Читать книгу Wenn dein dunkles Herz mich ruft - Mary C Brooks - Страница 8
Frankies Geschichte
ОглавлениеAuf dem Schiff war es ruhig, das Deck war verlassen und still, nur ein Putzeimer stand noch neben dem Hauptmast. Am Himmel kreiste eine Möwe, auf der Suche nach etwas zu Fressen im trüben Wasser.
Unten klapperte es, Edward, der Smutje, schien seine Vorräte in der Siedlung aufgefüllt zu haben und sortierte sie nun in der kleinen Speisekammer. Außer gepökeltem Fleisch, billigem Rum, Wasser und Zwieback gab es dort selten etwas besonders Schmackhaftes. Nach gelungenen Plünderungen leisteten sie sich manchmal frisches Fleisch oder Obst, aber die Tage, an denen das geschah, waren rar. Kimberly störte es nicht, sie war daran gewöhnt, und wenn sich die Gelegenheit bot, stahl sie sich Obst auf Märkten, wenn die Holy Devil in einem Hafen anlegte.
Heute war es anders. Heute hatte sie kein Essen, sondern ein Buch gestohlen und heute kehrte sie nicht zufrieden grinsend zurück. Heute kam sie mit Trauer und Misstrauen zurück an Bord.
Die Tür zu Barrons Kapitänsquartier war geschlossen, aber dahinter hörte sie leise Stimmen und das Schaben eines Stuhls über Holz. Bader Samuel war vermutlich bei ihm und sie dachte einen Moment lang darüber nach, das Ohr an die Tür zu legen und ihren Stimmen zu lauschen. Wenn sie über den Stein und den Dämon sprachen, könnte sie so vielleicht etwas herausfinden, was sie ihr verschwiegen.
Die Erkenntnis, dass sie ihrer Mannschaft schon so sehr misstraute, war ein heftiger Stich ins Herz und für einen Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als die Zeit zurückzudrehen, um alles wieder so werden zu lassen, wie es einmal war. Sie wollte wieder in dem Glauben leben, alles zu wissen, was sie wissen musste, wollte mit der Gewissheit leben, dass ihr Leben gut war und es ihr an nichts fehlte.
Kimberly schloss für einen Augenblick die Augen, ließ die Sonne nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihr Herz erwärmen, füllte es an mit dem Glück der vergangenen Zeit. Doch je lauter sie Barrons Stimme hörte, desto mehr zerbröckelte dieses zarte Gebilde und fiel schließlich ganz in sich zusammen. Ließ sie allein zurück, ertrinkend in Trauer und Schmerz und Wut, ohne etwas Gutes, an das sie sich klammern konnte. Außer dem Gedanken, dass Albert gelogen hatte. Dass er ihre Eltern nicht kannte, dass er nicht wissen konnte, ob Barron sie angelogen hatte. Dass er ihren Namen kannte, verdrängte sie krampfhaft.
Nichts war mehr, wie sie es kannte, alles hatte sich verändert, alles, alles, alles. Barron traf Entscheidungen, die er früher nicht getroffen hätte und die sie das Leben hätten kosten können. War er von seiner Gier so geblendet? Wollte er diese geheimnisvolle Macht so unbedingt nutzen, dass ihm alles andere egal war?
Sie vertraute ihrer Crew nicht mehr, fürchtete, der Dämon könnte in jeden von ihnen fahren, um sie zu töten.
Gavin war bereits tot.
Tot.
Immer wieder flackerten die Bilder durch ihren Kopf, umschwirrten ihre Gedanken, ließen sie nicht mehr los. Und zwischendrin das verschwommene, unscharfe Bild einer Fratze, die sie angrinste.
„Der Captain und seine Crew sind verloren“, höhnte sie mit der gleichen Stimme wie die Marionetten-Männer, bevor sie sich auflöste und zu schwarzem Nebel zerstob. Kimberly wollte sie packen und zerschmettern, wollte ihr die Kehle aufschlitzen und sie über die Planke gehen lassen. Sie wollte sie leiden sehen, so wie sie leiden musste, weil Gavin fort war. Fort. Für immer.
Die Tür der Kapitänskajüte öffnete sich knarzend und Barrons schwere Stiefel polterten bei jedem Schritt auf Deck. Er blieb mitten im Schritt stehen, nickte Samuel kurz zu, als dieser an ihm vorbeiging, und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf Kimberly. Schmutzige, meerblaue Augen forschten in ihren. „Was ist passiert?“
Etwas in seinem Blick beunruhigte sie, aber es war nichts Bedrohliches sondern vielmehr tiefes Mitleid, Sorge und die Suche nach Verständnis. Erst jetzt bemerkte Kimberly, dass sie wieder geweint hatte; die Tränen trockneten rasch in der Nachmittagssonne und hinterließen feine Salzlinien, die ein bizarres Muster in ihre schmutzige Haut malten.
Sie holte tief Luft, denn sie traute ihrer Stimme noch nicht ganz, fürchtete, sie könnte von der Trauer fortgespült werden, wenn sie es aussprach. Dass Gavin…
„Er ist tot“, wisperte sie und es fühlte sich an, als würde sie an dem Kloß in ihrer Kehle ersticken. Nein, sie war kein hartes, abgestumpftes Piratenmädchen, das den Tod kannte. Sie hatte es einmal gedacht, früher, in einem Leben, das bereits in Vergessenheit geriet, denn sie würde es sowieso niemals wieder zurückbekommen. Jenes Leben, in dem alles gut gewesen war. In dem nicht alles, was sie zu wissen geglaubt hatte, sich als Lüge entpuppte. In dem der Captain nicht verrückt war, in dem es kein Geheimnis um den Tod ihrer Eltern gab, in dem keine Dämonen existierten.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal geweint hatte, vielleicht hatte sie das noch nie. Vielleicht hatte sie sich deshalb für stark gehalten. Jetzt erkannte sie, dass es nicht so war, dass in ihr ein kleines, ängstliches Mädchen kauerte, das zwanzig Jahre gewartete hatte, bis es sich zeigte. Bis die tapfere Piraten-Kimberly erkennen musste, was Verlust war.
„Wer ist tot? A- … der Mann, zu dem ich dich geschickt hatte?“
„Nein.“
„Wer …?“ Er stockte und alle Farbe wich aus seinem Gesicht, als hätte die Meeresbrise sie einfach weggewischt. Seine Narbe leuchtete noch roter als sonst. „Gavin.“
Die Luft kämpfte sich rasselnd in ihre Lunge, als Kimberly versuchte, ruhig einzuatmen. Ihr Kopf sackte nach unten, ihre Zähne schlugen gegeneinander, als ihr Hals ruckend in der Bewegung innehielt. Es sollte ein Nicken werden, aber sie fand nicht die Kraft, den Kopf wieder zu heben, und wollte es auch gar nicht, denn dann hätte sie in seine Augen sehen müssen.
Und vielleicht hätte er ihren Verrat gespürt.
Für Kimberly selbst fühlte es sich an, als klebte er an ihr wie eine zweite Haut, dabei hatte sie nichts getan, zumindest noch nicht. Und war es wirklich Verrat, wenn sie ihre Crew nur beschützen wollte?
Sie wich seiner Hand aus, die nach ihr griff, tauchte darunter hinweg und stellte sich an die Reling, wo die Gischt ihre Finger auf der Reling sanft liebkoste. Es war noch immer unglaublich befreiend, den Ozean anzustarren, dabei seinen schlimmsten Gedanken nachzuhängen und allen Schmerz vorerst in den schäumenden Wogen zurückzulassen, wo er in den geheimnisvollen Tiefen verschwand.
„Wo ist das Buch?“ Barrons Stimme drang wie ein lästiger Parasit in ihr Bewusstsein und hakte sich dort fest, er würde nicht loslassen, bevor er seine Antworten bekommen hatte.
„Geht es dir immer noch nur darum?“, fauchte sie. „Siehst du nicht, was du damit anrichtest? Menschen sterben! Deinetwegen!“
Um seine Augen herum zuckte es, aber sein Blick blieb hart. „Du hast es also nicht?“
Kimberly schnaubte, stieß sich von der Reling ab und rannte über das Deck zu ihrer Kajüte. „Nein!“, schrie sie ihm noch zu und schlug die Holztür so fest hinter sich zu, dass die dünnen Wände erzitterten. Die Kanten des Buches drückten durch den Stoff gegen ihren Oberschenkel, als sich auf ihre Hängematte warf. Es fühlte sich härter an, als es sein sollte, schon beinahe … wie Metall.
Sie warf einen prüfenden Blick auf die Tür und lauschte, aber an Deck blieb es ruhig, Captain Barron folgte ihr nicht. Vorsichtig holte sie das Buch hervor, strich über die geknickten Lederkanten und pustete den Sand, der sich in ihren Hosentaschen befunden hatte, aus den Seiten.
In das Leder war ein Symbol eingebrannt, das trotz des Alters des Buches noch gut zu erkennen war. Ein Pentagramm, um das sich eine Schlange wand Kimberly strich mit den Fingern darüber und atmete tief durch. Sie kannte dieses Zeichen, kannte es sogar gut.
„Das gibt’s doch nicht“, murmelte sie. Sie erinnerte sich, es auf der Insel im Fels gesehen zu haben, aber erst jetzt erkannte sie es wirklich, und sie begriff, dass sie es schon sehr, sehr lange kannte. Behutsam versteckte sie das Buch unter einer alten Bluse, die sie bei einem Raubzug erbeutet hatte, und schlich zurück an Deck, hoffend, dass Barron nicht mehr dort war. Die Sonne schien noch immer warm auf ihr Gesicht und ließ ihre Augen aufleuchten. Wie anders alles war, wenn Sonnenlicht die Welt erhellte.
„Frankie?“ Ihre Stimme hallte über Deck, aber jetzt war es ihr egal, ob Barron sie hörte oder nicht. Sie musste einfach etwas herausfinden.
„Was ist denn, mein Lieblings-Piratenmädchen?“ Frankie kam hinter dem Hauptmast hervor, den Putzlappen noch immer in der Hand. „Hast du etwas auf dem Herzen?“
„Erzählst du mir deine Geschichte?“, bat sie und blickte in seine strahlend blauen Augen, die sie mitfühlend musterten.
„Kennst du die nicht schon auswendig?“, schmunzelte er und schüttelte seine blonden Rasterlocken aus. Die Holzperlen, die darin eingeflochten waren, gaben ein leises, hohles Klimpern von sich.
„Na und?“
Er lachte. „Na schön. Weil du es bist. Komm mit nach oben, in der Sonne liegend erzählt es sich besser.“
Geschickt kletterten die beiden die Takelage herauf, streckten sich auf den groben Seilen aus und schlangen jeweils einen Fuß um eines davon, um nicht zu fallen, falls sie abrutschen sollten. Frankie verschränkte die Arme unter dem Kopf, sah in den blauen Himmel und sammelte seine Gedanken.
„Es war einmal ein namenloser, deutscher Waisenjunge“, begann er und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, wie damals, als sie noch ganz klein war und die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte. Wie viel Zeit war seit damals vergangen, wie oft hatte sie schon hier oben gelegen und seinen Worten gelauscht? Und wie oft hatten sie ihr Trost gespendet?
„An einem grauen, verregneten Tag, an dem er von seinen Eltern auf der Straße ausgesetzt wurde, fand ihn ein alter Mann und nahm ihn mit zu sich, denn er brachte es nicht über sich, ihn dort liegen zu lassen. Er nahm das Baby mit in sein Haus, doch weil seine Familie arm war und bereits zu viele Münder zu stopfen hatte, konnte er es nicht behalten. Er brachte ihn in ein Kloster, in der Hoffnung, die Mönche würden sich um ihn kümmern.
Dem alten Mann fiel es schwer, das Baby fortzugeben, er liebte es schon jetzt wie sein eigenes, doch es waren weder genug Geld noch Platz vorhanden.
Die Mönche nahmen den Jungen auf und gaben ihm den Namen Franziskus, im Andenken an den Namenspatron ihres Klosters. Er sollte ihn für immer daran erinnern, wer er war und wem er sein Leben zu verdanken hatte.
Die ersten Jahre seines Lebens verbrachte er hinter den dunklen Mauern des Klosters, ohne jemals das Licht der Sonne oder die Schönheit des nächtlichen Sternenhimmels zu erblicken.“
An dieser Stelle musste Kimberly immer schmunzeln, sie wusste, dass er hier seine Theatralik spielen ließ.
„Als die Mönche fanden, dass der Junge alt genug war, teilten sie ihm eine Arbeit zu, die er jeden Tag zu verrichten hatte, um sich wie alle anderen sein Essen zu verdienen. In den wenigen Stunden, in denen er nicht beten musste, schleppte er Eimer voll Wasser, um den Garten zu bewässern, schrubbte Böden und wusch das Geschirr. Er lernte schnell, dass es besser für ihn war, sich an die Regeln zu halten, keinen Ärger zu machen und keine Fragen zu stellen. Die Konsequenzen, wenn er sich daneben benahm, hatte er oft genug gespürt, wenn er abends mit blauen Flecken ins Bett ging.“
Frankie legte eine dramatische Pause ein und zwinkerte Kimberly zu.
„Mit zwölf Jahren wagte der kleine Franziskus es das erste Mal in die verbotenen Katakomben hinabzusteigen und die geheimen Kammern zu erforschen. Den Schlüssel dazu hatte er einem alten Mönch gestohlen, als dieser schlief. Er wusste, dass er eine Menge Ärger bekommen würde und mehr als nur ein paar blaue Flecken, wenn er erwischt wurde, aber das war ihm egal. Der Drang, dem trostlosen Alltag zu entfliehen, den Geschmack des Verbotenen zu kosten, war einfach zu groß.
So kam es, dass er einen Raum fand, den er in diesem Kloster niemals vermutet hätte, er war viel heller als alle anderen Zimmer und gleichzeitig lag ein Hauch Finsternis über ihm, als hätte etwas Böses ihn berührt.“
Kimberly spannte unbewusst alle Muskeln in ihrem Körper an. Jetzt kam die Stelle, auf die sie wartete.
„Es kam ihm vor, als sei er mit dem Schritt durch die Tür in eine andere Welt getreten. Boden und Wände des Zimmers waren mit seltsamen Symbolen bedeckt, die strahlten, als glühte hinter ihnen ein weißes Feuer. Eine Ecke seines Verstandes erkannte, dass hier etwas Wichtiges geschah, etwas Großes, Bedeutendes. Aber sein Kinderherz sah einen Moment nichts anderes als den Anhänger, der an einem großen Holzkreuz baumelte. Wie gebannt schlich er näher und vergaß alle Vorsicht. Seine Finger berührten das kalte Metall und strichen das Muster nach. Es war ein fünfzackiger Stern und der Kreis, der ihn umschloss war eine schwarze Schlange, die sich einmal um ihn wand und deren Kopf in der Mitte des Sterns ruhte. Sie wirkte sonderbar lebendig, als würde sie nicht aus Metall, sondern aus etwas anderem bestehen, etwas, das atmete.
Seine Hand schloss sich um die Silberkette, nahm sie vom Kreuz und hängte sie um seinen Hals. In dem Moment, in dem der Anhänger gegen seine nackte Brust schlug, durchzuckte ihn das Bild einer scheußlichen Fratze mit violetten Augen und einem diabolischen Grinsen, das ihre Reißzähne entblößte. Das Wesen streckte die Hand nach ihm aus, zuckte aber zurück, als es den Anhänger sah, fauchte und kreischte, und verschwand wieder.
Franziskus ließ die Katakomben rasch hinter sich, doch den Anhänger behielt er, gut verborgen unter seiner Kutte. Das Metall fühlte sich warm auf seiner Brust an und gab ihm ein Gefühl der Sicherheit, als könnte ihm jetzt niemand mehr etwas anhaben.“
Eine Wolke schob sich vor sie Sonne und warf Schatten auf die beiden Piraten. Franziskus atmete tief durch, sog die klare Luft ein, bevor er weitererzählte. Dabei hatte Kimberly längst die Information, die sie brauchte. Die Schlange, die den Stern umarmte. Daher kannte sie das Symbol.
„Obwohl sein Diebstahl fürs Erste unbemerkt blieb, was ihn zutiefst verwunderte, war das Leben im Kloster kein schönes. Im Gegenteil, es wurde sogar immer schlimmer. Er und die anderen Waisenkinder schmiedeten immer wieder Pläne, um zu fliehen, aber wenn es drauf ankam, kniffen sie und spielten weiter brav das Spiel der Mönche.
Je älter Franziskus wurde, desto härter wurde es. Die Arbeit wurde anstrengender, das Essen weniger und der Schlaf auf gerade so viele Stunden reduziert, dass er sich tagsüber auf den Beinen halten konnte. Es vergingen viele Nächte, in denen er abends erschöpft ins Bett fiel und am nächsten Morgen müder als zuvor erwachte. Es war nicht etwa so, dass er nicht mehr ausbrechen wollte, ihm fehlte einfach die Kraft dazu. Vielleicht gehörte das zum Plan der Mönche.
Die Tage vergingen, zogen sich zu Wochen und Monaten und beraubten Franziskus seiner Kraft, zu rebellieren. Zumindest äußerlich. In seinem Inneren wurde das Feuer der Wut und bitteren Entschlossenheit mit jedem Schlag, den er bekam, nur noch mehr geschürt. Er wusste, dass sein Widerstand niemals bröckeln würde, und er wartete angespannt auf den richtigen Moment der Flucht.
Und er kam.
Eines Tages, wenige Wochen nach seinem vierzehnten Geburtstag, versammelten sich die Mönche in heller Aufregung im Großen Saal. Wichtiger Besuch stand vor der Tür und lenkte die Aufmerksamkeit von den vier Waisenkindern. Sie hatten Aufgaben zugeteilt bekommen für diesen Tag und durften sich nicht blicken lassen, aber Franziskus hatte nicht vor, den Mönchen länger zu gehorchen. In den Katakomben gab es einen Fluchttunnel und die Tür in den Keller war zwar neuerdings zugesperrt – anscheinend war der Diebstahl doch bemerk wurden – aber Franziskus wusste, wo die Schlüssel waren.
Ein Teil von ihm schrie ihm zu, zu bleiben. Er hatte ein Dach über dem Kopf, einen Schlafplatz und etwas zu essen. Wenn er floh, hatte er nichts mehr.
Seine anderen Gedanken sprangen jubelnd in seinem Kopf umher, dachten nur noch an die Freiheit, die er schon auf der Zunge schmecken konnte. Er konnte es nicht fassen, als er den nächtlichen Himmel nach seiner geglückten Flucht tatsächlich über sich sah, aus dem die Sterne zu ihm herabfunkelten.“
Kimberly schloss nun die Augen, um ganz in seine Geschichte abzutauchen. Den letzten Teil kannte sie auswendig, es war immer ihre Lieblingsstelle gewesen, denn nun wurde sie besser, fröhlicher. Ihr Herz raste bei der Erkenntnis, dass sie etwas über den Dämon herausgefunden hatte, auch, wenn es nicht viel war. Sie wusste jetzt, dass das Symbol etwas mit alledem zu tun hatte. Die Frage war nur: waren die Mönche diejenigen, die den Dämon bewachten, oder die, die ihn anbeteten? Kimberly wurde etwas zuversichtlicher, genoss das Prickeln der Sonne auf ihrem Gesicht und ließ sich in die Geschichte fallen.
„So viele Gerüche und Bilder stürzten auf ihn ein, obwohl es Nacht war, dass er wie angewurzelt stehen blieb und sich einige Minuten lang nicht zu rühren vermochte. Als seine Muskeln ihm dann endlich wieder gehorchten, achtete er kaum auf den Weg, so fasziniert war er von Coellen und seinen Gebäuden. In der Ferne konnte er die Baustelle des Doms erspähen und lächelte bei seinem Anblick. Er hatte noch niemals eine Kathedrale gesehen, aber wenn er sich eine hätte vorstellen müssen, hätte sie so ausgesehen – auch wenn diese noch lange nicht fertig war und es auch nicht so aussah, als würde er es jemals sein.
Schon von Weitem hörte er das Rauschen der Wellen, das sanfte Flattern der Segel und das Quietschen des Holzes, das auf dem Wasser sachte hin und her schaukelte.
Der Rheinhafen.
Wenn der Anblick Coellens ihn beeindruckt hatte, so wurde Franziskus von dem Anblick der Schiffe, die vor Anker lagen, überwältigt. Eines stach ihm besonders ins Auge, auch wenn es eigentlich aussah wie alle anderen. Ein Segelschiff – ein großer Dreimaster – dessen Flagge zeigte, dass es ein Handelsschiff war. Manches Mal hatte er heimlich die Bibliothek des Klosters aufgesucht und dort Bücher über Schiffe gefunden. Auf das dunkle Holz war mit weißer Schrift der Name Viva Colonia geschrieben, sodass er auch bei Dunkelheit noch zu erahnen war. Der Junge zögerte nicht länger und schlich sich auf das Schiff, hoffend, dass es ihn weit, weit weg von dem Kloster und seinen Mönchen bringen würde. Er wusste nicht, wo die Mannschaft war, doch es war ihm nur recht, dass das Schiff verlassen erschien. Wahrscheinlich betranken sie sich in einer der Kneipen, warum auch immer.
Franziskus verbarg sich zwischen den Kisten, die unter Deck gelagert waren und hoffte, dass ihn niemand finden und die Fahrt nicht allzu lange dauern würde.
Was seinen ersten Wunsch betraf, so wurde er erfüllt, doch mit seiner Befürchtung lag er richtig. Er wusste nicht, wie viele Tage und Nächte vergangen waren, seit er sich auf die Viva Colonia geschlichen hatte, doch der Hunger machte sich immer lauter bemerkbar und das wenige Regenwasser, das er sich in einer Nacht aus den Segeln gewrungen hatte, half nicht, seinen Durst zu stillen. Und er entdeckte, dass es noch viel grausamere Menschen als die Mönche des Klosters gab und erschreckte zum ersten Mal vor seiner neu gewonnenen Freiheit. So furchtbar es im Kloster auch gewesen war, er war sicher gewesen – so sicher, wie man unter Männern, die Kinder mit Stöcken verprügelten, eben sein konnte.
Der Captain dieses Schiffes war nicht nur unglaublich geldgierig, wie Franziskus bald herausfand, als er die Besatzung belauschte, er war auch selbstsüchtig und brutal zu seiner Mannschaft. Wer sich ihm widersetzte, wurde über Bord geworfen, wer etwas falsch machte, konnte sich glücklich schätzen, wenn er lediglich ausgepeitscht wurde und wer vor Erschöpfung nicht mehr weiter arbeiten konnte, bekam so lange kein Essen, bis er die versäumte Arbeit nachgeholt hatte. Teilweise erinnerte der Captain ihn an die Mönche, andererseits war er aber auch schlimmer und skrupelloser. Die Mönche hatten niemals einen von ihnen zu töten versucht, niemals. Harte Strafen hin oder her, sie waren immer noch Geistliche und hielten sich an die Gebote, die in ihrer Bibel standen – welch seltsame Bibel auch immer das sein mochte.
Franziskus hörte auch, dass der Captain – er kannte seinen Namen bis heute nicht – mehrere Schiffe besaß, mit denen er Textilien und Bierfässer aus dem Heiligen Römischen Reich in die Karibik transportierte.
Karibik…
Franziskus Herz setzte einen Schlag aus, als er diese Neuigkeit erfuhr und machte danach einen freudigen Hüpfer, um etwas schneller als es sollte weiter zu schlagen. Es vergingen noch einige Tage, bis die Viva Colonia schließlich die Segel setzte und auslief, aber jetzt hatte der Junge wenigstens ein Ziel; und Hoffnung. Er wusste nicht, was ihn in der Karibik für ein Leben erwarten würde und wie es mit ihm weiterginge, wenn er erst einmal dort war, aber im Moment siegte die Freude, dem Kloster entkommen zu sein, über die Sorge um seine Zukunft.
Er spürte mit jedem Tag, dass die Luft wärmer und feuchter wurde. Sein leerer Magen gierte nach etwas Nahrhaftem. Wann immer er konnte, stahl er sich etwas zu essen und einen Schluck Wasser, immer in der Gefahr, erwischt zu werden. Als er schließlich, nach einer scheinbar ewigen Fahrt, das Schiff verließ, raubte ihm die Hitze schier den Atem. Es war ihm egal, dass der Captain ihn vielleicht sehen könnte, wenn er die Viva Colonia am helllichten Tage verließ, aber wenn er sich noch länger bei den Fässern und Kisten versteckte, würde er womöglich nicht mehr fliehen können. Denn spätestens, wenn die Besatzung die Ware ausladen musste, würde man ihn entdecken. Daher beeilte sich der junge Franziskus, den Hafen hinter sich zu lassen und eilte mitten hinein in sein neues Leben – wo er direkt in die Arme eines weiteren Seemanns stolperte. Jack Barron, Captain der Holy Devil, war gerade auf dem Weg zurück zu seinem Schiff, als Franziskus ihn im wahrsten Sinne des Wortes umrannte. Bei ihm war ein zehnjähriges, kleines Mädchen, das den Jungen frech anstarrte und ihm die Zunge rausstreckte, als dieser es ansah.
‚Der sieht nicht aus wie einer von uns, Captain‘, sagte sie und musterte ihn, als wäre er etwas zu essen. ‚Zu blass, viel zu blass.‘
‚Du hast Recht, Kim‘, erwiderte der Mann und half dem Jungen auf die Beine. ‚Wo kommst du her, Junge?‘
‚Coellen‘, antwortete Franziskus, noch immer fasziniert von dem schwarzhaarigen Mädchen, das anscheinend auf einem Schiff lebte. Wie toll musste es sein, auf der See aufgewachsen zu sein und all seine Sorgen einfach im Meer versenken zu können?
‚Coellen? Ein bisschen weit weg von zu Hause, findest du nicht?‘
‚Es ist nicht mein zu Hause. Das war es nie…‘
‚Wie bist du hergekommen? Geschwommen?‘ Der Captain lachte und auch das Mädchen verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen.
‚Ich … ich hab mich auf ein Schiff geschlichen, nachdem ich aus dem Kloster ausgebrochen war.‘ Er biss sich auf die Zunge, weil er befürchtete, zu viel gesagt zu haben, aber anscheinend war es genau das Richtige.
‚Ein entflohener blinder Passagier?‘ Der Captain rieb sich den Kinnbart und sah das Mädchen an. ‚Was meinst du? Er hat Potenzial, oder?‘
Die Kleine nickte, zögerte einen Moment und reichte Franziskus dann die Hand. ‚Willkommen an Bord, Kleiner.‘
‚An … was? Was soll das heißen?‘
Der Mann grinste und klopfte ihm auf die Schulter, als er aufgestanden war. ‚Das soll heißen, dass ich dir ein Leben auf meinem Schiff anbiete, wenn du das möchtest. Es wäre allemal besser, als obdachlos durch Jamaica zu irren.‘
Franziskus dachte nicht lange über das Angebot nach, denn der Mann erschien nett und konnte kein schlimmer Captain sein, wenn sich ein Kind an Bord befand, noch dazu wusste er ohnehin nicht, wohin er gehen sollte. Auf dem Schiff anzuheuern bedeutete, etwas zu essen zu haben, und einen eigenen Schlafplatz.
‚Also, wie sieht’s aus, Kleiner?‘
‚Ich bin dabei‘, erwiderte Franziskus, froh, etwas gefunden zu haben, wo er glücklich werden konnte.
Captain Barron führte ihn zur Holy Devil und stellte ihn der Crew vor. Dass es sich um Piraten handelte, hätte er sich denken können, und trotzdem war es im ersten Moment ein Schock für ihn. Ein Abend mit der ganzen Besatzung nahm ihm seine Angst, indem er sie kennenlernte, seine Geschichte erzählte und das Gefühl vermittelt bekam, wirklich willkommen zu sein.
Und seit jenem Tag, an dem er in Frankie umgetauft wurde, hat er nicht ein Mal daran gedacht, ein anderes Leben zu leben.“
Kimberly schwieg, ein leises Lächeln auf dem Gesicht und die Augen noch immer geschlossen. Sie hatte diese Geschichte schon oft gehört und immer noch hinterließ sie ein warmes Gefühl in ihrer Brust.
„Hat es dir geholfen?“, fragte Frankie schließlich und wandte den Kopf zu ihr. Aus seinem Blick sprach Sorge.
„Sie hat mir einmal mehr gezeigt, dass es, wie ausweglos alles auch erscheint, ein glückliches Ende geben kann.“ Kimberly lächelte traurig und kämpfte die Tränen zurück, als Gavins Bild vor ihren Augen aufstieg.
„Willst du darüber reden?“ Frankie lachte leise, als er ihr verblüfftes Gesicht sah, aber es war eine überschattete Fröhlichkeit. „Ja, ich bin ein Mann und ja, ich bin ein Pirat. Und ich kann trotzdem zuhören.“
„Weißt du, was ich mir am wenigsten verzeihen kann?“
„Es war nicht deine Schuld. Es hätte genauso gut dich treffen können, Kim. Und keiner hat damit gerechnet, dass so etwas passiert. Captain Barron dachte, ihr wärt sicher. Sonst hätte er euch doch niemals geschickt.“
Sie schnaubte. „Ach, wirklich? Da habe ich ganz andere Dinge gehört.“
„Wie meinst du das?“
„Vergiss es.“ Sie zuckte mit den Achseln und sah stur nach unten, sie wollte nicht an Albert denken und an das, was er gesagt hatte.
„Kopf hoch, Kim.“ Er hob ihr Kinn mit seinen rauen Fingern an und grinste wieder. „Du kannst kein Schiff segeln, wenn du auf die Planken starrst.“
„Wie … was?“ Sie war viel zu überrascht, um einen klaren Satz zu formulieren, ihre Gedanken rasten. War das ein Trick?
„Captain Barron will, dass du das Steuer übernimmst. Nur kurz, aber immerhin.“ Seine blauen Augen blitzten vor Neid und gleichzeitig Stolz, denn es war ein Privileg, dass der Captain jemand anderen als seinen Steuermann Finn ans Steuerrad ließ. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er es bisher jemandem erlaubt hatte.
„Warum macht er das?“, fragte sie dennoch. „Wo ist der Haken?“
Frankie lachte. „Meine Liebe, du bist zu misstrauisch. Es gibt keinen. Der Captain will dich einfach aufmuntern und ablenken. Vielleicht hat er auch ein schlechtes Gewissen.“
„Aufmuntern? Seit wann interessiert er sich für mich?“
„Meine Güte, Kim. Genieß es doch einfach. Die Gelegenheit bekommst du nie wieder. Kein anderer würde eine Frau ein Schiff steuern lassen!“
„Genau deshalb frage ich ja. Es bringt Unglück, eine Frau ans Steuer zu lassen. Also was soll das?“
„Vielleicht denkt dein Onkel einfach, dass du Manns genug bist? Los jetzt“, gab Frankie zurück und schüttelte seine Rasterlocken aus. Der kleine goldene Ohrring in seinem linken Ohr blitzte im Sonnenlicht auf und strahlte mit seinem Grinsen um die Wette.
Kimberly nickte zögerlich und schaute in die untergehende Sonne, die sich in einen glutroten Feuerball verwandelte, der langsam im Meer versank. Es müsste zischen und dampfen, aber nichts dergleichen geschah – natürlich nicht.