Читать книгу Wenn dein dunkles Herz mich ruft - Mary C Brooks - Страница 9

Tyler

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Es war einmalig gewesen, die Macht über etwas so Großes wie ein Schiff in den Händen zu halten, aber es war auch beklemmend gewesen und hatte Kimberly die Verantwortung spüren lassen, die dabei auf ihren Schultern lastete. Verantwortung für die Unversehrtheit eines Schiffes und für eine Crew, die sich auf sie verließ. Es wäre noch aufregender gewesen, wenn Finn bei ihrem Anblick nicht verächtlich geschnaubt hätte.

Kimberly schüttelte die Erinnerung ab und atmete den Geruch des Dschungels ein, rümpfte die Nase bei den vielen verschiedenen Gerüchen. Vor wenigen Stunden war die Holy Devil auf der Rückseite von Puerto Rico vor Anker gegangen, um noch einmal die Vorräte aufzufüllen. Captain Barron kannte den Dschungel, er wusste, wo die Quelle war und welche Tiere man dort jagen konnte.

Kimberly ging in die andere Richtung, weg von den jagenden Männern und schlug sich mit ihrem Säbel einen Weg durch das Dickicht. Die Jagd interessierte sie nicht und sie brauchte etwas Abstand. Ein wenig Zeit, um in Ruhe nachzudenken. Manchmal konnte sie frei gehen, manchmal war der Dschungel so dicht, dass sie nicht einmal mit ihrer Klinge weiterkam. Überall um sie herum zirpte, knackte, raschelte, brummte und summte es. Vereinzelt glaubte sie, Schreie zu hören, die aber alles andere als menschlich klangen. Sie schluckte schwer und versuchte das Gefühl der Beklemmung zu ignorieren, dass sich in ihrer Brust breit machte. Sie fühlte sich unwohl, hier war es zu dicht, zu eng, es gab zu wenig Luft zum Atmen. Es war so schwül, dass es sich anfühlte, als wehrte die Luft sich gegen sie, als wollte sie verhindern, dass sie weiterkam. Der Trinkbeutel an ihrem Gürtel war schon halb leer und sie schob den Gedanken beiseite, dass sie den Rückweg nicht mehr finden würde.

Und dann erregte ein neues Geräusch ihre Aufmerksamkeit. Stimmen.

Fluchend duckte sie sich hinter einen breiten Baumstamm, ihre Finger schlossen sich automatisch um den Griff ihres Säbels. Schwere, bestiefelte Schritte näherten sich, trockene Pflanzen wurden platt gedrückt und knackten unter ihren Füßen.

Kimberly hielt den Atem an, machte sich so klein wie möglich, aber sie hatte das Gefühl, dass ihr Herz viel zu schnell und laut schlug.

Sie fühlte sich zwischen den Bäumen nicht wohl, es gab zu viele unbekannte Geräusche, zu viele Gefahren, die sie nicht sehen konnte. Ihr Herz sehnte sich nach dem Wasser, aber zuerst musste sie es heil hier heraus schaffen und den Besitzern der Stimmen entkommen.

Juan, ¡alto! ¿Has oído algo?“

Die beiden Männer – sie hoffte, dass es nicht mehr als zwei waren – blieben stehen und schwiegen einen Moment. Lauschten sie?

¿Qué? No.“

Kimberly unterdrückte den Impuls, noch tiefer in das Dickicht zu kriechen. Spanier. Etwas Schlimmeres hätte ihr nicht passieren können. Wenn es patrouillierende Soldaten waren – und dessen war sie sich sicher – konnte sie nicht gegen sie kämpfen, sie hätte keine Chance.

Quizas… Pueden ser piratas, ¿no?”

¿Piratas? ¿Aquí?“ Der Soldat stieß ein kehliges, raues Lachen aus. „Serían loco, ¿no?”

Vale.”

Schritte und Stimmen entfernten sich wieder, liefen in die andere Richtung und wurden vom Dschungel verschluckt.

Kimberly stieß leise die angehaltene Luft aus, richtete sich auf und lauschte noch einmal, aber das heisere Lachen war verklungen und sie hörte nur noch die Geräusche der Insekten und in der Ferne noch immer die tierischen Schreie. Vorsichtig schlich sie weiter, zuckte bei jedem Knacken im Dickicht zusammen, und ihre Finger waren so sehr um den Griff des Säbels verkrampft, dass ihre Knöchel weiß wurden. Schweiß tropfte ihr von den Wimpern in die Augen, strömte über ihren Rücken und ließ ihre Bluse an ihr kleben. Der helle Stoff war mittlerweile so feucht, dass sich die Konturen ihres zierlichen Körpers deutlich darunter abzeichneten. Mit einer knappen Handbewegung wischte sie sich ihre schweißnassen Locken aus dem Gesicht und verschränkte einen Arm kurz vor ihrer Brust, ließ ihn dann aber wieder hängen. Wem sollte sie hier schon begegnen?

In der Nähe knackte es auf einmal und Kimberly duckte sich, den Säbel angriffsbereit vor sich erhoben. Doch es war nichts zu sehen. Vermutlich nur ein Tier, das …

Hinter einem der mit Schlingpflanzen bewachsenen Bäume schnellten Hände hervor, die sie packten, sich auf ihren Mund legten, um ihren Schrei zu ersticken und um ihre Hüfte, um sie in das sandige, schwüle, grüne Dämmerlicht zu ziehen. Der Geruch von Erde und Männerschweiß stieg ihr in die Nase und … von etwas anderem. Etwas Angenehmen, Süßem, nach Kokosnuss und Palmen und Strand.

Kimberly wollte sich aus dem Griff winden, aber der Mann hielt sie eisern fest, zog sie noch tiefer in die Schatten, tiefer ins Dickicht unter ein Gestrüpp mit langen, wächsernen Blättern. Sie spürte seine stahlharten Bauchmuskeln an ihrem Rücken und die Hitze, die von ihm ausging. Er flüsterte etwas, das sie nicht verstand. „Still“, zischte er noch einmal, so nah an ihrem Ohr, dass sie seinen warmen Atem spürte. Ihre Nackenhaare stellten sich vibrierend auf, aber sie bewegte sich nicht mehr und lauschte stattdessen nach den Geräuschen außerhalb ihres kleinen Verstecks.

Schritte näherten sich, Äste knackten erneut. Zwei Soldaten liefen an ihnen vorbei, ohne sie zu sehen und verschwanden wieder aus ihrem Sichtfeld und schlugen sich mit ihren Macheten einen Weg durch das Dickicht. Verdammte Spanier.

Der Fremde ließ sie langsam los und krabbelte einige Schritte zurück, verbarg sich weiterhin in den Schatten. Kimberly schob sich aus dem Versteck, zu viele Blätter und Zweige kitzelten und kratzten ihre Haut, zu viele Insekten zirpten direkt an ihrem Ohr.

Ihre Hand hob den Säbel, als sie hörte, wie auch der Fremde aus dem Gewächs kroch, und sie drehte sich zu ihm um. Vor sich sah sie einen trainierten, nackten Oberkörper, an dem Schweiß und Erde klebten, die Hose war rissig und verdreckt und seine bloßen Füße mit Kratzern übersät. Die Haut unter all dem Schmutz, die sich über wohlgeformte Muskeln spannte, hatte einen warmen Ton, wie Honig und Karamell. Ihr Blick wanderte nach oben zu seinem Gesicht, das erstaunlich jung wirkte. Er war vielleicht 22 oder 23, nicht viel älter als sie selbst. Die braunen, sich kräuselnden Haare waren zu ihrer Verwunderung kurz geschnitten, ganz denen der Einheimischen angepasst und vollkommen anders als die der Piraten. Ein stoppeliger Dreitagebart bedeckte seine untere Gesichtshälfte und ließ die roten Lippen noch voller wirken. Die gleiche straffe, honigfarbene Haut spannte sich über hohe Wangenknochen und ein markantes Kinn. Ja, er war jung. Aber nicht kindlich, schon lange nicht mehr.

Das Faszinierendste aber waren seine Augen. Er trat einen Schritt näher, in einen Sonnenstrahl, der zwischen den Baumkronen hindurch fiel, und das Licht ließ sie golden leuchten. Es war ein warmes, freundliches Bernstein, eine Augenfarbe, die sie noch nie zuvor gesehen hatte und von deren Anblick sie sich nicht loszureißen vermochte. Und diese Augen musterten sie ebenso unverfroren wie sie ihren Besitzer. Kimberly wurde sich ihrer durchsichtigen Bluse bewusst und verschränkte die Arme über der Brust. Die Beule in seiner Hose verriet, dass er bereits vorher einen guten Blick hatte erhaschen können, und auf seinem Gesicht erschien ein düsteres, schiefes Grinsen, als hätte er seine Lippen schon lange nicht mehr zum Lächeln benutzt.

„Danke“, murmelte Kimberly und wandte sich ab, aber etwas hielt sie davon ab, zu gehen. Wer war er? Hatte er sie gerettet oder war er auch hinter ihr her?

„Ich heiße Tyler“, sagte er mit einer überraschend dunklen Stimme, die aber ebenso warm war wie seine Augen, warm und weich wie in Honig getränkt. Und gleichzeitig war sie ein wenig kratzig und unbeholfen, als hätte er sie schon länger nicht mehr benutzt. „Und du?“

„Wieso hast du mich gerettet?“

„Weil ich weiß, was sie mit solchen wie dir machen, wenn sie sie erwischen.“ Auf ihren fragenden Blick hin fügte er hinzu: „Du bist Britin. Wie bist du hierhergekommen? Was machst du hier?“

„Das geht dich genauso wenig an wie mein Name“, gab sie zurück und unterdrückte den Impuls, wegzulaufen. Sie fühlte sich hin und hergerissen zwischen Flucht und Bleiben, ihrem Instinkt und ihrer Neugierde. Irgendetwas war mit diesem Mann, das anders war. Sie wusste nur nicht zu sagen, was es war.

„Ich denke schon. Ich habe meine Freiheit aufs Spiel gesetzt. Sie hätten mich mit dir zusammen sehen können. Eine Diebin? Eine Mörderin? Was bist du?“

„Freibeuterin“, gab sie wütend zurück und lächelte innerlich, als er zusammen zuckte.

„Wohl eher eine Lügnerin. Du siehst nicht aus wie ein Piratenmädchen. Und kein Pirat ist so blöd am helllichten Tag hierher zu kommen. Es wimmelt vor Spaniern, wie du gerade gesehen hast. Die ganze verdammte Insel stinkt nach ihnen.“ Ein dunkler Schatten huschte über sein Gesicht, ließ alte Wunden erkennen, die vergangen, aber nicht vergessen waren.

Kimberly runzelte die Stirn und presste die Lippen zusammen. Ihre Finger krampften sich um den Griff des Säbels. Etwas an ihm war falsch. Umso mehr überraschten sie ihre nächsten Worte.

„Wenn ich dir mein Schiff zeige, musst du mir wohl glauben.“

Er legte den Kopf schief und musterte sie. Seine Augen waren unruhig, huschten umher wie ein Tier, das sich gefangen und bedroht fühlte; sie wirkten wild, wie der Rest an ihm auch. Ein starkes, wildes Tier. „Das muss ich dann wohl. Aber wo könntest du ein Schiff so gut verstecken, dass die Spanier es nicht sehen?“

Kimberly wollte noch etwas sagen, aber Tyler griff wieder nach ihrem Handgelenk, und zog sie zurück ins Dickicht. Etwas Spitzes drückte sich in ihre Haut und riss ihre Hände auf. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, aber der Mann legte ihr rasch eine Hand auf den Mund und deutete dorthin, wo eben die Wachleute entlang gelaufen waren. Wütende Stimmen und hastige, schwere Schritte näherten sich erneut.

Er hatte sie also schon wieder gerettet.

Seine Hand verweilte noch einen Moment auf ihren Lippen und sie hatte Mühe, normal zu atmen. Seine Finger waren warm, die Haut rau und rissig, und wieder stieg ihr der Geruch nach Erde und Kokosnuss in die Nase, viel intensiver dieses Mal. Sie atmete so flach wie möglich, denn der Geruch machte sie schwindelig. Sie duckte sich tief hinter die Zweige und trotzdem raste ihr Herz, als könnte sie jeden Moment entdeckt werden. Zumindest redete sie sich ein, dass es wegen den Soldaten so schnell schlug und nicht wegen dem Mann, der sie noch immer festhielt. Der sie in kurzer Zeit zweimal gerettet hatte und der trotz seiner Wildheit einfach unverschämt gut aussah. Oder gerade deswegen. Seine Berührung brannte auf ihrer Haut und schickte ein prickelndes Kribbeln durch ihren Körper. Wenn sie sich getraut hätte, sich zu bewegen, hätte Kimberly sich seinem Griff entzogen.

Da war noch etwas. Eine unterschwellige Bedrohung, die sie fühlen konnte, die nicht von den Spaniern ausging. Und obwohl Tyler nicht so wirkte, so schien es doch, als würde dieser Hauch des Bösen von ihm ausgehen.

Kimberly schüttelte den Kopf und presste die Hände an den Kopf. „Ich denke zu viel darüber nach“, wisperte sie. „Der Stein macht mich verrückt.“

Tyler warf ihr einen schrägen Blick zu, hob abwehrend die Hände und schüttelte leicht den Kopf. Sei leise, sagten seine Bernsteinaugen, die ihr das Gefühl gaben, darin zu ertrinken.

Ihre Brust verknotete sich, das Böse war so nah, dass sie glaubte, seinen kalten Atem im Nacken zu spüren und wenn sie die Augen schloss, sah sie die Fratze eines Dämons vor sich. Sie zitterte.

In dem Moment, in dem Tyler erneut eine Hand auf ihren Arm legte, um sie zu beruhigen, wurde alles schwarz um sie herum und sie fiel in ein tiefes, tiefes Loch…

Seine Hand hielt ihren Kopf fest, als sie stumm zusammensackte, und bettete ihn dann behutsam auf dem weichen Boden. Sie zitterte und ihre Augenlider zuckten unruhig, als hätte sie einen Alptraum. Kleine Schweißperlen hatten sich in ihren dichten, schwarzen Wimpern verfangen und ihre dunklen Locken umrahmten ihr zierliches, blasses Gesicht. Für einen Moment huschte sein Blick über ihren schlanken Körper, ihre durchtrainierten Beine, die in Wollhosen steckten, den flachen Bauch, den er durch die feuchte Bluse sehen konnte, ihre wohlgeformten Brüste… Er wandte sich ab, richtete den Blick stattdessen in den immergrünen Dschungel und versuchte seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Das war nicht der richtige Zeitpunkt. Sein Blick blieb auf einer Stelle im grünen Zwielicht hängen und er blinzelte, als hätte er sich versehen. Nein, es war noch immer dort. Zwei Augen glommen im Dickicht auf, Augen, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie rot wie Blut oder schwärzer als die tiefste Nacht sein wollten und schließlich in einem unheilvollen Violett aufleuchteten.

Eine Stimme, verzerrt wie ein Echo, hallte durch den Dschungel und hämmerte in seinen Kopf. „Jeder, der sich mir in den Weg stellt, wird dafür bezahlen.“

Die Erscheinung verschwand und zurück blieb nur ein seltsames Gefühl in Tylers Brust. Er blieb kauernd sitzen und lauschte auf Schritte, auf echte, reale Schritte, die nicht seiner Fantasie entsprangen. Noch ein paar Wochen länger und er würde auf dieser verdammten Insel endgültig den Verstand verlieren. Er wartete ungeduldig, bis die Männer wieder verschwunden waren, dieses Mal für mehrere Minuten. Er wusste, wann sie wo patrouillierten. Vorsichtig hob er die junge Frau hoch, die schwerer war, als er gedacht hätte, und sah sich unschlüssig um. Ein Teil von ihm schrie danach, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und sie zu bringen, ein Teil, der ihm bisher oft das Leben gerettet hatte. Doch brachte er es nicht über sich, sie einfach hier liegen zu lassen. Aber vielleicht redete er sich das auch nur ein. Vielleicht drängte ihn sein Herz dazu, das endlich Freiheit geschnuppert hatte. Sie war Britin. Und sie hatte ein Schiff. Eine bessere Möglichkeit, diese verdammte Insel zu verlassen, würde er nicht mehr bekommen.

Er musste ihre Crew finden, bevor sie vielleicht ohne sie ablegten oder bevor die Spanier zurück kamen und sie fanden. Und töteten. Für sie war nur ein toter Brite ein guter Brite und solange der Krieg tobte, würde sich das auch nicht ändern. Er hoffte, dass ihre Crew noch hier war und sie nicht zum Sterben ausgesetzte hatte. Wer wusste schon, was sie vielleicht verbrochen hatte? Er warf noch einen Blick in ihr schmales Gesicht und lachte spöttisch. Wie eine Mörderin sah sie nun wirklich nicht aus.

Im Dickicht entdeckte er eine geschlagene Schneise, die anders war, als er sie kannte. Die Spanier hinterließen andere Wunden im Dschungel, diese hier waren zaghaft geschlagen worden, als hätte jemand gefürchtet, die Natur könnte zurückschlagen. Wenn hier nicht noch jemand herumlief, mussten sie von der jungen Frau stammen, dachte er sich.

Tyler entdeckte den Trinkbeutel an ihrem Gürtel, griff danach und schraubte ihn auf. Solange sie bewusstlos war, würde sie kein Wasser brauchen, und wenn er Glück hatte, fand er das Schiff bevor sie wieder aufwachte. Er wusste noch nicht, wie er den Kapitän überzeugen sollte, ihn mitzunehmen, aber etwas würde ihm schon einfallen. Sein Blick fiel auf ihren Säbel.

Oh ja, ihm würde etwas einfallen.

Er folgte ihren Spuren tiefer in den Dschungel, Richtung Küste, dorthin, wo keine Menschen lebten, weil der Urwald zu stark war und noch die Kraft hatte, sich zu wehren. Schreie erfüllten die Luft, schrill und lang, und es klang anders, als Tyler es gewohnt war. Ein Tier war in Todesangst und wenn er Glück hatte, bedeutete das, dass die Piraten in der Nähe waren.

Piraten. Er schluckte schwer. Hoffentlich verriet ihn sein sehnsüchtiges Herz nicht an ein Haufen Monster, die nicht besser waren als die Spanier – und hier konnte er sich immerhin vor ihnen verstecken, im offenen Meer nicht.

Eine Zeitlang folgte er den Spuren, ohne den Schreien näher zu kommen, doch irgendwann nahm er noch etwas anderes außer den panischen, schrillen Tierrufen wahr: Lachen. Die Geräusche wurden lauter, er hörte Stimmen, die rauer waren als die der Spanier, härter und vom Salzwasser zerfressen. Es war ihm egal, er konnte sich nicht erlauben, wählerisch zu sein, nicht, wenn er endlich weg wollte, wenn er dieser grünen Hölle entkommen wollte. Tyler ahnte, wo die Piraten waren. Wenn sie jagen wollten – und ganz danach hörten sich die panischen Tierschreie an – gab es nur einen Ort, der dafür geeignet war: die Quelle. Er lief schneller, stolperte mit seinen nackten Füßen über den unebenen Boden und biss die Zähne zusammen, wenn sich etwas Spitzes in seine Zehen bohrte. Er war den Untergrund gewohnt, aber normalerweise rannte er auch nicht blind drauflos.

Die Spanier mussten sie doch hören, warum waren sie nicht vorsichtiger? Dumme, naive Piraten. Sie konnten von Glück reden, wenn sie diesen Tag überlebten. Wenn er die Frau nicht festhalten müsste, hätte er jetzt die Hände zu Fäusten geballt und laut geflucht, stattdessen stieß er einfach nur wüste Beschimpfungen hervor.

Er stolperte aus dem Dickicht heraus auf die Lichtung, erstarrte, als er die Männer sah und fiel über eine Wurzel. Instinktiv warf Tyler sich herum und prallte mit dem Rücken auf den bedeckten Boden, die Luft wich mit einem Zischen aus seinen Lungen, als er das Gewicht der Piratenfrau auf sich spürte.

„Was zum –!“, polterte einer von ihnen, ein hünenhafter Mann mit einer Narbe im Gesicht, und richtete seine Waffe auf Tyler während er langsam näher kam. „Was machst du mit dem Mädchen? Lass sie sofort los!“

Mädchen. So konnte man sie wahrlich nicht mehr nennen. „Ich…“, ächzte Tyler und schob sie von seiner Brust, um sich aufsetzen zu können. Sie stöhnte leise und ihre Augenlider zuckten heftig, als er sie berührte.

„Das Mädchen ist Teil meiner Crew, also entweder lässt du dir schnell eine gute Ausrede einfallen oder bist verschwunden, bevor du in Reichweite meiner Waffe kommst“, drohte der Narbige. Seine wasserblauen Augen wirkten zornig, doch Tyler sah darin noch etwas anderes. Etwas, das ihn vielleicht retten konnte. Neugierde.

„Ich habe sie gerettet“, erwiderte er mit kräftiger Stimme. „Vor den Spaniern.“

Der Narbige hielt inne. „Soso, gerettet hast du sie also? Und wer sagt mir, dass du keiner von denen bist, um uns auszuspionieren? Seltsam genug siehst du ja aus.“

Tyler schnaubte verächtlich und richtete sich auf. „Ich bin Brite, genau wie Ihr. Und ich hasse die Spanier, wahrscheinlich noch mehr als ihr.“

„Na sieh einer an. Ein kleiner Rebell“, höhnte ein Anderer, Kleinerer und trat mit gezogener Waffe auf ihn zu. Er war ein hässlicher kleiner Mensch, mit verfilztem Bart, Pockennarben im Gesicht und bunten Strähnen in den Haaren. Seine dreckigen, schlammbraunen Augen wirkten verschlagen und niederträchtig und seine dünnen Lippen kräuselten sich in einem angriffslustigen Grinsen. Der Kleine schien Tylers Blick zu bemerken und bleckte die Zähne. Ein schwarzer, verfaulter Zahnstumpf nach dem anderen. „Na, gefällt dir mein Haar? Hab ich selbst gemacht. Jeder, den ich umgebracht habe, hat sich mit einer Strähne hier drin verewigt. Schade, dass du deine Haare so verschandelt hast, sie würden sich gut auf meinem Kopf machen.“

„Das würde dich auch nicht hübscher machen“, gab Tyler zurück.

Der Kleine verengte die Augen und kam näher, das Entermesser in der schmutzigen Hand. Selbst von ihr konnte er seine abgerissenen, dunklen Fingernägel sehen. „Du dreckige, kleine Landratte, ich schneid dir den Kopf hab, ich –“

„Parley!“, rief Tyler und sah, wie der Pirat mitten im Schritt inne hielt und sich zu dem Narbigen umdrehte. „Ich habe ein Recht auf Parley.“

Dieser zog eine Augenbraue in die Höhe. „Du sprichst bereits mit dem Captain.“ Er überlegte einen Moment, dann nickte er dem Kleineren zu, der daraufhin seine Waffe sinken ließ und zurück trat. Seine Augen blitzten noch immer und er fuhr sich mit dem Messer über die Kehle.

„Du sagst also, du hast sie gerettet? Und du erwartest wahrscheinlich eine Belohnung, nicht wahr?“ Der Narbige, der behauptete, der Captain zu sein, strich sich über seinen kurzen Bart.

Tyler straffte sich. „In der Tat. Ich will einen Platz an Bord Eures Schiffes. Lebend“, fügte er mit Blick auf den kleineren Piraten hinzu, der finster zurückstarrte.

Der Narbige lachte schallend und warf einen Blick zurück zu seinen Männern, die ebenfalls kopfschüttelnd grinsten. „Kleiner, wir sind Piraten, falls du es noch nicht bemerkt hast. Du willst nicht auf unser Schiff.“

Tyler trat ihm einen Schritt entgegen, die goldenen Augen zusammengekniffen. „Ihr habt keine Ahnung, was ich schon alles durchgemacht habe. Ihr wisst nicht, wie ich hier gelandet bin. Ich habe keine Angst vor Piraten.“

Der Narbige legte den Kopf zur Seite und musterte ihn nachdenklich. Sein Blick schweifte einen Augenblick zu der Frau, dann nickte er. „In Ordnung. Du kannst mitkommen. Wir können ein paar neue, spannende Geschichten gut gebrauchen. Oliver, nimm Kimberly mit.“

Tyler trat instinktiv vor sie und schüttelte den Kopf. „Das mache ich.“

„Ah?“

„Sonst habe ich keine Sicherheit, dass Ihr Euer Wort haltet. Ihr seid schließlich Piraten.“

Der Narbige nickte und für einen kurzen Moment glaubte Tyler, ein anerkennendes Grinsen in seinen Augen zu sehen. „Aye. Zurück zur Devil.“

Wenn dein dunkles Herz mich ruft

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