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Grusella und das Weinen vom Dach

Hallo, darf ich mich kurz vorstellen?

Mein Name ist Grusella. Vor ein paar Jahrhunderten wurde ich als Mariella geboren, doch durch ein großes Unglück bin ich verzaubert, sehr einsam und zu einer Gruselgestalt geworden. Das sagen jedenfalls all die Menschen, die je mein Haus betreten haben. Ich finde mich selbst nämlich gar nicht so gruselig. Trotzdem habe ich auf den Tag genau vor 222 Jahren beschlossen, alle Spiegel des Hauses zu zerstören. Ob ich mein Aussehen in dieser Zeit verändert habe, weiß ich also selbst nicht.

Ihr wollt wissen, wie ich aussehe?

Ich bin etwa einen Meter groß, habe lila-silbernes Wuschelhaar, meistens giftgrüne Augen (und davon zwei auf der Vorderseite des Kopfes und zwei auf der Rückseite des Kopfes), mehrere Warzen, eine dicke Knubbelnase und einen viel zu dicken Bauch. Dazu vier dünne Spaghettibeine und zwei Arme, die aussehen, als wären sie je ein viel zu kurz geratener Elefantenrüssel.

Ihr habt noch nicht genug? Je nach Stimmung kann ich die Augenfarbe verändern. Und zwar für jedes Auge einzeln.

Ich sehe so gruselig aus, dass ich ganz alleine im tiefen, dunklen Wald in einem versteckten, kleinen Haus wohne. Hierher verirrt sich kein Mensch und sollte sich einmal einer verirren, dann spuke ich, dass ihm schon nach einer Minute ein eiskalter Schauer über den Rücken rinnt. Es kommt manchmal vor, dass die Haustür ganz langsam aufgemacht wird und eine Kinderstimme fragt: „Ist ja jemand?“

Diesen Moment warte ich meist noch ab, bevor ich einen Gruselwitz erzähle, zum Beispiel diesen: „Was ruft ein Skelett, wenn ein Leichenwagen vorbeifährt? Hallo Taxi!“ Darauf folgt mein schauerlichstes Gelächter und als Abschied gibt es noch einen Kübel Wasser über den Kopf geschüttet. Bislang ist kein Mensch ein zweites Mal gekommen.

Den ganzen Tag über mache ich, was ich gerne mache: Gruselwitze lesen, Gruselessen kochen und Übungen zum Erschrecken menschlicher Kreaturen. Darin bin ich übrigens wirklich richtig gut. Mein Lieblingsessen sind gekochte Grillenbeine im Wildschweinblut mit schleimiger Hühneraugensoße. Aber eigentlich wollte ich euch noch etwas ganz anderes erzählen.

Gestern ereignete sich etwas, das selbst mich nicht kaltgelassen hat. Ich war gerade dabei, mein Lieblingsessen zuzubereiten, als ich auf dem total vermoosten Dach meiner Bruchbude ein Weinen hörte. Ich war total irritiert. Vom Küchenfenster aus sah ich nicht viel – außer: Da saß ein kleiner Menschenjunge, der sehr sonderbar aussah – mit nur einer Gesichtshälfte – und es rannen ihm so viele Tränen über sein Gesicht, dass ich Angst hatte, mein Haus könnte bald unter Wasser stehen. Das kleine Menschlein machte keine Anstalten, mein Dach zu verlassen. Nein, im Gegenteil: Das Weinen und Schluchzen wurde immer lauter und heftiger. Ich musste etwas tun, was ich schon mehrere Jahrhunderte nicht mehr gemacht hatte: rausgehen an die frische Luft und auf mein Dach steigen. Der Junge sah sehr gruselig aus, vielleicht war er auch verzaubert worden und würde … nein, weiter traute ich mich nicht einmal, zu denken.

Ich stieg also aufs Dach und setzte mich neben das Kind. Es tat mir sehr leid. Das halbe Gesicht war unter einer Maske versteckt und er trug Einweghandschuhe an beiden Händen.

„Ha...llo!“, flüsterte ich im Gruselton. Doch der Junge hörte mich nicht. Ich wurde lauter und lauter. Doch der Junge reagierte nicht.

Wie aus dem Nichts, rief er plötzlich ein heiseres: „Bu...uh“, welches mich so erschreckte, dass ich vom Dach fiel.

Zum Glück passierte mir nicht viel: Ich verlor mein drittes Auge, welches ich aber bald wiederfand und in die dafür vorgesehene Augenhöhle steckte, die Warzen im Gesicht rückte ich wieder zurecht und ein gebrochenes Spaghettibein ersetzte ich schnell durch ein neues. Meine dicke Knubbelnase war nach dem Unfall mindestens fünfmal so groß, jedenfalls fühlte sie sich so an, und mein Kopf war noch unförmiger geworden. In Sekundenschnelle wechselte mein Körper die Farben.

Und der Junge? Ihr werdet es nicht glauben. Durch meinen Aufprall verstummte sein Weinen und er sprang sofort vom Dach, um mir zu helfen. Das fand ich wirklich sehr rührend. Aber das Schlimmste war: Er fürchtete sich keine Sekunde vor mir! Es störte ihn überhaupt nicht, wie ich aussah. Nein, im Gegenteil: Er war froh, dass er mir helfen durfte!

Später wischten wir seine Tränen auf und gingen ins Haus. Er erzählte mir, dass er eigentlich eine zweite Gesichtshälfte hätte, aber dass gerade eine Viruserkrankung auf der Welt herrschen würde: In der Schule, zu Hause, beim Spielen – überall mussten sich alle Kinder jeden Tag eine Maske aufsetzen. Covid-19 oder auch Corona wurde dieser Virusteufel genannt.

Und warum der Junge weinte, brachte mich völlig aus der Fassung: Aufgrund der hohen Inzidenzzahl war es heute zu einem weiteren Shutdown gekommen und seine Schule war wieder geschlossen worden. Das war das zweite Mal in diesem Jahr. Er würde so gerne in die Schule gehen und seine Freunde treffen und lernen. Und nun gab es wieder Homeschooling und er musste alleine zu Hause sein, denn seine Eltern arbeiten als Ärzte in einem Krankenhaus, und Aufgaben bearbeiten, die seine Lehrer ihm über das Internet schicken würden.

Das Lernen war kein Problem für ihn, aber das Alleinsein machte ihn so traurig.

„Da kann ich dir gerne helfen“, sagte ich freudig, „du kommst zu mir und ich lerne mit dir, Gruselspeisen zu kochen, wir lesen zusammen Gruselwitze und …“ Ich hatte viele (gruselige) Ideen und zauberte ihm ein Lächeln auf sein Gesicht.

Und wisst ihr was?

Der Junge kommt seither jeden Tag zu mir und er kennt noch viel bessere Gruselwitze als ich!

Johanna Siller (geb. 2011): Schon mit fünf Jahren konnte sie schreiben und lesen. Bald darauf schrieb sie ihre ersten Texte. In der Freizeit liebt Johanna lesen, Geschichten schreiben, Geige und Flöte spielen, singen, reiten, Gokart fahren und sie kann sich für jede Sportart begeistern. Johanna träumt davon, eines Tages Autorin und Musicalsängerin zu werden.

Wo die wilden Geister wohnen Band 3

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