Читать книгу Wenn dein dunkles Herz mich ruft - Mary C Brooks - Страница 7

Marionetten-Männer

Оглавление

Der kleine Raum war dunkel eingerichtet, von der Decke hingen tote Tiere, Petroleumlampen und bunte Tücher. An den Wänden waren Malereien in einer Farbe, die aussah wie getrocknetes Blut. Vielleicht war es sogar Blut. Ein muffig-süßer Geruch hing in der Luft, als würden einige der Tiere noch immer verwesen, darüber lag der Gestank von billigem Tabak und anderen verbrannten Substanzen. Die Luft war dick und brannte in der Kehle.

Kimberly sah sich auf den Tischen um, die den Raum verstellten, und vollgestellt mit allem möglichen Krempel waren. Krüge, Tücher, Schmuck, Kräutersäckchen, Kerzen, Spiegel. Bloß keine Bücher.

„Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?“, flüsterte Kimberly und warf einen Blick in einen kleinen Spiegel mit goldenem Rahmen. Eine müde junge Frau blickte ihr entgegen und sie sah hastig wieder weg.

„Ja, ganz sicher“, entgegnete Gavin und stupste einen tiefhängenden, ausgestopften Vogel an, der ihm im Weg hing.

„Es sieht aber nicht so aus, als ob wir hier ein kostbares Buch finden würden. Als ob wir hier überhaupt ein Buch finden würden.“

„Es muss hier sein. Wenn es nicht hier ist, existiert es nicht mehr.“

„Vielleicht gab es nie eins. Vielleicht ist dieser Auftrag völlig sinnlos. Und wo ist hier überhaupt die Besitzerin?“

„Doch, es gibt eins. Ganz sicher. Und es ist hier. Es muss hier sein.“

„Hallo?“, rief Kimberly. „Ist hier jemand?“

In einer Ecke raschelte und klimperte ein Perlenvorhang aus bunten Glaskugeln und eine ältere, grimmig dreinblickende Frau kam zu ihnen. „Ja?“, brummte sie. Die grauen Haare waren hochgesteckt und in ihrem Mundwinkel hing eine Zigarre.

„Wir suchen ein Buch.“

Die Frau lachte ein trockenes Lachen, das rasch in einen heftigen Hustenanfall überging. „Ein Buch? Was wollen kleene Kinder wie ihr mit ‘nem Buch? Ihr könnt bestimmt nich‘ einmal lesen.“

„Und Sie, können Sie lesen?“

Die Frau entblößte ein schwarzes Gebiss, als sie breit grinste. „Natürlich. Wie sollte ich sonst meine Zaubersprüche aufsagen, um kleene Kröten wie euch zu verhexen?“

„Wir suchen ein Buch über Steine“, entgegnete Kimberly ungerührt und tastete nach dem Säbel an ihrer Hüfte.

„Wer interessiert sich schon für Steine?“ Sie lachte rau. Es klang nach zu viel Rauch. „Alles nur nutzlose, dreckige Dinger. Kann man sich nichts von kaufen.“

Kimberlys Lächeln wurde eine Spur verschlagener, einen Hauch weniger lieblich. „Und was ist mit dem Stein von Anór? Ich habe gehört, der soll kein nutzloses, dreckiges Ding sein. Er sieht sogar recht schön aus. Haben Sie denn ein Buch über ihn?“

Die Frau zuckte zusammen, räusperte sich dann und paffte weiter an ihrer Zigarre. „Dummes Kind. Das is‘ ‘ne Legende. Darüber gibt’s keene Bücher.“

„Sind Sie die Besitzerin hier?“

Wieder das raue, röchelnde Lachen, das mehr einem Husten glich. „Seh‘ ich so aus? Nein, nein, Albert is‘ nich‘ hier.“

In dem Moment hörte man weiter hinten im Laden ein Rumpeln, hinter dem Vorhang, vor dem die Frau stand.

„Rattenprobleme?“, fragte Kimberly und blinzelte unschuldig.

„Bestimmt nich‘. Hier gibt’s keene Ratten, nich‘ bei uns.“

„Dann wird es wohl dieser Albert sein. Darf ich?“ Sie wollte sich an der Frau vorbeiquetschen, aber die stellte sich ihr in den Weg. Körperhitze und Schweißgeruch schlugen Kimberly entgegen.

„Vergiss es, Kleene.“

Kimberly verdrehte die Augen. „Jetzt reicht’s aber.“ Klirrend erschien der Säbel in ihrer Hand und richtete sich auf die Kehle der alten Frau. „Darf ich jetzt? Bitte?“

Die Frau kniff die Augen zusammen, murrte etwas vor sich hin und gab dann den Weg frei. Kimberly drängte an ihr vorbei und steuerte auf die kleine, schief eingehängte Tür im Flur hinter dem Perlenvorhang zu. Quietschend schwang sie auf, als sie mit dem Fuß gegen das splitternde Holz trat.

Albert war ein stämmiger, bärtiger Kerl, der gerade einen Schluck Bier trank, als die beiden Piraten den Raum beraten. Verblüfft riss er die Augen auf, verschluckte sich und spuckte die Flüssigkeit zurück in den Krug. Kimberly verzog das Gesicht. Es stank im ganzen Zimmer nach schalem Bier und Qualm.

„Kimberly!“, rief er erstaunt aus, als er wieder sprechen konnte, und wischte sich mit einem fleckigen Tuch über den Mund.

Sie zog eine Augenbraue in die Höhe und sah aus dem Augenwinkel, wie Gavin ihr einen überraschten Blick zuwarf. Er kannte den Mann auch nicht. „Sollte ich Sie kennen?“

„Meine Güte, Kimberly. Wie groß du geworden bist. Und wie hübsch. Du bist deiner Mutter wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten. Wie lange ist das jetzt her? Ich habe ich dich schon gekannt, als du noch ein kleines, schreiendes Baby warst. Als deine Eltern …“

„Sie meinen, als sie noch lebten?“, unterbrach sie ihn kühl. „Als mein Vater noch nicht mit einer Kugel in der Brust begraben worden und meine Mutter noch nicht zu einem Haufen Asche zerfallen war? Wer sind Sie, dass Sie es wagen, von ihnen zu sprechen?“

Gavin kam einen Schritt näher und hob die Hand, um sie zu berühren, zu beruhigen, ließ es dann aber doch bleiben.

„Mein Name ist Albert. Und eigentlich habe ich gedacht, du wüsstest das. Hat Barron dir das erzählt? Das mit deinen Eltern?“ Er lachte kopfschüttelnd. „Dein Vater erschossen und deine Mutter verbrannt? Nein, Schätzchen. Das ist bestimmt nicht passiert. Barron war schon immer ein guter Lügner. Hach ja, der gute alte Jack…“

„Sie kennen Captain Barron?“, fragte Gavin.

„Natürlich, schließlich ist er …“ Albert hielt inne und biss sich auf die Lippe.

„Was ist er?“

Albert zögerte einen winzigen Moment zu lange und spuckte die Antwort dann viel zu hastig hervor. „Er ist der beste Pirat aller Zeiten. Jeder hat von ihm gehört.“

Kimberly trat noch einen Schritt näher, stieß beinahe mit der Hüfte gegen den Tisch, hinter dem Albert stand und der ihn von ihr trennte. Ihre Hand ruhte auf dem Griff ihres Säbels. „Sie lügen.“

„Ist er das etwa nicht mehr?“

„Sie wissen etwas über meine Eltern und ich werde herausfinden, was es ist. Wenn sich aber herausstellt, dass Sie mich angelogen haben, komme ich wieder. Und dann wird es kein nettes, kleines Wiedersehen mehr sein.“

„Das wirst du. Da bin ich mir sicher“, erwiderte Albert und lächelte sie an, als wäre er unglaublich stolz auf sie.

Kimberly zögerte, wich vor Überraschung über diesen Ausdruck einen Schritt zurück und wollte sich zum Gehen umwenden, aber Gavin schüttelte mit gerunzelter Stirn den Kopf.

„Das Buch“, wisperte er.

„Wir werden nicht gehen, bevor Sie uns nicht gegeben haben, weshalb wir hergekommen sind.“

„Und was wäre das?“

„Ein Buch.“

Ein Schmunzeln erschien in Alberts Gesicht, er presste die Lippen zusammen, um nicht laut zu lachen. „Da könntest du Glück haben. Vielleicht habe ich draußen irgendwo eines liegen.“

„Wir wollen nicht irgendeines. Wir wollen das über den Stein von Anór.“

Ein Schatten huschte über seine Augen, das Lächeln und die rötliche Farbe, die das Bier verursacht hatten, wichen gleichzeitig aus seinem Gesicht. „Dann ist es also soweit? Barron hat ihn gefunden? Wenn das mal gut geht. Wegen ihr bringt er uns alle in große Gefahr.“

„Wovon sprichst du, alter Mann? Wer ist sie?“

Albert schüttelte bloß den Kopf und kramte in seinem Schreibtisch herum. „Wenn er es dir nicht gesagt hat, sollst du es nicht von mir erfahren. Er wird es dir erzählen, wenn die Zeit reif ist.“

Gavin kam noch einen Schritt näher. „Geht es um die Macht des Steins?“

„Ja, meine Lieben.“ Er seufzte. „Es ging nie um etwas anderes.“

„Was hat Barron damit vor?“

„Ich fürchte, das müsst ihr selbst herausfinden. Ich bin mir nicht sicher und will euch nicht belügen. In deinem Leben gibt es schon zu vielen Lügen, Kimberly.“

Vor ihm lag nun ein kleines, verstaubtes Buch, das nicht größer als Kimberlys aufgefächerte Hand war. Das Leder war fleckig und an den Ecken eingerissen und geknickt.

„Pass gut darauf auf, mein kleiner Pirat. Im schlimmsten Fall kann es euch alle töten. Und nun lauft. Die Zeit rennt euch davon.“

Kimberly nahm es rasch entgegen, als fürchtete sie, er könnte es ihr wieder wegnehmen und sie mit leeren Händen zur Holy Devil HolyHoly zurückkehren lassen. Wie einen kostbaren Schatz schob sie es unter ihre Bluse und verknotete diese am Bauch, damit es nicht herausfallen konnte. Einen sichereren Ort gab es vorerst nicht.

Sie eilte aus dem Raum, viel zu verwirrt, um sich zu bedanken oder weiterhin misstrauisch oder wütend zu sein. Sie konnte Gavins zögerndes „Danke“ hören, bevor seine Schritte ihren folgten. Die Zigarren-Frau warf ihr einen finsteren Blick zu, doch um ihre Mundwinkel zuckte ein selbstzufriedenes Lächeln.

„Rennt, Kinder. Weit werdet ihr nicht kommen. Der Dämon ist überall.“

Kimberly tastete kurz nach dem Buch, um sich zu vergewissern, dass es noch immer unter ihrer Bluse war, packte Gavins Handgelenk und zog ihn mit sich, raus aus dem Gebäude, fort von den seltsamen Menschen. Die Straßen waren voller Menschen und sie suchte in jedem Gesicht nach roten Augen, nach einem Zeichen, dass das Böse auch hier war. Wie weit reichte die Macht des Steins? Wie viel Kontrolle hatte er bereits?

Und was, zum Teufel, wollte Barron mit der Magie anstellen? Wie wollte er sie nutzen, wozu, warum?

Hatte Barron sie wirklich belogen? Was war diese Lüge? Was wusste Albert über ihre Eltern, was verschwieg Barron ihr? Und hatte sie gerade wirklich Magie gedacht?

So viele Fragen kreisten in ihrem Kopf, so viel Ungewissheit, so viel Wut sammelte sich in ihrem Herzen.

„Kim?“ Gavin griff nach ihrem Arm und zog sie zurück in den Schatten eines Torbogens. „Kennst du den Mann dort?“

Am Ende der Gasse stand eine große, bullige Gestalt, in ihrer Hand hielt er eine Pistole. Die ausdruckslosen Augen waren starr auf sie gerichtet, wie eine steife Puppe bewegte der Mann sich auf die Piraten zu. Seine Bewegungen wirkten abgehackt, marionettenhaft, als zog jemand anderes an seinen Fäden. Aus der anderen Richtung näherten sich zwei weitere, die ebenfalls wie tote, gesteuerte Körper auf sie zutorkelten.

„Lauf“, zischte Kimberly und wirbelte herum, aber sie sah schnell, dass es eine Sackgasse war. Die Fluchtwege über die Straße waren versperrt.

Gib uns das Buch.“

Du kannst nicht fliehen, nicht vor mir.“

Ich bin überall. Ich bin stärker als du. Kämpfe nicht gegen mich an.“

Die Stimmen kamen von überall her, aus allen Mündern gleichzeitig, sie waren hart und kühl, sie entfachten Wut in Kimberlys Brust, die sie zu ersticken versuchte. Sie spürte den Dämon in ihrem Kopf, er wollte ihren Arm bewegen, das Buch hervorholen, aber dieses Mal wich er noch schneller zurück als sonst. Die Marionetten-Männer jaulten auf, fassten sich an den Kopf und taumelten einen Schritt zurück. Für einen kurzen Augenblick klärte sich ihr Blick, bevor er wieder dumpf und hohl wurde.

„Er wird stärker“, wisperte Gavin. „Er hat schon jetzt so viel Macht. Wir müssen das beenden, bevor wir es nicht mehr können!“

„Erst einmal müssen wir hier weg“, erwiderte Kimberly und nickte zu einem Haus auf der anderen Straßenseite. Die Tür schwang im Wind leicht hin und her. „Komm.“ Sie rannten los, bevor die Marionetten-Männer Zeit hatten, sie zu erreichen, stürmten durch den verlassenen Hausflur die Treppe hinauf bis ganz nach oben unters Dach. Die Stufen knarzten unter ihren schweren Schritten. Es war niemand zu Hause, zumindest kam ihnen kein Bewohner entgegen, um sie aufzuhalten.

Kimberly drückte sich gegen eine Zimmertür, warf einen Blick hinein und entdeckte eine Dachluke. „Hier lang“, flüsterte sie, obwohl es egal war, ob die Marionetten-Männer sie hörten oder nicht, immerhin wussten sie, wo sie waren. Die schmutzige, verschmierte Dachluke schwang quietschend nach innen, als Kimberly daran zog und ließ Sonnenlicht in den Raum fließen.

„Was hast du vor?“

Sie schob einen dunklen Holzstuhl unter die Luke und stieg hinauf, reckte den Kopf prüfend aus dem Fenster. „Wir fliehen über die Dächer.“

„Spinnst du?“

Unten im Haus rumpelte es, die Treppenstufen knarrten.

„Willst du denen in die Hände fallen? Also ich nicht. Komm jetzt, das ist unsere einzige Chance.“

„Wir könnten uns auch in einem Zimmer verstecken, warten bis sie an uns vorbei gegangen sind und dann wieder nach draußen und vor ihnen weglaufen, oder?“, fragte Gavin hoffungsvoll und warf einen Blick über die Schulter. Das Geräusch schlurfender Schritte kam näher. „Vielleicht bemerken sie uns nicht.“

„Sei nicht so ein Feigling, Gavin. Das Krähennest auf dem Schiff ist viel höher als das Dach hier.“

„Ja, aber da kletter ich auch nie hoch. Ich mag den Boden. Da kann man nicht runter fallen.“

Gebt uns das Buch!“

„Verdammt“, fluchte Kimberly. „Los jetzt, oder willst du dich erschießen lassen?“

Kimberly zog sich am Rahmen hoch und kletterte nach draußen, bevor sie Gavin eine Hand entgegen streckte. Nach kurzem Zögern ergriff er sie, drückte sich vom Stuhl ab und stieg zur ihr aufs Dach. Die Ziegel waren feucht, voller Moos und Schmiere.

Die schlurfenden Schritte waren direkt hinter ihnen, eine Hand griff durch die Luke nach ihnen und packte Kimberlys Fuß. „Loslassen!“ Sie trat nach der Hand, spürte Knochen knacken und der Griff lockerte sich.

„Weg hier, los. Los!“

Das andere Häuserdach war nicht weit entfernt, die Kluft war klein genug, um sie zu überspringen.

„Kim, ich kann das nicht, ich bin nicht schwindelfrei.“

„Erzähl keinen Mist. Du musst nur rennen und springen. Denk nicht daran, wo wir sind, tu es einfach. Wir schaffen das.“

Hinter ihnen klickte es.

„Scheiße.“ Sie wirbelte herum, sah die Mündung einer Pistole auf sich gerichtet und sprang zur Seite, Gavin mit sich ziehend. „Lauf!“

Sie rannten los, rutschten über das moosige Dach auf die Kante zu. Kimberly erreichte sie zuerst, drückte sich kräftig ab und streckte die Hände nach dem anderen Dach aus. Ihre Finger gruben sich in die scharfe Kante, sie unterdrückte den Impuls, loszulassen, und zog sich stattdessen nach oben. Gavin war direkt hinter ihr, klammerte sich an das Dach und versuchte ächzend, sich ebenfalls hoch zu ziehen.

In dem Moment löste sich ein Schuss.

Kimberly schrie erschrocken auf und fiel auf den Rücken. Ihr Blick fand Gavin, der noch immer an der Dachkante hing. Er sah sie an, die Augen vor Schreck weit aufgerissen, sie flehten, sie fürchteten.

Sie verabschiedeten sich.

Sein Blick wurde leer, die Hände lösten sich von der Dachkante, winkten im Fall wie zum Abschied. Knochen brachen, als er unten aufprallte.

Und Kimberly sah das Blut. So viel Blut, schon wieder, so unglaublich viel, es floss immer schneller, immer weiter, umgab ihn wie Wasser ein Schiff.

„Nein.“ Ein Wort, geflüstert, voller Entsetzen, voller Hass. „Nein!“

Es klickte erneut.

Der Marionetten-Mann stand ihr gegenüber, am Rande des anderen Daches, keine vier Schritte durch die Luft von ihr entfernt, die qualmende Pistole noch immer auf sie gerichtet. Neben ihm stand ein zweiter, ebenfalls eine Waffe in der Hand, die er nun auf sie richtete. Die anderen kamen torkelnd zu ihnen, streckten die Arme nach ihr aus, grabschten durch die Luft nach dem Buch und konnten es doch nicht erreichen.

Kimberly rollte sich zur Seite, der Schuss ließ ihre Ohren klingeln und Steinsplitter spritzten auf, als er in das Dach einschlug. Sie rappelte sich hoch, rannte zur anderen Seite und ließ sich, ohne weiter darüber nachzudenken, fallen, umschloss mit ihren aufgekratzten Fingern erneut die Dachkante. Ihre Füße baumelten einen Moment über dem Boden, der nicht weit entfernt war, dann ließ sie los und fing den Schwung mit einer Rolle ab. Sie ächzte, als der Sturz ihr dennoch die Luft aus den Lungen presste, stemmte sich stöhnend hoch und rannte. Rannte in den Schatten eines weiteren Hauses, rannte im Zickzack durch die Gassen, vorbei an all den Menschen, von denen jeder zu ihrem Feind werden konnte. Sie hörte das Rauschen der Brandung, lief blind darauf zu, wollte in Sicherheit sein und wollte eigentlich gar nicht mehr zurück. Was sollte sie auf der Holy Devil, wenn Gavin nicht mehr da war?

Nun ist nur noch ein Küken übrig, stichelte die Stimme. Das ist deine Schuld. Du hast den Stein geholt. Wegen dir sterben Menschen. Menschen, die dir etwas bedeuten.

Dicke, salzige Tränen quollen aus ihren Augen, vermischten sich mit dem Staub, den ihre Füße aufwirbelten, und dem Schmutz auf ihrem Gesicht zu einer klebrigen, feuchten Masse. Sie merkte kaum, wenn sie jemanden anrempelte, die verärgerten Rufe drangen gar nicht bis zu ihr durch. Manchmal glaubte sie, dass Hände nach ihr grabschten, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.

Es ist deine Schuld! Du hättest ihn retten können. Hättest etwas tun können, damit er jetzt neben dir läuft. Deine Schuld, deine Schuld, deine Schuld!

„Nein!“ Ihr Schrei war so voller Schmerz, dass sich die Leute verwirrt zu ihr umdrehten und vor ihr zurückwichen, als sei sie eine Wahnsinnige. Entgegen ihrer Vernunft hoffte sie, dass ihre eigene Stimme die böse, flüsternde in ihrem Kopf zum Verstummen bringen würde.

„Ich … ich konnte nichts tun“, schluchzte sie, würgte die Worte wie etwas hervor, an dem sie zu ersticken drohte. Kimberly stolperte, fing den Sturz mit den Händen ab und blieb im Schmutz liegen, keuchend und zitternd. Ihr Burstkorb hob und senkte sich hektisch und unregelmäßig.

Lüge, Lüge, Lüge.

„Was hätte ich denn machen sollen?“ Sie zog die Knie an, schlang die Arme darum und bettete ihren Kopf hinein, bis die staubige Dunkelheit ihr Gesicht einhüllte.

Der Sprung war gefährlich. Ihr habt euch ihnen ausgeliefert. Eine freie Schussbahn.

„Es war die einzige Möglichkeit. Wir mussten fliehen!“

Ihr hättet gleich am Boden bleiben sollen. Ihr hättet weglaufen können, du hast gesehen, wie langsam sie waren.

„Sei still“, flüsterte Kimberly und schüttelte den Kopf, als könnte sie die Stimme ihrer Schuldgefühle so los werden.

Gavin ist tot. Deinetwegen.

Sei doch endlich still!“ Ihre eben noch zittrige Stimme fegte nun wie ein wütender Geisterwolf durch die Gassen, erfüllte die Luft und ließ die Möwen kreischend die Flucht ergreifen.

Sie konnte die brennenden Blicke der anderen Menschen spüren, hörte sie flüstern und tuscheln.

Und ganz in ihrer Nähe hörte sie ein Schlurfen. Ein Klicken.

Kimberly sprang auf, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rannte weiter, folgte dem Geräusch der Brandung zum Hafen, wo die Holy Devil auf sie wartete. Auf sie und Gavin und das Buch.

Das Buch. Barron würde es nicht von ihr bekommen, noch nicht. Sie ballte die Hände zu Fäusten. Vielleicht war es auch seine Schuld, dass Gavin tot war, er hatte sie schließlich auf diese Mission geschickt, obwohl er wusste, was vor sich ging. Obwohl Gavin durch seine Verletzung geschwächt war.

Kimberly schob all die Gedanken beiseite, die sie erneut mit einer Woge aus Trauer überrollen wollten, sah sich nach den Marionetten-Männern um und lief ein wenig schneller, als sie einen von ihnen entdeckte. Sie durften das Schiff nicht erreichen, nicht vor ihr.

Und wenn sie schon dort waren und auf sie warteten?

Ihre Schritte wurden langsamer, aber etwas hielt sie davon ab, stehen zu bleiben.

Du kannst nicht weglaufen, Kim. Das hat keinen Sinn. Und du willst es auch gar nicht. Du willst Rache.

Kimberly straffte die Schultern, schob das Buch in die Tasche ihrer hellen Wollhose, wo man es hoffentlich nicht sofort entdecken würde, und eilte den Steg entlang. Die eingeholten Segel der Holy Devil kräuselten sich in einer sanften Brise.

Wenn dein dunkles Herz mich ruft

Подняться наверх