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„Das ist eine Riesensache…“: Kartographie einer literarischen Parallelwelt

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Auch wenn Fanfiction also kein neues Phänomen ist, ist ohne Weiteres nachvollziehbar, warum das Genre Anfang des 21. Jahrhunderts einen derartigen Aufschwung bzw. eine „véritable explosion“ (Saint-Gelais 2011: 408) erlebt. Mehr denn je präsentiert sich Fanfiction im digitalen Kontext als produktions- wie rezeptionsseitig besonders niedrigschwellige „Literatur von unten“ (Mauermann/Bendel 2012), als „demokratisches Genre“ (Pugh 2005) bzw. als paradigmatische Form „partizipatorischer Kultur“ – so Jenkins (1992), der mit seinen Textual Poachers das Forschungsfeld bis heute prägt. Im selben Jahr 1992 erscheinen neben Jenkins’ ‚Textwilderern‘ (die Metapher entlehnt der Autor bei Michel de Certeau) auch zwei andere Gründungswerke der Fan Fiction Studies, Bacon-Smiths Enterprising Women und Penleys „Feminism, Psychoanalysis, and the Study of Popular Culture“, wieder aufgegriffen in Nasa/Trek (1997).

Why Fanfiction Is Taking Over the World, titelt gut zwei Jahrzehnte später Jamison (2013). In der Tat hat diese literarische Parallelkultur – „the fastest-growing form of writing in the world“, wie Pugh (Backcover) bereits 2005 konstatiert – mittlerweile für noch im Hinblick auf einen traditionellen Buchmarkt sozialisierte Leser*innen verblüffende Dimensionen angenommen; populäre Fics schaffen es zu Reichweiten, von denen viele professionelle Autor*innen nur träumen können. „Haben Sie schon einmal von Fan Fiction gehört? Da nimmt man das Personal des Lieblingsbuches und schreibt mit ihm neue Geschichten oder setzt beim bestehenden Buch fort. Harry Potter zum Beispiel. […] Das ist eine Riesensache – und die Erwachsenenwelt weiß nichts davon. Meine 13-jährige Tochter […] hat mehr Leser als ich!“ – so Christoph Braendle, der über seinen Teenager-Nachwuchs die wunderbare Welt der Fanfiction entdeckt (Mayr/Mayr 2014).

Schon quantitativ ist Fanfiction fürwahr – heute noch mehr als im Jahr 2014 – eine „Riesensache“. Çam (2020) beziffert das aktuell online verfügbare Repertoire mit „50 million free fanfiction stories“; bereits früheren Schätzungen zufolge macht die ob ihrer Fluidität und permanenten Fluktuation kaum exakt zu kalkulierende Fanfiction ca. ein Drittel allen Contents „about books on the web“ aus (Kowalczyk 2014). Auf FanFiction.net (FFN), der 1998 gegründeten größten internationalen Plattform, sind – quer durch die neun Hauptkategorien Anime/Manga, Books, Cartoons, Comics, Games, Misc (Miscellaneous), Movies, Plays/Musicals und TV Shows – über zwölf Millionen registrierte User*innen in den unterschiedlichsten Fandoms aktiv, von Homer bis Harry Potter, von Vergil bis zu My Little Pony, dessen „Principessa“ im Rahmen einer weiteren Aeneis-Parodie auf EFP kokett den Unpaarhufer von Troja ersetzt (chiaraviolinista: Il Curioso Caso di Enea il Pio, 18.10.2011).

Der derzeit größte Fanfiction-Star ist aber natürlich der Zauberlehrling von Hogwarts: FFN verzeichnet per Ende November 2020 unter ‚Books: Harry Potter‘ rund 827 000 Stories. Mit großem Abstand folgen Twilight, Percy Jackson and the Olympians, Lord of the Rings, Hunger Games etc. – sowie relativ weit vorne mit Jane Austens Pride and Prejudice und Victor Hugos Les Misérables die Avantgarde der Klassiker-Fraktion, die ihre Popularität nicht zuletzt zahlreichen intermedialen Adaptionen verdankt: Wahre Fehden werden unter den ‚Janeites‘ ausgefochten, welche der neueren Pride-and-Prejudice-Versionen – die BBC-Fassung 1995 oder Joe Wrights Film (2005) mit Keira Knightley in der Rolle der Elizabeth Bennet – als superior zu gelten hat. Gegenüber den früheren, primär auf audiovisuelle Medien fokussierten großen Fandoms verschiebt sich dennoch eben mit Harry Potter die Dynamik stärker in Richtung Literatur (Wagner/Egger 2019: 443).

Am fulguranten Erfolg von J. K. Rowlings Werk partizipieren mehrere Aspekte. Zunächst handelt es sich um einen Glücksfall medienhistorischer Synchronizität: Die Publikation der ersten drei Potter-Bände (1997–1999) fällt mit dem Beginn der digitalen Explosion des Genres zusammen. Dazu kommt der die Fanfic-Karriere eines Werkes favorisierende Faktor Serialität: Kreative Fans lieben offene bzw. provisorische Enden, die Ergänzung von ‚Missing Scenes‘ und ‚Missing Moments‘ ist eine einschlägige Kernkompetenz – und ein unendliches Unterfangen, ist doch jede fiktive Welt per definitionem inkomplett (Doležel 1998).

Not in Harry Potter lautet der Titel einer 2007 auf DeviantArt publizierten und über 190 000 Mal aufgerufenen Fic; hier versammelt mayleaf diverse „Quotes/words that should be in Harry Potter but Aren’t“: „‚What are you doing here?‘ Harry asked, bewildered. Draco spun around, did a double-take, then glared at Harry and made an obscene hand gesture“… Beinahe überflüssig zu bemerken, dass das Subgenre Slash – u. a. in der Konstellation ‚Drarry‘ – sich auch in diesem Fandom beträchtlicher Popularität erfreut. Eine auf den ersten Blick harmlose Passage gegen Ende des vierten Bandes, da Dumbledore Sirius aufträgt, sich eine Weile bei Lupin bedeckt zu halten („Lie low at Lupin’s for a while […]“), inspiriert unzählige Fans zur Spekulation darüber, was während jenes Sommers zwischen Goblet of Fire und Order of the Phoenix dort so alles getrieben wurde, d. h. immer wieder aufs Neue variierter Remus/Sirius-Slash (FL: „Lie Low at Lupin’s“).

Wohl wäre, so Coppa (2017: 58), der Erfolg von Harry Potter noch größer gewesen, hätte Rowling auf den Epilog in Band 7 verzichtet – mit dem die Autorin mittlerweile selbst nicht mehr recht glücklich ist (Nordyke 2014). Nicht umsonst bildet sich eine eigene Kategorie sogenannter EWE-Potterfiction, d. h. ‚Epilogue? What Epilogue?‘, den zu ignorieren bzw. durch ihre alternative Version zu ersetzen rebellische Fans entschlossen sind; über 7 000 EWE-Potterfics finden sich nach aktuellem Stand allein auf dem Portal Archive of Our Own.

Bei besagtem Archive of Our Own (kurz AO3), gegründet 2008, handelt es sich um das nach FFN zweitgrößte, derzeit am stärksten wachsende Fanfiction-Portal mit über drei Millionen registrierten User*innen und an die sieben Millionen ‚Fanworks‘, davon allein zu Harry Potter über 270 000 Stories, deren populärste es per November 2020 auf weit über eine Million Aufrufe bringt (megamatt09: The Breeding Ground, 25.10.2015). Hinter AO3 steht die seit 2007 aktive Non-Profit-Organization for Transformative Works alias OTW, die auch das Wiki Fanlore und das der Archivierung potentiell bedrohter „fanworks for the future“ gewidmete Open-Doors-Projekt betreibt (FL).

Fanfiction findet sich auch auf einer Reihe nicht exklusiv auf das Genre fokussierter Plattformen und Portale (Kowalczyk 2014): Wattpad, das seine Services als „[t]he world’s most-loved social storytelling platform“ bewirbt, verfügt über eine aktive, v. a. auf Celebrities und Comics konzentrierte Community, auch Quotev bietet eine einschlägige Rubrik; weitere Fanfiction beherbergen FicWad, FictionPad ebenso wie das LiveJournal; DeviantArt – seiner Selbstpräsentation nach „the largest art community in the world“ – setzt den Fokus auf digitale bzw. digitalisierbare bildende Kunst, bietet aber auch ein reiches Fanfic-Repertoire. Dominieren in den Anfängen der Online-Fanfiction einige zentralisierte Archive, so folgt in der Blütezeit sozialer Medien in den 2000ern eine Phase der Dissemination; angesichts zusehends unüberschaubarer Dimensionen geht der Trend zurück zu großen Multi-Fandom-Archiven wie FFN und AO3. Daneben bestehen weiterhin viel enger definierte Single-Fandom-Formate, so das den X-Files gewidmete Gossamer Project oder die für My Little Pony: Friendship is Magic reservierte FIMFiction. Das Angebot ergänzen Portale wie Asianfanfics, „a digital publishing and crowdfunding platform for works centered around Asian entertainment“ – auch dies auf Englisch wohlgemerkt.

Homer meets Harry Potter: Fanfiction zwischen Klassik und Populärkultur

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