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Von fluktuierenden Figuren und alternativen Welten: Fiktion, Transfiktion, Fanfiction

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Das Ganze ist nicht nur eine Frage historischer Unbildung. Ivan Gončarov, Schöpfer des ikonischen Oblomov, meditiert über jene von Don Quijote, Hamlet, Lady Macbeth, Don Juan & Co. bevölkerte „Welt schöpferischer Typen“, die „gleichsam ihr eigenes besonderes Leben“ besitzt (1955: 104). Wie ist der Status derartiger durch die Literatur-, Theater-, Musik- und Filmgeschichte irrlichternder Gestalten zu fassen? Saint-Gelais (2011: 373–383) spricht von der „émancipation transfictionnelle“ literarischer Held*innen gegenüber Autor*in wie Ausgangswerk, Eco (2011: 94) von „‚fluktuierende[n]‘ Figuren“:

Wie viele Menschen, die über das Schicksal Anna Kareninas im Bilde sind, haben Tolstois Roman gelesen? Und wie viele von ihnen kennen Anna nur aus Filmen […] oder TV-Serien? Ich weiß keine genaue Antwort, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass viele fiktive Personen außerhalb der Partitur „leben“, in der sie zur Welt gekommen sind, und sich in einer Zone des Universums bewegen, die sich schwer eingrenzen lässt.

Auch Fanfiction beruht sehr häufig nicht exklusiv auf einem konkreten Werk (wie z. B. Tolstojs Roman), sondern auf einem ganzen intertextuell-intermedialen Konglomerat, das sich rund um den jeweiligen Quell- oder „urtext“ (Sandvoss 2007: 23) entfaltet. Selbst eine „brava classicista“, deklarierter Homer-Fan, gesteht zugleich ihre ‚Verliebtheit‘ in Wolfgang Petersens Hollywood-Troy (2004) samt ‚Achilles‘ Brad Pitt (Elefseya, EFP, 07.04.2009), während ein Kollege anlässlich der Publikation seiner Fic, „esorcismo mentale“, mit Pietro Loprienos Il ritorno di Ulisse (2010) abrechnet und den klassischen Kanon gegen „quell’oscenità televisiva“ verteidigt (Lusio: Kαι σ 'αγαπώ… [Und ich liebe dich…], EFP, 30.12.2014, Kommentar: 11.03.2015).

In der Fanfiction ergänzt den ‚Canon‘ – als „the collection of texts considered to be the authoritative source for fan creations“ (Busse 2017: 101) seinerseits ein Konstrukt – der damit dynamisch interagierende ‚Fanon‘, der nachträglich fan-kanonisierte Elemente der Handlung, Figurencharakteristik etc. umfasst: So entsteht das heute etablierte Bild Sherlock Holmes’ – mit Deerstalker-Mütze, Inverness-Mantel, Pfeife und einem souveränen ‚Elementary!‘ auf den Lippen – erst im Zuge der Bearbeitungsgeschichte von Conan Doyles Werk.

Unter AU (Alternate Universe) finden sich Fanfics, die von der kanonischen Diegese des Ausgangstextes abweichen, z. B. die Figuren beibehalten, diese aber in einen anderen historischen oder kulturellen Kontext versetzen. So etwa, wenn die Autorin einer „Aeneid High School AU“ Vergils als „a former team captain of the Trojan High football team“ reinkarnierten Helden auf die Suche nach einer neuen Heimstatt schickt, nachdem seine Schule „by the deceitful Greek football team“ in Brand gesetzt wurde (puppo530: AENEID HIGH, AO3, 13.03.2016); oder auch, wenn „Elissa Dido, Captain of the Carthage“ im Rahmen eines „space!AU“ ins Weltall reist und ebendort voll intermedialer Ironie den „stories of daring adventure and perilous travel“ des geflüchteten „Captain Aeneas“ lauscht: „There might […] be quite a profitable career for him on some planet where they liked that sort of thing. A weekly holovid show, perhaps, or a series of movies“ (misura: Trouble Any Which Way, AO3, 05.05.2013).

Bei aller gelegentlichen Naivität handelt es sich hier um ein komplexes literarisches System mit seiner eigenen Poetik, Publikations- und Rezeptionsetikette, inklusive standardisierter Triggerwarnungen (Major Character Death, Graphic Depictions of Violence, Underage, Rape/Non-Con). Stories werden nach Fandoms kategorisiert, neben den drei Hauptrubriken Gen (General Audience, d. h. ohne speziellen amourös-erotischen Fokus), Het und Slash konkret nach Beziehungskonstellationen (Pairings), sexueller Explizitheit samt korrespondierenden Altersgruppen; thematisch nach dem Grad der Übereinstimmung mit dem Ausgangswerk (Canon, AU) und Subgenres wie Angst, Drama, Fluff (d. h. leichte Wohlfühl-Happyfic), Humor, Hurt/Comfort, Romance; formal nach ihrer Machart (Crossover, Songfic etc.) und Länge: Beliebt sind Kurzformen wie Drabbles (Texte von exakt 100 Wörtern, praktiziert auch als Double-, Triple- und Quad-Drabble), Vignettes, alternativ Flashfics oder Ficlets (üblicherweise bis ca. 1 000 Wörter), One-Shots bzw. Standalones (kurze, aus einem einzigen Kapitel bestehende Fics). Dergleichen funktioniert in der Fanfiction deshalb so gut, weil es sich hier um eine überaus voraussetzungsreiche, mit dem jeweiligen Kanon und Fanon bzw. dem „fan text“ – d. h. dem gesamten „discursive universe generated by the source text“ (Busse 2017: 107) – vertraute Leser*innen adressierende, allusiv ‚komprimierte‘ Form von Literatur (Stasi 2006: 122), ein zugleich populäres und hochgradig palimpsestuöses Genre handelt.

Mit dieser plastischen Metapher des Palimpsests betitelt Genette sein Referenzwerk zur Transtextualität – kurz definiert alles, was einen Text „in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“ (1993: 9); mit den Subkategorien u. a. der Intertextualität (Zitate, Allusionen oder auch Plagiate) und der Hypertextualität, bei der ein Text – der Hypertext – ein früheres Werk – den Hypotext – auf spielerische, satirische oder ernsthafte Weise transformiert oder imitiert. Auf der Odyssee als Hypotext basieren so unterschiedliche Hypertexte wie Vergils Aeneis und James Joyces Ulysses – sowie von allen drei Werken inspirierte Fanfics, in denen z. B. Joyces Homer-Hypertext seinerseits zum Hypotext und im Rahmen des einen oder anderen Crossover mit Shakespeares Hamlet (chaos_harmony: Aeolus, AO3, 14.03.2012), Sherlock (Kalypso: Ulysses Holmes, AO3, 16.06.2012) oder auch – With Deepest Apologies to James Joyce (lynnmonster, AO3, 31.03.2008) – mit Harry Potter kombiniert wird. Als hypertextuell generiertes Genre illustriert auch und gerade die Fanfiction, wie sehr ein Text zur Entfaltung der vollen „‚palimpsestuousness‘ of the experience“ (Hutcheon 2006: 172) der ko-kreativen Kompetenz der Leserin bedarf.

Am anderen Extrem der Fanfic-Skala finden sich Online-Epen, die zumindest quantitativ jederzeit mit Joyces voluminösem Roman rivalisieren können. Im Durchschnitt sind die in literarischen Fandoms publizierten Texte umfangreicher als jene in anderen Kategorien (Aragon/Davis 2019: 85); eine der bisher längsten Fanfictions beruht allerdings auf dem Nintendo-Computerspiel Super Smash Bros.: Die von einem US-Teenager mit mexikanischem Background verfasste Mega-Fic The Subspace Emissary’s Worlds Conquest (AuraChannelerChris, FFN, 05.03.2008) zählt bis zum letzten Update (12.06.2018) über vier Millionen Wörter und ist damit deutlich mehr als drei Mal so lang wie Marcel Prousts Romanzyklus À la recherche du temps perdu und mehr als sechs Mal so lang wie Lev Tolstojs Krieg und Frieden (Romano 2020b). Getoppt wurde dieses Monsterwerk von der ebenfalls auf einem Computerspiel – der japanischen Kantai Collection – basierenden Fic Ambience: A Fleet Symphony (Hieda no Akyuu, FFN, 09.05.2014; Update: 16.04.2019), die aktuell 443 Kapitel und über viereinhalb Millionen Wörter erreicht.

Homer meets Harry Potter: Fanfiction zwischen Klassik und Populärkultur

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