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„La vera storia di…“: Geschichte und Geschichten

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International betrachtet stellt Fanfiction derart bis heute ein Politikum dar; das Genre wirft auch anderweitige juristische wie ethische Problematiken auf. Ganz besonders gilt dies für die lange Zeit in der Fan-Community selbst tabuisierte sogenannte RPF (Real Person Fiction oder Real People Fiction) und speziell den Real Person Slash (RPS) bzw. Real-Life Slash (RLS). Wenig überraschend beschäftigt RPF sich oft mit Sportstars (Sportfic), Schauspieler*innen (Actorfic), Boybands (Bandfic) etc.; zum Bestseller schafft es Anna Todds Zyklus After rund um Harry Styles, Sänger der Boygroup One Direction: Die ursprüngliche RPF erreicht auf der Plattform Wattpad bis 2014 über eine Milliarde Aufrufe, wird daraufhin als Romanserie in mehr als 40 Ländern herausgebracht und 2019 verfilmt.

RPF wird aber auch zu hochkanonischen ‚Celebrities‘ aus der Kultur- und Literaturgeschichte verfasst, beginnend wiederum mit Homer, den Fanfic-Autorin Scytale gemeinsam mit Euripides und Catull einen klassischen „Gender Change“ vollziehen lässt (The Other Muses, AO3, 16.02.2020). La vera storia di Publio Virgilio Marone verspricht Afaneia auf dem italienischsprachigen Portal EFP (27.04.2011); in der Kategorie ‚18th Century CE RPF‘ erwarten die interessierte Leserin zahlreiche Stories zu Goethe & Schiller, bevorzugt als literarisches Liebespaar: „Was wäre gewesen, wenn Johann doch eines Tages einfach mit Friedrich nach Italien durchgebrannt wäre?“ (SwanFloatieKnight: Kennst du das Land…, AO3, 13.04.2019). ‚Schoethe‘-Fic wird nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Englisch, Russisch oder Mandarin publiziert.

Gerade unter RPF figurieren auch mancherlei Texte, die gegen mehr als nur den guten Geschmack verstoßen, etwa Mein-Kampf-Slash; dies nicht auf den deutschsprachigen Sites (die auf dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag basierende virtuelle Hausordnung des Portals FanFiktion.de enthält eine eigene Klausel zum Thema „Rassismus, Nationalsozialismus“); anderswo geht es diesbezüglich weniger streng zu. Unweigerlich hat jene digitale Demokratisierung, an der die Fanfiction partizipiert und von der sie profitiert, ihre Schattenseiten. In dieser literarischen Parallelwelt finden sich auch „die ungeheuerlichsten Texte, die man sich vorstellen kann“; so Setz (2015), der sich auf das Terrain der „Anne-Frank-Fanfiction“ vorwagt: „Wer Narrenfreiheit sehen will, dem fliegt sie hier um die Ohren.“

Mit neuer Virulenz stellt sich in diesem populärkulturellen Kontext die Frage nach der gesellschaftlichen Konstruktion von Geschichte und Geschichten. Kontrovers diskutiert wurde eine britische Enquete aus dem Jahr 2008, der zufolge fast ein Viertel (23 %) der interviewten 3 000 Teenager Winston Churchill – Star eines eigenen RPF-Corpus – für eine fiktive Figur hielt, bei Richard Löwenherz mit 47 % beinahe die Hälfte; von einer Mehrheit als historisch real betrachtet wurden dagegen König Arthur (65 %) und Robin Hood (51 %) (Simpson 2008). Während der Historiker Correlli Barnett „a complete lack of common sense and respect for our greatest heroes of the past“ anprangert (zit. Camber 2008), frohlockt die Sherlock-Holmes-Community, deren Held immerhin 58 % der Respondent*innen als authentische geschichtliche Figur galt (Simpson 2008).

Homer meets Harry Potter: Fanfiction zwischen Klassik und Populärkultur

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