmetterlingsland
In einem weit entfernten Land, in dessen Wäldern seltsame Geschöpfe hausten, lebte einst auch eine kleine Elfe namens Nurofelia. Diese war durchaus kein liebes Elfenkind. Ständig gab sie Widerworte und wusste alles besser, egal, wie oft ihre Elfenmutter und ihr Elfenvater sie zurechtwiesen.
Eines Tages fand ihre Mutter jedoch, nun sei es genug. Streng sah sie Nurofelia an, hob den Zeigefinger und rief: „Was sein muss, muss sein. Geh mir aus den Augen, Kind! Hiermit verbanne ich dich in das Raupenschmetterlingsland! Und wage es ja nicht zurückzukommen, ehe du nicht Demut und Respekt gelernt hast!“
Rums! Ihre Mutter schmetterte das Moosgatter ihres Elfenhügels direkt vor Nurofelias Nase zu.
Da stand sie nun, die kleine Elfe, und wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Einzig ihr kleiner Kuscheltierfreund Minicorn schmiegte sich in ihre Arme, so wie stets. Nurofelia steckte die Nase in das kuschelige Fell des Seepferdcheneinhorns. „Nanu, Minicorn, weißt du, was das zu bedeuten hat?“, wollte sie gerade fragen, als plötzlich ein Wind zu tosen und zu sausen anfing, dass Nurofelia gar nicht wusste, wie ihr geschah. Der Sturm wurde immer stärker, zog und zerrte an ihrem Elfengewand und Nurofelia konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Schutz suchend klammerte sie sich an Minicorn, doch der Wirbel zog die kleine Elfe mit sich und ließ sämtliches Grün des Elfenwaldes in einem einzigen Strudel verschwimmen. Nurofelia fiel und fiel, während der Wind um sie herumsauste und in ihren Ohren brauste.
Plötzlich wurde ihr Fall abrupt gebremst – wobei sie vor Schreck Minicorn verlor. Dann schwebte sie hinab und landete sanft auf einer Wiese, als ob eine riesige Hand sie schützend aufgefangen hätte, um sie behutsam abzusetzen.
Als sich Nurofelia suchend nach ihrem Freund umsah, entdeckte sie Minicorn am flachen Ufer des Teiches, neben dem sie gelandet war. Schnell streckte sie die Arme aus, um das nasse Seepferdcheneinhorn ans Ufer zu ziehen. Die kleine Elfe war völlig außer Atem und mächtig verwirrt.
„Wo sind wir hier nur gelandet, Minicorn?“, fragte sie. „Wie kommen wir wieder nach Hause? Und was meinte Mutter wohl damit, ich dürfe erst zurückkommen, wenn ich Demut und Respekt gelernt hätte? Was bedeuten diese Worte nur?“ Ratlos machte sich Nurofelia mit dem ziemlich nassen Minicorn im Arm auf einen unbestimmten Weg.
Stunde um Stunde wanderte die kleine Elfe durch das Land. Sie sah nichts als grüne Wiesen mit bunten Blumen, die von glitzernden und schillernden Schmetterlingen umschwirrt wurden. Es waren sehr viele Schmetterlinge, was Nurofelia ganz entzückend fand.
„Was soll denn an diesem Land so sträflich sein, dass mich Mutter hierher verbannte?“, fragte sie sich. Bei dem Gedanken an ihre Heimat wurde ihr ganz weh ums Herz. Sachte drückte sie den inzwischen trockenen Minicorn an sich, als ob sie Trost suchen würde. Ein bisschen fand sie ihn auch, denn das Heimweh schien ein klein wenig nachzulassen.
Langsam zog die Dämmerung über das Land und die Schmetterlinge wurden weniger. „Merkst du es auch, Minicorn?“, fragte die kleine Elfe mit unsicherer Stimme. „Alle Schmetterlinge ziehen sich zurück in ihre Schlafstätten. Gleich sind wir ganz allein im Dunkeln. Wir sollten uns auch einen Schlafplatz suchen.“ Nurofelia war es, als ob Minicorn in ihren Armen leicht nickte.
Als ein schöner, großer Baum im Dämmerlicht auftauchte, fand Nurofelia, dass die Höhle in seinem Stamm durchaus eine geeignete Schlafstätte sei, zumal der Boden mit Herbstlaub schön gepolstert war. Müde ließ sie sich in die Blätter sinken und lehnte sich an das Bauminnere. Minicorn fest an ihre Brust gedrückt, schlief die kleine Elfe sofort ein. So merkte sie nicht, dass viele kleine Wesen aus dunklen Löchern krochen, um sich diese seltsame Gestalt etwas genauer anzusehen.
Am nächsten Morgen kitzelte Nurofelia das Sonnenlicht in der Nase, das durch die Baumhöhlenöffnung hereinfiel. Die kleine Elfe hatte das Gefühl, dass der Schlaf sie noch fest im Griff hatte, denn als sie versuchte, sich zu bewegen, konnte sie es nicht. Da öffnete Nurofelia die Augen und erschrak. Sie war über und über in weißes Garn eingesponnen. Alles war fest verzurrt und bis unter die Nase gut verpackt, selbst Minicorn in ihren Armen war nicht mehr zu sehen. Nurofelia konnte nur noch mit den Augen blinzeln und wurde mächtig wütend.
„Was soll das denn?“, wetterte sie in Gedanken. „Wer war das? Macht mich los, sofort!“, dachte sie, während sie so einiges anstellte, um sich zu befreien. Zuerst wackelte sie mit den Zehen, dann mit den Fingern, dann mit den Ohren, doch alles blieb vergeblich, sie war zu fest eingesponnen. Schließlich bekam es die kleine Elfe mit der Angst zu tun. „Hilfe!“, dachte sie. Dann noch einmal lauter: „Hilfe!“ Doch das Denken hörte keiner. Und so erschien auch niemand zu ihrer Rettung. „Ojemine, ojemine, ojemine“, jammerte die kleine Elfe in Gedanken. „Was soll ich nur tun?“
Plötzlich fing das Laub am Höhlenboden an, sich zu bewegen. Selbst unter Nurofelias Körper zuckte und zitterte alles. Es raschelte und raschelte und die kleine Elfe sah mit großen Augen zu, wie aus dem Laub viele kleine weiße Tierchen mit dicken, langen, haarigen Körpern hervorkrochen. Ihre Gesichter waren so unscheinbar, dass man nicht wusste, wo hinten und wo vorne sein sollte. Nurofelia wollte Minicorn zurufen, ob er denn auch all diese Tierchen sehe, aber dann fiel ihr ein, dass sie weder rufen konnte, noch dass Minicorn etwas sehen konnte, da er ja komplett in ihren Armen eingesponnen war.
Währenddessen wurden diese weißen Tierchen immer mehr. Reihe um Reihe stellten sie sich vor Nurofelia auf, bis sie vollzählig waren. Dann kroch das größte unter ihnen nach vorne. „Nun, kleine Elfe, was tust du hier?“
Nurofelia konnte diese Worte nicht wirklich hören, stattdessen vernahm sie dieses feine Stimmchen nur in ihren Gedanken. „Wer seid ihr?“, fragte sie in Gedanken zurück.
Da donnerte die plötzlich gar nicht mehr feine Stimme in ihrem Kopf: „ Erst sollst du mir antworten, bevor du Fragen stellst. Das verlangt der Respekt!“
Respekt, schon wieder dieses seltsame Wort.
„Aber ich muss doch wissen ...“
„NICHTS musst du! Gehorchen sollst du! Sonst krabbeln wir alle unter die Seide, in die wir dich eingewoben haben, und kitzeln dich mit unseren vielen Füßchen so lange, bis du zu gehorchen lernst. Und nun beantworte meine Frage.“
Trotzig dachte Nurofelia: „Dieser Stinker da kann mir gar nichts befehlen!“ Gleich darauf erschrak sie, denn sie hatte vergessen, dass dieses Tierchen ihre Gedanken hören konnte.
Prompt hörte sie dessen Stimme in ihrem Kopf: „Jetzt weiß ich, warum du hier bist, doch du bist in meinem Land und hier befehle ich!“
Dann setzte sich die ganze Kolonie in Bewegung und die kleine Elfe verfolgte mit den Augen, wie ein Geschöpf nach dem anderen durch die gesponnene Seide schlüpfte und darunter verschwand. Schon konnte Nurofelia ein sachtes Kitzeln spüren, das sich schnell über ihren ganzen Körper ausbreitete. Zuerst fand sie es lustig, später nicht mehr und schließlich konnte sie es kaum noch ertragen. Sie musste unbedingt lachen, doch ihr Mund blieb mit gesponnener Seide verschlossen.
Nurofelia wand sich hin und her. „Halt, es reicht, hört auf damit, hört sofort auf!“, dachte sie. Doch die Tierchen kitzelten fröhlich weiter. „Was soll das?“, dachte Nurofelia. „Ihr sollt aufhören!“
„Verständlich“, brummte es in ihrem Kopf. „Aber du hast befohlen, statt zu bitten. Der Respekt verlangt Höflichkeit und die Demut fordert Einsicht.“
Nurofelia senkte die Augen. „Nun gut“, dachte sie, „wenn es sein muss.“ Dann streckte sie sich, so gut es ging. „Ich bitte euch darum, mit dem Kitzeln aufzuhören.“ Kaum hatte sie den Satz zu Ende gedacht, als auch schon das Kitzeln erstarb und alle kleinen Tierchen flugs unter der Seide hervorkrochen. Sie stellten sich wieder in Reih und Glied vor ihr auf.
Der Anführer nickte. „Da du mir zugehört und mir damit gezeigt hast, dass du mich ernst und wichtig nimmst, will ich dir gerne antworten, denn nun nehme auch ich dich ernst und wichtig. Du bist hier im Raupenschmetterlingsland, in dem alle, die uns besuchen, so wie wir selbst eine wunderbare Wandlung erleben. Erst wenn wir Raupen die Beschwerlichkeiten des Lebens erfahren haben, können wir zu wunderschönen Schmetterlingen werden. So lernen wir nach unserer Verwandlung, das Leben wertzuschätzen und die Freiheit, die dieses mit sich bringt. Weißt du nun selbst, warum du hier bist?“
Nurofelia musste sich sehr zusammenreißen, um, statt eine Antwort zu geben, nicht wieder eine Gegenfrage zu stellen, etwa wie sie wieder nach Hause käme. Stattdessen dachte sie: „Ich nehme an, um Respekt und Demut zu lernen.“
Der Anführer nickte.
„Nun, ich denke, ich weiß nun um deren Bedeutung. Kannst du mir dabei helfen, wieder nach Hause zu kommen, liebe Raupe?“ Nurofelia freute sich, denn sie fand, sie hatte sehr höflich gefragt. Und sie wollte wirklich hier weg.
Die Raupe antwortete in ihrem Kopf: „Dazu müssten wir dich befreien und ich bin mir nicht sicher, ob du schon bereit dafür bist.“
Fast hätte Nurofelia gedacht: „Macht mich endlich los, ihr ekligen Würmer! Holt mich hier raus, und zwar flott!“ Aber nur fast ... Stattdessen meinte sie: „Könnt ihr mich nicht aus der Seide befreien, liebe Raupen?“
Lange sah der Anführer Nurofelia in die Augen, als ob er ahnte, was diese beinahe gedacht hätte. Dann nickte er. „Und schon hast du begriffen, dass du nicht immer nur nach deinem Gutdünken handeln kannst, sonst würdest du hier auf ewig schmoren.“
Dieser Gedanke erschreckte Nurofelia zutiefst, denn sie wollte auf gar keinen Fall für immer und ewig hier sitzen und eingesponnen bleiben, Minicorn an ihre Brust pressend und mit keiner anderen Unterhaltung als der mit der Raupe in ihrem Kopf.
„Aber ich sehe, dass du verstanden hast“, brummelte die Stimme und schon machte sich das kleine Raupenheer auf, um sich gefräßig über die Seide herzumachen, in die es Nurofelia eingesponnen hatte.
Mit jeder Lage, die sie entfernten, wurde es der kleinen Elfe leichter ums Herz. Als sie endlich frei war und Minicorn kräftig ausgeschüttelt hatte, damit er nicht mehr so platt aussah, wäre sie am liebsten hinaus- und davongestürmt. Doch sie hatte dazugelernt. Demütig sagte sie, wobei sie froh war, wieder laut sprechen zu können: „Ich danke dir, liebe Raupe. Ich danke euch allen, dass ihr mich befreit habt und ich nicht auf immer hier schmoren muss.“
Der Anführer verbeugte sich und brummelte in ihrem Kopf: „Danke dir selbst, denn es lag zu jeder Zeit allein in deinen Händen, kleine Elfe. So geh hinaus, du wirst den Weg nach Hause finden.“ Und ehe sich Nurofelia versah, krochen all die kleinen Tierchen zurück unter das Blätterlaub.
Schnell kletterte Nurofelia aus der Baumhöhle. Mit Minicorn im Arm wollte sie den Weg zurückwandern, den sie gekommen war, doch plötzlich fing die Luft an, zu schwirren und zu sirren, als Tausende und Abertausende schillernde und glitzernde Schmetterlinge auf sie zuflogen. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, wurde die kleine Elfe sanft in die Lüfte gehoben. Sie drückte Minicorn fest an sich, während sie immer höher schwebte, bis hinauf in die Wolken, und die Schmetterlinge immer noch mehr wurden, sodass sich das Sonnenlicht verdunkelte und ihre Flügel die Luft zu einem Wirbel peitschten. Immer wilder ging es zu, bis die kleine Elfe endlich vor dem geschlossenen Moosgatter landete.
Die Elfenmutter erschien und öffnete das Gatter. Nurofelia konnte nicht anders, als sich in die vertraute Umarmung ihrer Mutter zu kuscheln.
„Nun, mein liebes Kind, wie ich sehe, bist du als Raupe gegangen und kommst als Schmetterling zurück. Ist es so?“
Nurofelia lächelte. „Ja, liebe Mutter, so ist es.“ Minicorn, eingeklemmt zwischen Mutter und Tochter, schien zu nicken.
Und wenn die Zeiten sich nicht geändert haben, so werden noch viele kleine Elfen – manchmal auch ein paar kleine Elfenjungen – das Raupenschmetterlingsland besuchen.
Kerstin Gramelsberger, 1971 in München geboren, lebt und arbeitet in einem Münchener Vorort. Die gelernte Industriekauffrau ist verheiratet und Mutter zweier Töchter. Sie schreibt mit Begeisterung Gedichte und Kurzgeschichten und ist in zahlreichen Anthologien vertreten. Mehr dazu unter www.kerstin-gramelsberger.de