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Dämonengesicht

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Der Wind heulte um das Schiff herum und blies heftig in die Segel. Kimberly spürte die Bewegungen des Schiffes während sie in ihrer Hängematte lag und ihren Gedanken nachhing. Sie liebte das Piratenleben, aber wollte sie wirklich für immer auf diesem Schiff bleiben und solche Aufträge wie heute erledigen? Es war verlockend, ein Heimatschiff zu haben, einen Rückzugsort. Aber die Antwort war Nein. Sie erwartete mehr von ihrem Leben, ein größeres Schiff, eine eigene Mannschaft. Sie wollte nicht länger eine Rarität bleiben, wollte nicht länger die einzige Frau an Bord sein. Sie wusste, dass sie ein nahezu einzigartiges Privileg genoss, dass kein anderer Captain sie dulden würde. Zumindest nicht so. Als Hure vielleicht, aber nicht als Teil der Crew. Wenn Barron nicht ihr Onkel wäre … Wie würde ihr Leben dann aussehen?

Vielleicht hätte sie dann noch Eltern. Vielleicht würde in England leben, teure Kleider tragen und darauf warten, verheiratet zu werden. Vermutlich würde sie es längst sein und ihr zweites oder drittes Kind erwarten. Wollte sie das? Nein, bestimmt nicht. So eine Frau war sie nicht. Und solche Menschen waren auch ihre Eltern nicht gewesen. Zumindest erzählte man ihr das. Melinda und Matt, im Gefecht gegen die Spanier gefallen. Wie ihre Mutter es an Bord der Devil geschafft hatte, wusste sie nicht. Vielleicht, weil sie die Frau des Bruders des Captains gewesen war? Kimberly schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Sie wollte nicht wieder an ihre Eltern denken, sie konnte sich ohnehin nicht an sie erinnern. Es war zu lange her, dass man sie ermordet hatte. Die Crew war ihre Familie, schon immer, mehr brauchte sie nicht.

Sie nahm es Captain Barron nicht wirklich übel, dass er sie auf die Insel geschickt hatte. Sie war die Schnellste von ihnen, die Wendigste. Und vermutlich auch die Cleverste. Die anderen hätten der Versuchung nicht widerstanden, sie hätten die Kammer geplündert ohne an den Stein zu denken, hätten vor Gier ihren Auftrag vergessen.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür der Kajüte riss sie vorerst aus ihren Erinnerungen. „Darf ich reinkommen?“

Unwillkürlich huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Hey, Gavin. Klar, komm rein.“

„Na, bist du immer noch sauer auf den Captain?“ Er kannte ihr hitziges Gemüt und besuchte sie immer nach einer Auseinandersetzung – mit wem auch immer. So war das wohl, die zwei Küken an Bord mussten zusammenhalten. Auch, wenn sie mit zwanzig Jahren sicherlich keine Kinder mehr waren.

Kimberly seufzte theatralisch. „Ja, aber was will man machen? Wenn ich es jetzt auf einen Streit ankomme lasse, wirft er mich wahrscheinlich einfach über Bord.“

„Ach Blödsinn, so etwas würde Barron nie tun. Er ist ein guter Mann.“

„Er ist Pirat!“, erwiderte Kimberly lachend.

Gavin grinste. „Genau wie wir auch.“

Für einen Moment senkte sie den Kopf, schloss die Augen. Sie spürte eine leichte Übelkeit, ein flaues Gefühl in der Magengegend. „Ich hatte Angst. In der Höhle. Ich hatte wirklich Angst, sie nicht mehr lebend zu verlassen. Das war etwas anderes als sonst. Irgendetwas … ich war nicht allein dort. Da war noch etwas. Etwas Böses.“

„Aber jetzt bist du wieder hier, du bist in Sicherheit. Solange dich kein Pirat über Bord werfen will.“

„Und wenn ich das Böse mitgebracht habe?“ Kimberly lachte nicht über seinen Witz, sondern legte stattdessen die Stirn in Falten.

„Hör zu, Kim. Was geschehen ist, ist geschehen. Wir können es nicht mehr rückgängig machen. Aber was noch kommt, das ist allein unsere Entscheidung, denn wir sind verantwortlich für das, was wir tun und tun werden.“ Er lächelte, aber es sah nicht mehr echt aus.

„Was ist los? Nervt dich deine eigene Philosophie?“

„Vielleicht hast du recht.“

Kimberly legte den Kopf schief. „Was meinst du?“

„Unser freier Wille. Es ist nicht immer unsere Entscheidung. Es gibt jemanden – oder etwas – der die Macht hat, uns zu kontrollieren. Noch ist es nicht soweit, aber ich fürchte, es wird bald soweit sein. Wir müssen Barron helfen, sonst ist er bald nur noch eine Marionette.“

„Wovon redest du? Ich verstehe kein Wort.“

Gavin seufzte und strich sich eine verschwitzte Strähne seines rötlichen Haares aus dem Gesicht. „Es ist eine alte Geschichte. Ein dunkles Märchen. Wenn es wahr ist, schweben wir alle in großer Gefahr.“

„Das Böse …“

Er nickte. „Der Stein. Er ist es. Du hattest recht, da unten war etwas Böses. Und vermutlich hast du es wirklich mit an Bord gebracht.“

Kimberly setzte sich gerader hin, verschränkte die Arme vor der Brust. „Nimmst du mich auf den Arm?“

„Du weißt, dass ich das nur zu gern tue, aber … nein. Dieses Mal nicht.“

Kimberly suchte in seinen Augen nach einer Lüge, einem Schmunzeln, doch da war nichts. Er meinte es tatsächlich ernst. „Woher weißt du das alles?“

„Es gibt Gerüchte an Bord.“ Gavin zuckte mit den Achseln. „Man schnappt in der Kombüse so einiges auf. Und Sam ist besorgt. Er weiß nichts Genaues, nur, dass der Stein aus einem guten Grund in dieser Höhle versteckt war. Es soll so etwas wie ein magisches Gefängnis sein. Sagt man zumindest. Ich glaube, dass ich früher schon einmal etwas Ähnliches gehört habe. Vor meiner Zeit auf der Devil. Eine schaurige Gutenachtgeschichte, die uns Kindern Angst machen sollte.“

„Ein magisches Gefängnis? Machst du dich über mich lustig?“

„Du hast gefragt und ich antworte.“ Gavin verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie seufzte. „Na schön, rede weiter.“

„Ich habe Geschichten gehört, dass die Höhle etwas bewachen soll. Etwas Böses, das man nicht befreien darf. Ich wollte dem Captsin davon erzählen, aber… Na, ich kann mir denken, wie er reagiert hätte.“

Kimberly legte den Kopf schief und dachte nach. „Weißt du, dass ich mich nie gefragt habe, was er damit vorhat? Jetzt mal ehrlich, was will er mit einem Stück Stein? Schön, er ist hell und hübsch, aber ich wusste nicht, dass unser Captain auf Solche Dinge achtet.“

„Man sagt ihm magische Kräfte nach. Frag mich nicht, welche, das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht will er sein Schiff ausrüsten? Einen zweiten fliegenden Holländer vielleicht?“ Er grinste spöttisch.

„Das ist doch vollkommen verrückt“, murmelte Kimberly. Ein plötzliches Schwindelgefühl erfüllte sie, sie streckte automatisch die Hand nach der Kajütenwand aus und die Übelkeit wurde heftiger. Sie war doch noch nie seekrank geworden. „Es wäre mir wesentlich lieber gewesen, wenn du mich einfach ausgelacht hättest.“

„Der Stein von Anór ist der Vorbote des Unglücks. Durch ihn hat das Böse Macht über diejenigen, die ihn besitzen. So sagt man zumindest.“

„Warum habe ich davon nie etwas gehört? Und vor allem, warum sollten wir so etwas an Board holen? Das ist doch … furchtbar“, murmelte Kimberly und presste die Hand gegen die Schläfe, wollte den Schmerz aus ihrem Kopf drücken.

„Du solltest eben öfter in die Kombüse kommen. Aber ja, es ist wirklich furchtbar. Wenn wir den Stein nicht dorthin zurück bringen, wo ihn die Götter bewachen, dann … es wird böse enden. Für uns alle.“

„Jetzt auch noch Götter? Das klingt wahnsinnig.“

„Es ist Wahnsinn“, gab Gavin zurück. „Aber deshalb ist es nicht weniger wahr. Ich hätte nie gedacht, dass der Captain daran glaubt. Ich hätte nie gedacht, dass er so weit gehen würde. Ich weiß nicht einmal, warum er es tut. Ich kann dir nur sagen, was ich aus den Geschichten weiß, was meine Familie mir früher erzählt hat, und das gefällt mir nicht. Es kann alles Seemannsgarn sein. Genauso gut kann es wahr sein. Du hast selbst gesagt, du hast etwas gespürt. Vielleicht hast du recht.“

Kimberly wollte etwas erwidern, doch sie spürte mit einem Mal einen kochenden, brodelnden Hass in sich aufsteigen, der alle anderen Gefühle in den Hintergrund drängte. Sie spürte die Hitze in ihrem Körper empor kriechen, schmeckte den bitteren Geschmack der Wut auf ihrer Zunge.

Da war ein Schmerz in ihrem Inneren, ihrem Herzen, ihrer Seele. Etwas versuchte, sie zu verdrängen, sie aus ihrem Körper zu stoßen. Etwas, das sie mit heißer, feuriger Wut erfüllte, das ihre Sicht mit roten Rändern trübte. Sie keuchte, würgte. Ihr Magen zog sich zusammen, glühende Krallen gruben sich in ihre Eingeweide.

Und dann war es vorbei. Der Schmerz, das Etwas, zog sich zurück, verließ sie wieder, als hätte es sich verbrannt. Sie glaubte, ein Zischen zu hören, ein böses Wispern und Flüstern. Vor ihren Augen wurde es schwarz. Für einen Moment war da nichts als Leere, bevor ihre Sinne langsam wiederkehrten.

„Kim? Kim! Was ist passiert?“ Gavin beugte sich über sie, drückte ihre Hand. „Du bist ja ganz blass.“

Die Welt war noch leicht verschwommen, ihre Seele brauchte einen Moment, sich wieder in ihrem Körper zurechtzufinden, alle Sinne wieder in Besitz zu nehmen. „Ich …“ Ihre Stimme war rau, heiser. „Ich weiß nicht. Es war als … da war jemand. Etwas. In meinem Körper.“

Gavin riss die Augen auf. „Es ist schon da. Das Böse. Es fängt an.“

„Ach nein, Blödsinn. Wahrscheinlich war das die Nachwirkung des Höhleneinsturzes, ich hab mir den Kopf gestoßen.“ Zumindest versuchte sie, sich das einzureden, aber sie wusste, wie sinnlos es war. Sie hatte es gespürt. Das Böse in der Höhle und den nicht greifbaren Fremdkörper in ihr.

„Kim.“ Er drückte ihre Hand fester, schüttelte energisch den Kopf. „Ich hoffe mit allem was ich bin, dass du recht hast. Aber wenn ich mich nicht irre, sind wir alle in Gefahr. Wir müssen den Stein wieder loswerden bevor der Dämon stärker wird.“

„Dämon?“ Kimberly horchte auf. „Du meinst … so etwas wie einen bösen Geist? Ernsthaft?“

Gavin nickte. „Auch das ist Teil der Legende. Frankie hat mir die Geschichte schon öfters erzählt. Er kennt sie von früher. Und Sam weiß auch etwas, aber nicht viel. Ich frage mich, wie viel der Captain weiß. Ob ihm klar ist, auf was er sich da eingelassen hat.“

„Was, zum Teufel, will der Captain mit einem Dämon? Ein Bierchen trinken ja bestimmt nicht!“

„Ich weiß es nicht.“

„Und wie töten wir es? Vorausgesetzt, es existiert überhaupt“, fügte sie rasch hinzu. Sie hatte es gespürt und dennoch war der Gedanke so unglaublich absurd.

Gavin lachte trocken. „Töten? Du kannst einen Dämon nicht töten, Kim. Er ist kein Mensch. Er hat kein Herz!“

„Und was sollen wir dann tun? Wenn der Captain mich wirklich einen verfluchten Dämon hat an Bord holen lassen, was tun wir dann? Kann er uns angreifen?“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht. Vermutlich. Ich kenne die alten Geschichten, aber ich weiß nicht, was …“ Gavin stockte, alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Er krümmte sich, presste die Hände erst auf den Bauch, dann an den Kopf, stöhnte, würgte.

„Gavin!“

Seine Hände begannen zu zittern, seine Arme, Beine, alles vibrierte unkontrolliert, seine Zähne schlugen heftig auf einander.

„Gavin, was hast du, was ist los?“ Kimberly packte ihn fest bei den Schultern, wollte ihn festhalten, damit er sich beruhigte, aber er schubste sie weg. Fest, energisch, voller Wut. Ein tiefes Grollen kam aus seiner Brust. Das Zittern hörte mit einem Mal auf, er wurde ruhig, saß einen Moment lang starr da, bevor er den Kopf hob und sie ansah. Aber es waren nicht länger seine Augen. Sie waren rot und riesig, sie loderten voller Hass. Zuerst sah es aus wie eine Schwellung von zu vielen Tränen, zu viel Salz, aber das war es nicht. Es war die kochende Wut, die Kimberly eben in sich gespürt hatte, es war das Wesen, das Böse, der Dämon.

Es stand direkt vor ihr. Und es hatte eine Waffe.

Gavins Hand, die nicht mehr seine war, schloss sich um den Griff, zog den Säbel langsam heraus. Die feurigen Augen wanderten an der Klinge entlang, prüften ihre Schärfe. Er – es – lächelte. Es war ein böses, tückisches, gefährliches Lächeln, eines das sagte: „Ich kann dich töten. Hier und jetzt. Und niemand würde es merken.“

Beinahe zu spät bemerkte Kimberly, dass die unausgesprochene Drohung nicht ihr galt.

Die Klinge fuhr langsam an Gavins Arm entlang, liebkoste ihn beinahe, fuhr immer wieder über sein Handgelenk. Seine Pulsadern.

„Nein!“

Ein rascher, schneller Schnitt. Ein Aufkeuchen. Ein Schrei. Und Blut, so viel Blut.

Es verließ ihn so schnell wie das Rot seine Augen.

Gavins schmächtiger Körper sackte schwer zu Boden und blieb einfach liegen, reglos. Das Blut floss weiter aus seinem Handgelenk, sickerte in das Holz.

„Scheiße.“ Kimberly griff nach einer Bluse unter ihrer Hängematte, riss einen Streifen Stoff ab und band ihn fest um den Schnitt. „Komm schon, Gavin, hilf mir.“ Sie versuchte, ihn hochzuheben und zu tragen, aber dafür reichte ihre Kraft nicht. „Sam!“

Wind und Regen peitschten ihr entgegen, als sie an Deck kam, Wasser rollte über die Planken. „Sam! Captain!“

Die Tür des Kapitänsquartiers am Heck des Schiffes wurde aufgerissen, Captain Barron und der Bader Samuel stürzten heraus und sahen sie fragend an. „Warum schreist du hier so rum?“

„Gavin hat sich verletzt. Wir brauchen Hilfe.“

Die beiden Männer liefen an ihr vorbei in die Kajüte, hoben Gavin hoch und trugen ihn in die Kombüse am Bug des Schiffes. Kimberly machte auf dem kleinen, schiefen Holztisch Platz, damit die Männer Gavin darauf legen konnten. Sam rückte sein Monokel zurecht und griff nach einem mit brauner Flüssigkeit gefülltem Krug. Der provisorische Verband wurde abgewickelt, die Wunde mit selbstgebranntem Rum desinfiziert und mit einem halbwegs sauberen Fetzen Segeltuch neu verbunden. Der Küchenjunge verzog das Gesicht, noch nicht ganz wieder bei Bewusstsein, ließ die Prozedur aber klaglos über sich ergehen. Er war so blass, dass selbst seine Sommersprossen farblos wirkten.

„Wie ist das passiert?“ Captain Barron trat hinter Kimberly und musterte sie mit gerunzelter Stirn.

Sie schwieg einen Moment, suchte nach einer passenden Antwort. Sollte sie lügen? Wenn es stimmte, was Gavin über den Stein von Anór erzählt hatte, war es vielleicht besser, ihm erst einmal nicht die Wahrheit zu sagen und abzuwarten. Oder musste sie ihn gerade deshalb warnen? Vor den Gefahren? Sie hatte doch gesehen, was geschehen war, hatte selbst gespürt, wie das Böse, der Dämon versucht hatte, in sie einzudringen. Sie schauderte unwillkürlich.

„Kimberly?“

„Wir glauben, es hat mit diesem verfluchten Stein zu tun.“

Barron runzelte die Stirn. „Dem Stein von Anór? Wie stellst du dir das vor? Ist er über Deck zu euch geflogen, hat den Säbel angestoßen und so Gavin den Arm aufgeschlitzt?“ Er lächelte, aber es war ein amüsiertes, mitleidiges, Mach-dich-doch-nicht-lächerlich-Lächeln. So hatte er sie oft angesehen, als sie noch klein gewesen war. Nur dass sie dieses Mal hinter der Fassade noch etwas anderes entdeckte: Überraschung.

Kimberly ballte die Hände zu Fäusten, schluckte den Ärger herunter. „Etwas ist hier. Etwas Böses. Etwas, das mit mir diese Insel verlassen hat und nun bedroht es uns. Sei nicht leichtsinnig, Captain.“

Ohne seine Antwort abzuwarten ging sie davon, fort aus dem Raum, der nach Alkohol und Schmerz und Tod stank, fort von dem Mann, der dieses Unheil über sie alle gebracht hatte.

Aber warst nicht du diejenige, die den Stein mitgebracht hat, stichelte eine leise Stimme in ihr, die immer lauter wurde. Wie schön es doch war, ein Gewissen zu haben. Du hast schon in der Höhle gespürt, dass etwas nicht stimmt. Du hättest den Stein dort lassen können. Dann wäre er begraben gewesen, für immer. Es ist auch deine Schuld.

„Halt die Klappe“, murmelte sie und trat nach einer Wasserpfütze auf Deck. Der frisch eingesetzte Regen tat gut, er wusch einen Teil der Schuldgefühle von ihr, der salzige Meereswind fuhr durch ihre Gedanken und klärte sie wie einen wolkenverhangenen Himmel ein wenig auf. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ die kühlen Tropfen über ihr Gesicht laufen. Wie Tränen rannen sie ihre Wangen hinab, durchnässten ihre Kleider, ihre Haut, spülten für einen Moment alle Sorgen, alle schlechten Erinnerungen und Gefühle von ihr. Für diesen Augenblick war sie einfach nur sie und beinahe erreichte ein Lächeln ihr Gesicht.

Beinahe.

Denn in diesem Moment zuckte ein Bild durch ihren Kopf. Und auf dieses eine folgten weitere, immer mehr und mehr, bis sie zu einem Film wurden, der sich vor ihren inneren Augen abspielte.

Gavins Augen glühten, er verzog das Gesicht zu einer hässlichen, schrecklichen Fratze, scharfe Zähne stülpten sich über blutige Lippen. In einer Hand hielt er den Säbel, fuhr damit langsam, spielerisch über seine Kehle und lächelte. Sein anderer Arm hing schlaff an seinem Körper, blutend, zerrissen.

Du kannst mich nicht besiegen“, knurrte eine Stimme, die nicht seine eigene war, nicht ganz. Seinen Augen flammten auf, wurden heller und roter, sie glühten wie Holz und von einem Moment auf den anderen waren sie schwarz und trüb. Asche. „Niemand kann das.“

Die Bilder verschwanden so schnell wie sie gekommen waren, ließen Kimberly zitternd und keuchend zurück. Ihr Herz schlug viel zu schnell. Sie sackte ihn die Knie, presste die Hände auf die nassen Planken, um etwas zu spüren, um zu fühlen, dass das Schiff um sie herum echt, dass sie hier war. Was geschah mit ihr?

Die Luft schmeckte auf einmal bitter, nach kaltem Hass und Boshaftigkeit.

Sie musste etwas tun. Sie musste herausfinden, was es mit dem Stein auf sich hatte, wo er her kam, welche Geschichte er hatte.

„Arme, Kimy. Hat sie den kleinen Gavin etwa in den Wahnsinn getrieben? Ja, so ist das mit den Frauen, sie bringen uns um den Verstand.“ Oliver grinste sie anzüglich an, starrte auf ihr durchnässtes Hemd und die Konturen, die sich darunter deutlich abzeichneten.

Kimberly warf ihm einen vernichtenden Blick zu und verschränkte die Arme über ihren Brustwarzen, die deutlich unter dem feuchten, weißen Stoff zu sehen waren. „Lass mich in Ruhe.“

„Wie hast du es angestellt? Hast du ihm den Liebesdienst verweigert? Oder konnte er deine Gesellschaft einfach nicht länger ertragen? Weißt du, Kimy, ich kann unseren Küchenjungen verstehen. Aber es gibt leichtere Methoden.“ Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle und bleckte seine schwarzen Zähne zu einem noch breiteren Grinsen.

Kimberly machte einen Satz auf ihn zu, holte aus und schlug ihm die Faust ins Gesicht. Ein pochender Schmerz zuckte durch ihre Knöchel, als sie sein Kinn traf, und Oliver stolperte einige Schritte zurück, rutschte auf dem schlüpfrigen Deck aus und fiel polternd auf den Rücken. Er drehte den Kopf und spuckte einen blutigen, verfaulten Zahnstumpf aus.

„Dein Glück, dass es nicht mein Goldzahn war, du kleines Miststück!“

Ehe er Zeit hatte, wieder aufzustehen, saß Kimberly auf ihm und drückte ihren Säbel an seinen Hals. „Halt lieber dein stinkendes Maul, Oliver. Sonst erstickst du vielleicht irgendwann an dem Mist, den du von dir gibst.“

„Wie niedlich. Klein Kimy droht mir.“ Seine schlammbraunen Augen blitzten herausfordernd auf.

Sie drückte ein wenig fester zu, ritzte die schmutzige Haut an, bis ein Tropfen Blut hervorquoll. Saurer Männerschweiß stieg ihr in die Nase und sie glaubte, die Läuse durch seinen verfilzten Vollbart kriechen zu sehen. Sie kannte niemanden, der so sehr stank wie Oliver. In ihrem Mund breitete sich wieder dieser bittere Geschmack aus, sie spürte die Hitze in sich hochsteigen und für einen Moment vernebelten sich ihre Gedanken, als wäre da noch etwas anderes, das sie erneut zu verdrängen versuchte. Und wieder zuckte das Etwas vor ihr zurück, Kimberly glaubte, sein Kreischen zu hören als es verschwand.

Oliver starrte sie mit einer Mischung aus Verwunderung, Neugierde und Beunruhigung an, als sie die Augen zusammenkniff und den Kopf schüttelte, um den letzten Rest Schwindel zu verscheuchen.

Langsam löste Kimberly den Druck des Säbels von seinem Hals, richtete sich auf und ging zielstrebig zurück zur Kombüse. Wenn Gavin recht hatte und der Dämon jetzt erst dabei war, seine Kräfte zu sammeln, wie schlimm würde es dann erst noch werden?

Wenn da nicht dieses Gefühl wäre und dieser bittere Geschmack, hätte sie die Geschichte nie, niemals geglaubt, aber jetzt? Entweder wurde sie verrückt, oder es war wahr und sie wusste nicht, was schlimmer war.

Am liebsten wäre sie über Deck gerannt, zur Reling, hätte sich kräftig abgestoßen und wäre geflogen. Nur einen Moment frei sein, sich fallen lassen, und dann in die kalte Umarmung des Meeres eintauchen. Sie wollte weglaufen vor diesem Etwas, das sie nun bedrohte, wollte das scheinbar verfluchte Schiff hinter sich lassen und hasste sich gleichzeitig für den Gedanken. Sie lief nicht weg, sie nicht. Und wie kam sie nur auf die Idee, ihr Schiff, ihr zu Hause, zu verlassen? Sie könnte nirgendwo hin.

Aber all das änderte nichts an ihrem Verlangen, jetzt woanders zu sein, die Holy Devil für eine gewisse Zeit zu verlassen, bis sie herausgefunden hatte, was los war. Für einen Moment fühlte sie sich wieder wie das kleine Mädchen von früher, das sich hinter ihrem Captain versteckte, wenn etwas Schlimmes geschah. Aber diese Zeiten waren längst vorbei.

„Kimberly?“ Sam kam aus der Kombüse und hob automatisch die Hand über den Kopf, als der Regen auf ihn nieder prasselte. „Gavin ist schon auf dem Weg der Besserung, die Wunde ist versorgt. Der Captain will mit ihm und dir noch einmal reden.“

Sie nickte, strich sich die nassen Locken aus dem Gesicht und folgte dem Schiffsarzt in den beengten Raum. Gavin saß aufrecht auf dem alten Tisch und rieb über sein verbundenes Handgelenk, aber als sie die Kombüse betrat, sah er auf.

Kimberly blieb nahe der Tür stehen und schenkte ihm ein scheues Lächeln. Sie zögerte, wusste nicht, ob sie hier stehen bleiben oder sich zu den anderen setzen sollte, wusste nicht, ob es hier und jetzt wieder geschehen würde und wer dieses Mal verletzt werden würde.

Feigling, schalt sie sich und setzte sich auf das freie Stück des Tisches, aber ihre Muskeln blieben angespannt.

Sam räusperte sich und zog das Monokel von seinem Auge. „Also, könnt ihr uns jetzt erzählen, was passiert ist?“

Kimberly zuckte mit den Achseln.

„Ich bin nicht sicher.“ Gavin warf ihr einen fragenden Blick zu und sie hob erneut die Achseln. Erzähl.

„Wir haben uns unterhalten, Kim und ich. Irgendwann auch über den Stein von Anór. Ich kann mich nicht mehr genau an den Inhalt erinnern. Es war … seltsam. Zuerst war alles normal und plötzlich war da dieses Gefühl, diese …“

„Wut“, vollende Kimberly den Satz. „Hass. Ein Brennen im Inneren, ein Gedränge in der Seele.“

Gavin sah sie an und nickte langsam. „Du hast es auch gespürt?“

„Nur kurz. Es war, als … als hätte es aufgegeben, als wollte es mich nicht.“

„Bei mir nicht. Es hat nicht aufgegeben, sondern gewonnen. Ich erinnere mich an Übelkeit und Schwindel und Schmerz. Daran, dass etwas mich aus meinem eigenen Körper drängen wollte. Von da an war alles dunkel, ich erinnere mich nicht.“

Sam und Capatin Barron warfen sich einen Blick zu, die Stirn tief gerunzelt. „Und“, begann Sam, „ihr meint, der Stein sei schuld? Der Stein von Anór?“

Gavin hob unschlüssig die Schultern. „Ich kenne die Geschichten.“

Der Bader nickte. „Ja, ja, von mir. Aber ich hätte nie gedacht …“

„Wir können ihn nicht vernichten“, mischte Barron sich ein.

Drei Augenpaare ruckten zu ihm herum, Münder öffneten sich, um zu protestieren.

„Ich weiß, dass wir es wohl tun müssen. Aber wir können nicht. Wenn es möglich wäre, hätten die Mönche es damals schon getan.“ Er seufzte. „Ich hätte nicht gedacht, dass er so gefährlich ist, dass er jetzt schon so viel Macht hat. Ich dachte, wir hätten Zeit.“

„Was willst du überhaupt mit dem Ding? Warum ist er hier, wenn anscheinend alle außer mir wussten, was es damit auf sich hat?“, fauchte Kimberly. „Ich habe nicht mein Leben riskiert, damit du uns alle umbringen kannst.“

„Der Stein ist hier, weil er Macht hat.“

„Und was für Macht? Zauberkräfte etwa?“, spottete Kimberly und lachte hart, aber die Augen der anderen blieben ernst. „Oh wunderbar. Das wussten also auch schon alle.“

„Ich kenne nur die Geschichten, die man sich erzählt“, warf Gavin ein und legte ihr beruhigend die unverletzte Hand auf den Arm. „Aber anscheinend wissen wir nicht genug.“

Sam stimmte ihm zu. „Keiner von uns weiß, was er wirklich kann. Und wir wussten nicht, dass der Dämon durch ihn Macht hat. Dass er uns kontrollieren kann.“

„Macht, Dämon. Ich verstehe kein Wort.“

„Wir erklären es dir später. Zuerst gibt es eine neue Aufgabe.“

Wenn dein dunkles Herz mich ruft

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