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Annabelle und Richard

In einem Park saßen jeden Tag zwei ältere Eheleute auf einer Bank unter einem Rosenbogen. Ihr Leben war geprägt von vielen Entbehrungen, die in Kauf genommen werden mussten. Um dem öden Alltag zu entfliehen, träumten sie sich in eine Fantasiewelt, deren Hauptfarbe Lila war. Nicht nur jede Wolke hatte diese Farbe, nein, fast die gesamte Umgebung. In ihrer Fantasie saßen die beiden unter einem lila Rosenbogen, der sich über eine lila Wiese wölbte, als wäre er ein Tor. In unmittelbarer Nähe ergoss sich eine Fontäne, deren Wasser nach Heidelbeeren schmeckte. Annabelle und Richard hatten sich schon daran gelabt, um ihren Durst zu stillen. Sie genossen die Ruhe, den Frieden und den Gesang der Vögel.

Plötzlich vernahm Annabelle ein Kichern. „Hast du das gehört?“

„Was denn, Annabelle?“

„Das Kichern.“

„Ich habe nichts gehört, tut mir leid.“

„Hast du dein Hörgerät an?“, fragte Annabelle ihn verärgert.

„Aber, Annabelle, hier brauchen wir das doch nicht.“

„Seltsam, dann habe ich mich getäuscht.“

„Das kann passieren“, meinte Richard und legte seinen Arm um seine Frau.

Sogleich vernahm Annabelle erneut das Kichern, diesmal etwas lauter als zuvor. „Richard, hast du es jetzt gehört?“

„Nein, tut mir leid.“

Doch Annabelle ließ das nicht gelten und machte sich auf die Suche nach dem Ursprung des Geräuschs. Dabei geschah etwas Unerwartetes. Sie fühlte sich fit, als sei sie wieder jung, und lief leicht wie eine Feder über die Wiese. Sie wähnte sich in einem Traum, aber dann sah sie, wie Richard sich die Augen rieb. Als könne er nicht glauben, was er sah. Es war wie ein Wunder.

„Annabelle, du bist wunderschön“, sagte Richard verzückt und schaute sie mit wässrigen Augen an.

„Danke für dein Kompliment. Aber ich bin doch schon so alt.“

„Nein, mein Schatz. Irgendetwas scheint die Zeit zurückgedreht zu haben.“

Einen Spiegel gab es leider nicht in der lila Welt. Und so glaubte Annabelle nach wie vor nicht daran, dass sie von einem Moment auf den anderen jung und hübsch geworden war.

„Ich weiß nicht, wie ich es dir beweisen kann“, meinte Richard.

Mit einem Mal beobachtete sie, dass ihr Mann ohne Brille und Hörgerät herumzulaufen begann. Außerdem waren Annabelles Gelenkschmerzen verschwunden, sie legte ihren Gehstock beiseite. Es war ein wunderbarer Traum, den sie mit ihrem geliebten Mann erleben durfte. Sie genoss eine Freiheit, die sie viele Jahre vermisst hatte.

„Annabelle“, begann Richard.

„Ja?“

„Wie fühlst du dich?“

„So gut wie noch nie.“

„Das freut mich. Mir geht es ebenso.“

Die beiden waren sich also einig. Nun, es war nicht die reale Welt, das war Annabelle klar. Dennoch war es eine, die ihr und Richard gefiel. Die beiden hatten zwei Kinder großgezogen. Leider gingen diese schon seit Jahren ihre eigenen Wege. Das stimmte sie sehr traurig, dennoch versuchten sie, es zu akzeptieren. In der lila Welt vergaßen Annabelle und Richard ihren Kummer, ihre Sorgen, Schmerzen und Probleme.

„Schau mal, Richard, da drüben. Ein Reh springt über die Wiese. Und dort fliegt ein großer Schmetterling, alles ist so wunderbar lila. Ich liebe diese Farbe.“ Annabelle wurde euphorisch.

„Na ja“, meinte Richard etwas mürrisch. „Bei Blumen habe ich nichts dagegen. Aber alles und überall ... ich weiß nicht.“

„Ich finde Lila sehr schön.“ Annabelle beharrte auf ihrem Standpunkt.

Sie diskutierten angeregt, bis sich jene mysteriöse Stimme erneut durch Gekicher bemerkbar machte. Annabell schrak zusammen, auch Richard schien nicht wohl zu sein.

„Wieso habt ihr Angst? Ich tu euch nichts“, wisperte es.

„Wer sind Sie?“, fragte Annabelle mutig.

„Einen Moment. Ich komme gleich“, erwiderte die Stimme.

Sie warteten ein paar Minuten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch dann staunten Annabelle und Richard beim Anblick eines Wesens mit schrumpeliger Haut und wenig Haaren auf dem Kopf, dem die geheimnisvolle Stimme gehörte.

„Woher kommst du?“, wollte Richard wissen.

„Aus der Welt eurer Träume.“

„Aber wir träumen doch nicht“, meinte Annabelle verwirrt.

„Doch. Denn eine Welt, in der alles nur eine einzige Farbe besitzt, gibt es nun mal ausschließlich in Träumen.“

„Und was jetzt?“, fragte Annabelle enttäuscht.

„Träume sind wie Seifenblasen, die zerplatzen. Aber lassen wir das. Genießt es, hier zu sein. Genießt es, so lange ihr könnt“, riet ihnen das Wesen und verschwand.

„Wir versuchen es“, rief Annabelle ihm nach.

„So ist es recht“, ermutigte sie das nun wieder unsichtbare Geschöpf.

„Hast du das gesehen, Richard? Es ist verschwunden.“

„Ja, Annabelle, und das Wesen hat recht. Wir sollten unsere Träume genießen.“

Verdutzt sah Annabelle ihren Mann an, als ihnen plötzlich ein lila Spiegel entgegenrollte.

Sie staunten nicht schlecht, als dieser sie ansprach. „Guten Tag. Ich bin der Spiegel der Wahrheit. In mir sieht jeder seine eigene Seele. Unverfälscht und pur.“

„Einen ähnlichen haben wir zu Hause“, sagte Annabelle verwundert.

„Sicher. Doch ich bin etwas Besonderes. Ihr werdet es merken.“

„Und was?“, fragte Annabelle.

„Dass ich euch die Wahrheit durch euer Spiegelbild zeige.“

Völlig unerwartet verschwand der Spiegel von der Bildfläche, nicht jedoch ohne einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Dafür tauchte etwas Neues auf. Annabelle und Richard konnten nicht glauben, was da auf sie zukam. Eine Mischung aus einem Vogel und einer Katze in Annabelles Lieblingsfarbe.

„Guten Tag, die Dame, der Herr. Ich heiße Sie im Land der Farbe Lila aufs Herzlichste willkommen.“

„Der ist aber freundlich, Richard. Das sind wir nicht gewohnt.“

„Stimmt, Annabelle“, pflichtete der Angesprochene traurig bei.

Neugierig fragte das Tier: „Aber Sie sind doch sehr nette und liebe Menschen, die es nicht verdient haben, schlecht behandelt zu werden.“

„Erklären Sie das mal denen, die uns nahestehen, vor allem unseren Kindern“, meinte Richard.

„Das würde ich gerne tun. Das Problem ist allerdings, dass dies Ihr Traum ist, deshalb kann ich Ihnen dabei leider nicht behilflich sein. Das müssen Sie beide schon selbst erledigen.“

„Trotzdem danke für den Rat“, meinte Annabelle. „Wir müssen mutiger werden und dürfen nicht alles hinunterschlucken. Denn sonst staut es sich an.“

„Nehmen Sie sich das zu Herzen. Es wird Ihnen, wenn Sie aus diesem Traum erwachen, besser gehen als je zuvor. Sicherlich, die Zipperlein des Alters werden bleiben. Dennoch werden Sie wesentlich glücklicher und zufriedener sein“, prophezeite das Tier dem Ehepaar und verschwand.

Da sagte Annabelle: „Richard, das Tier hat uns ein Geschenk dagelassen. Eine Kugel aus purem Gold. Meinst du, wir dürfen sie behalten?“

„Gewiss dürft ihr das“, sagte plötzlich jemand. „Bedenkt aber, es ist ein Traum. Haltet die Kugel fest, dann bleibt sie euch erhalten, wenn ihr erwacht, und ihr werdet glücklicher durchs Leben gehen als zuvor.“

„Sollen wir das glauben?“

„Gewiss, Annabelle. Hier sagen alle die Wahrheit, hast du das noch nicht gemerkt?“

„Doch. Es ist ungewöhnlich und etwas unheimlich. Dennoch finde ich es sehr schön, hier zu sein. Hier sind wir jung, können all das tun, was sonst nicht möglich ist.“

„Du hast recht, Annabelle. Aber irgendwie vermisse ich unser Zuhause. Mal ganz abgesehen vom Park und der Umgebung.“

„Ja, ich auch. Trotzdem möchte ich diese Unbeschwertheit noch etwas genießen.“

„Es sei dir gestattet, Annabelle. Aber nicht jeden Tag.“

„Oh, Richard. Du weißt, wenn wir träumen, dass wir dies stets gemeinsam tun.“

So ging die Diskussion weiter. Bis, ja, bis jemand ganz sanft an ihren Schultern rüttelte. Es war ein Enkel. Verblüfft schloss Annabelle das Kind in ihre Arme und wollte es am liebsten gar nicht mehr loslassen.

Kurze Zeit später kam die Mutter des Kindes wütend herbeigelaufen und wollte schimpfen. Doch Annabelle hielt sie davon ab.

„Aber, Oma“, sagte das Enkelkind, „was hast du mit Mama angestellt? Die ist so ruhig!“

„Oh, Kleines, das verrate ich dir später.“

Überrascht sah das Kind seine Großmutter an. Annabelle strich ihm übers Haar. Liebe lag in der Luft. Jeder spürte dies.

Langsam und glücklich liefen die vier nach Hause.

Annabelle und Richard hatten aus ihrem Traum gelernt, dass sie nicht alleine waren und niemals sein würden. Vor allem hatte Annabelle die Erkenntnis gewonnen, an sich zu glauben, den Mut niemals zu verlieren und das Leben so zu nehmen, wie es war. Ohne zu jammern oder zu meckern.

Seither träumen sich Richard und Annabelle immer seltener in ihr lila Land. Und wenn das Ehepaar heute noch lebt, dann hoffentlich glücklich und zufrieden.

Alexandra Dietz ist 1977 geboren und lebt seit kurzer Zeit in Pforzheim. Ihre ersten Gehversuche als Autorin machte sie mit Tierfabeln und Kindergeschichten. Seit 2014 ist sie Mitglied des Autorenvereins Goldstadt Autoren e.V.. Seit 2013 veröffentlicht sie in mehreren Anthologien des Papierfresserchen MTM-Verlags ihre Geschichten.

Wünsch dich ins Märchen-Wunderland

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