Читать книгу Das Superschnäppchen - Mary Carter - Страница 4
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ОглавлениеBevor ich stehle, bete ich. O heil’ger Schutzpatron der Kleptomanen, vergib mir. Das reicht. Ich bin der Meinung, dass man die Zeit der Heiligen nicht mit Ergüssen darüber verschwenden sollte, dass die Gesellschaft oder New York oder die Eltern an deiner Klaueritis schuld sind. Sie wissen, dass wir Menschen schwach sind, wissen um die Erbsünde und all das Zeug. In meinen Augen verhält es sich mit dem Klauen wie mit der Liebe: Du weißt, was gut ist.
Heute ist es ein wunderschönes kleines Stück Lavendelseife – ein schäumendes Stück Himmel. Es ist in lilafarbenes, weiches Papier eingeschlagen und mit einer weißen Satinschleife geschmückt. Ich könnte das Ding auffressen. Ich sondiere das Gebiet. Die hundertfünfzig Quadratmeter große Boutique ist in verschiedene Bereiche eingeteilt, und ich stehe in der südöstlichen Ecke an die Wand gedrückt. New Yorker brauchen lange, um aus ihrem Weihnachtskoma zu erwachen, aber das Tauwetter Ende Januar hat die Frühlingsgefühle extrem zeitig geweckt, und in dem Laden ist es voll und laut. Dekorative kleine Spiegel stehen wie Wachleute auf den Regalbrettern über den Seifen, aber nirgendwo sind Kameras zu sehen.
Ich nehme mir einen der Kosmetikspiegel und beobachte damit die junge Kassiererin. Die Menschenmenge behindert meine Sicht, und das ist gut: Wenn ich sie nicht sehen kann, kann sie mich auch nicht sehen. Mein Herz beginnt zu steppen. Meine Fingerspitzen prickeln. Ich halte den Spiegel mit der Rechten und nehme die Seife mit der Linken, behutsam wie einen fragilen Jungvogel. Dann lege ich den Spiegel wieder hin, öffne meine Tasche und wühle darin nach meinem Handy. Ich will gar nicht anrufen; das ist nur ein alter Magiertrick – Ablenkung, Ablenkung, Ablenkung. Während ich das Telefon mit der rechten Hand herauskrame, mache ich die linke auf und senke sie ab, bis sie wie eine Rutsche in meine Tasche führt. Die Seife gleitet an meiner Hand entlang und verschwindet im sicheren Innern. Ich mache die Tasche zu und bleibe noch ein Weilchen bei den Seifen stehen, schnuppere an ihnen und tue so, als sei ich eine ganz normale unentschlossene Kundin. »Entschuldigung.« Ich schiebe mich an einer Frau vorbei, die sich zwischen die Regale quetscht. Ich gehe auf den Ausgang zu und lese das Schild, während ich durch die Tür verschwinde: »Jeder Diebstahl wird zur Anzeige gebracht.« Klar, aber nur, wenn man erwischt wird, denke ich. Nur wenn man erwischt wird.
Einfach herrlich: All diese Lichter! All diese Leute! Der Geruch von den gerösteten Kastanien, den frischen Brezeln und dazwischen ein Hauch Diesel. Man muss sich nur umsehen – es gibt so viele Menschen! Große, Kleine, Dicke, Runde, Magere, Durchgeknallte, Weiße, Schwarze, Asiaten, Inder und Kleptos. Und dort die Truppe von niedlichen, trampeligen Bauern aus dem Mittleren Westen, die ihr Programm von The Producers umklammern, während sie mit ihrem Stadtplan und dem Pfefferspray jonglieren. Es gibt keinen großartigeren Ort auf Erden als Manhattan. Ich könnte jetzt sterben. Ich könnte in dieser Minute glücklich sterben, einfach hier auf dem Bürgersteig niedersinken, meine Träume zwischen die der anderen New Yorker quetschen, sie diesem Labyrinth aus Stahl, Beton und grellen Lichtern darbieten wie ein Opferlamm. Ich bin ein Lamm. Ich bin ein Lamm. Ich bin ein glückliches, kleines Lamm.
Und ich bin gut zwanzig Blocks von meiner Wohnung entfernt, aber ich beschließe, dennoch zu Fuß zu gehen. Das Wetter ist zu schön, und außerdem geht von meinem tiefsten Innern eine Wärme aus, die dem Hoch nach einem sauberen, hübschen Diebstahl zuzuschreiben ist. Mein Gang ist federnd, und ich hauche meinen Heiligen mentale Küsse zu.
Und bevor Sie meinen, ich hätte nicht alle Tassen im Schrank – ich bin mir durchaus bewusst, dass ich mit erfundenen, eingebildeten Götzen kommuniziere, aber was soll man machen, wenn man täglich das Bedürfnis nach überirdischer Intervention hat? Manche Leute werfen Salz über die Schulter, gehen nie unter Leitern durch und klopfen auf Holz – ich dagegen rufe das Universum an und bitte um ein klein wenig himmlische Rückendeckung. Und obwohl ich Gott lieber in den Sternen als in der Kirche suche, bin ich Katholikin – wenn auch keine direkte –, und ich denke, wenn ich schon mit einem nicht zielgerichteten Schuldgefühl und einer gesunden Furcht vor meiner eigenen Moral ausgestattet bin, dann kann ich durchaus auch ein paar Zusatzleistungen in Anspruch nehmen.
Aber machen wir uns nichts vor – sie mögen zwar heilig sein, meine Heiligen, aber perfekt sind sie nicht. Wie man jetzt gerade wieder feststellen kann, als ich den Bürgersteig entlanghüpfe und sie lobpreise, während sie schon die Bühne für den nächsten Akt bereiten. Meine Damen und Herren, es ist erst drei Häuserblocks, zwei Schubser, vier »Haste mal ’nen Dollar« und ein »Hey, Baby« her, seit ich den Laden verlassen habe, und schon läuft das Schuldgefühl-Programm des heutigen Tages an. Plötzlich verwandelt sich das himmlische Stück Lavendelseife in meiner Tasche in einen Stein. Sein schweres Gewicht ist wie ein Anker, der mich hinunterzieht. Hässliche Gedanken landen und heben wieder ab wie Schmeißfliegen, die ein Pferd ärgern.
Du brauchtest überhaupt keine Seife. Du solltest dir damit den Mund auswaschen, wenn du nach Hause kommst. Du hättest brav zur Kasse gehen und sie bezahlen können wie ein anständiger Mensch. Jetzt kehr um und bring sie zurück. Aber ich tu’s nicht. Ich gehe weiter Richtung Downtown. Wenn ich es bis zu den Zwanzigern schaffe, gibt es kein Zurück. Nur noch fünf Blocks, und ich bin in der Sicherheitszone. Die Sicherheitszone beginnt dort, wo ich nicht länger mit mir diskutieren kann, zum Laden zurückzugehen, weil ich bereits zu weit entfernt bin. Dann hört das Schuldgefühl auf. Ich kann damit klarkommen. Ich bin Schauspielerin, New Yorkerin und keine direkte Katholikin. Ich esse Schuld zum Frühstück. Schuld ist wie ein Multivitaminpräparat; man muss es, ohne zu maulen, zu sich nehmen. Schuld ist wie das schmierige Zeug, das das Meer am Strand ablagert. Man hört nicht auf, ins Meer zu springen, nur weil man durch diesen Schmier hindurch muss – man sieht darüber hinweg und sammelt hübsche Muscheln auf. Es ist das Yin und Yang des Ladendiebstahls. Es gehört einfach dazu. Und glauben Sie mir – ich kann das beurteilen.
Ich sehe nicht aus wie eine Diebin. Ich bin eine attraktive, junge Frau. Ja, na gut, ich klammere mich an die letzte Sprosse meiner Zwanziger jähre wie eine Bulldogge an einen gestohlenen Markknochen, aber ich habe gute Gene, die würdevoll altem lassen. Und ich denke, wenn ich erst einmal die vierzig erreicht habe, wird man Anti-Aging-Methoden erfunden haben, die es einem auch weiterhin erlauben, die Gesichtsmuskeln zu bewegen, ohne dabei gleich auszusehen wie ein defekter Roboter. Daher versuche ich, nicht in Panik zu geraten. In jeder anderen Hinsicht bin ich übrigens eine brave Bürgerin. Ich nehme Sonnenschutzfaktor 15 oder höher, ich gehe wählen, und ich kaufe Dritte-Welt-Kekse für meine magersüchtigen Freunde. Ich lasse einmal jährlich einen Abstrich machen, alle halbe Jahr einen Aidstest, und ich spende für die Obdachlosen.
Einerseits finde ich, dass meine Anständigkeit das bisschen Stehlen kompensiert, andererseits lässt sie mir wenig Raum, diese Angewohnheit zu rechtfertigen. Ich bin weder ein pickliger Teenie, der durch Gruppenzwang dazu getrieben wird, einen rosa Lipgloss einzustecken, noch eine arme Mutter, die für ihre drei hungernden Kleinen ein paar Packungen Makkaroni mitgehen lässt. Ich meine, das wäre ja verständlich. Sogar verzeihlich. Aber ich habe keine hungernden Kinder – nicht einmal hungernde Katzen oder Hunde. Allerdings habe ich mit meiner Kleptomanie bisher weder Kindern noch Tieren geschadet, also sind wir ja wohl quitt.
Ich stehle auch nicht, um mir Drogen zu kaufen. Ich kokse nicht und werfe auch kein Speed mit meinem Morgenkaffee ein (zwei Schuss fettarme Milch und ein Sweet’N Low). Ab und zu gönne ich mir ein Glas Wein (australischer Shiraz ist immer eine gute Wahl) oder ein Guiness, aber das war’s schon. Okay, ich gestehe, dass ich in der Vergangenheit zu gewissen Gelegenheiten (Geburtstagen, Silvester und am U-Bahnhof ankommen und feststellen, dass ich kein Ticket habe und noch fünfzig Cent im Portemonnaie) exzessiv getrunken habe, und mindestens dreimal in den vergangenen drei Monaten habe ich morgens geflucht und gekotzt und mit dem Schutzheiligen des Katers verhandelt, ihm versprochen, niemals, niemals wieder zu trinken, wenn er denn nur (bitte, bitte!) das alberne Hämmern in meinem Kopf abstellen und es mir zugestehen würde, nur ein einziges Glas Wasser zu trinken, ohne augenblicklich zum großen, weißen Porzellanaltar rennen zu müssen – aber das hat absolut nichts mit meinem geheimen Laster zu tun.
Ich fürchte, es gibt einfach keine vernünftige Erklärung dafür, warum ich eine neunundzwanzigjährige Kleptomanin bin. Außer diesen hier. Ich liebe meinen Geschichtslehrer aus der Achten, den Captain des Footballteams, den süßen Typen, der ganz hinten in meinem Psychologiekurs sitzt, den Iren aus der Tile Dar, einen bisexuellen Schauspieler, einen Californian-Crystal-Consultant, einen Kellner/Schriftsteller,—Kellner/Schauspieler,—Kellner/Maler, Kellner/Kellner (okay, vielleicht hatte der keinerlei weiterführende Ambitionen, aber Sie hätten mal seinen Body sehen sollen!), einen Wall-Street-Broker, einen Buchhalter, einen Kellner/Clown (zu meiner Verteidigung: Er hat sich erst in der Clownschule angemeldet, als wir schon miteinander geschlafen hatten), einen Bauarbeiter, einen Bestatter (fragen Sie gar nicht erst), einen (britischen, australischen, irischen, russischen) Touristen, einen verheirateten Mann, Ray Arbor. Den schönen, wundervollen, unglaublichen, bestmöglichen Fang Ray.
Er ist Musiker.
Ich weiß, es ist schlecht, es ist falsch, es ist dumm, es ist schwierig – aber so ist es. Wenn Sie schon einmal einen Musiker geliebt und verloren haben, dann muss ich nichts erklären. Sie wissen, wie weh das tut. Sie wissen, dass eine Beziehung mit einem Musiker so ähnlich ist, als greife man mit der Hand in ein Lagerfeuer, um ein Würstchen zu retten, das vom Spieß gerutscht ist. Wie lecker es auch sein mag, man verbrennt sich die Finger.
Irgendwann im Verlauf der Beziehung muss man sich fragen: »Denkt er überhaupt manchmal an mich, oder bin ich nur irgendein Groupie?« Ray Arbor und ich sind in den vergangenen drei Monaten jeden Tag zusammen gewesen. Rays Band, Suicide Train, spielt in jeder Kaschemme Manhattans, New Jerseys und Long Islands, und seit wir uns kennen, bin ich fester Bestandteil eines jeden Auftritts. In der zweiten Woche unserer Balzphase war mir klar, dass ich ihn auf der Stelle heiraten und den Rest meines Lebens in einem Wohnwagen mit sechs quäkenden Bälgern verbringen würde, wenn ich dafür nur weiterhin in seine jadegrünen Augen sehen dürfte. Die Jungs in der Band sind daran gewöhnt, dass Ray Frauen um sich schart, und sie haben angefangen, Wetten abzuschließen, wie lange ich wohl überdauere, daher bemühe ich mich, doppelt nett zu ihnen zu sein. Ich habe Brett, dem Drummer, erzählt, er würde mich an Bono von U2 erinnern, obwohl er mit seinen roten Locken und den Sommersprossen eher nach jemandem aus der Muppet-Show aussieht. Ich versorge den Bassisten, Tim, mit Scotch und Soda und weise ihn auf Frauen im Publikum hin, die garantiert schon beim ersten Date mit ihm ins Bett springen – und in neun von zehn Fällen habe ich recht. Jason, der Leadsänger, ist derjenige, den ich noch nicht auf meine Seite gezogen habe. Er reagiert auf meine Anbiederei mit schweigender Verachtung, als hätte ich mir gerade in aller Öffentlichkeit in die Hose gemacht. Ich habe beschlossen, ihn in Frieden zu lassen.
Der Letzte der Truppe, Trent, Rays Backup-Sänger, ist ein Weichei. Er hat mindestens hundert Pfund zu viel und ist empfänglich für Berührungen – eine Hand auf der Schulter, einen Klaps aufs Knie, einen Schmatzer auf die Wange. Ich bin stolz, sagen zu dürfen, dass Trent mich nie einbezieht, wenn er nach dem Gig besoffen über die Schlechtigkeit aller Frauen zetert und wettert.
Wo also stehen wir jetzt? Ray und ich haben ungefähr viermal die Woche Sex, ich lasse meine engsten Freunde hängen und krieche seinen in den Hintern, rasiere mir regelmäßig die Beine, mache mir Strähnchen und zupfe mir die Augenbrauen. Er muss mich lieben, oder?
Aber wieso – wieso? – hat er mich nun seit sechs Tagen, drei Stunden und vierundzwanzig Minuten nicht mehr angerufen?
Das letzte Mal, dass ich von ihm gehört habe, war am Tag nach Trina Wilcox’ Party gewesen. Und auch wenn ich sternhagelvoll gewesen bin, habe ich, soweit ich mich erinnern kann, umwerfend ausgesehen, und alles lief wie geölt. Wir hatten sogar einen Quickie in der Mantelablage. Das reicht, um jemanden in den Wahnsinn zu treiben. Zur Kleptomanin zu machen.
Als Strafe für den Diebstahl der Seife schalte ich, als ich zu Hause bin, jede Lampe an und stelle mich nackt vor meinen mannshohen Spiegel. Meine Mitbewohnerin Kim ist nicht da, also mache ich nicht einmal die Tür zu. Ich versuche, mir meinen nicht perfekten Körper in orangefarbener Gefängniskluft vorzustellen. So schlecht ist das nicht. Orange steht mir gut – besonders wenn ich mir neue Strähnchen machen lasse, um den Haaransatz aufzupeppen. Ich überlege, ob mir ein Gefängniswärter einen unsittlichen Antrag machen würde und wie die Chancen stünden, dass eine solche Beziehung hielte. Ich sehe mich selbst am Straßenrand mit einer langen Pike Müll aufspießen. Die Sonne würde mein Gesicht wärmen, meine blonden Strähnen zum Schimmern bringen, und meine Mitgefangenen und der Wärter/Liebhaber würden sagen: »Sie ist zur Ruhe gekommen. Sie ist mit sich selbst im Reinen. Wir haben ihren Körper eingesperrt, aber nicht ihren Geist.« Und: »Sag mal, die hat doch mindestens fünfzehn Pfund abgenommen!«
Dies sind die Fakten: Wie Sie ja schon wissen, bin ich neunundzwanzig Jahre alt und bleibe es. Ich bin eins einundsiebzig (relativ groß, wenn auch keine Riesin), habe schulterlanges, dunkelblondes Haar und lange dünne Arme mit Sommersprossen. Ich danke dem Schutzheiligen der Sommersprossen, dass er sie über meine Arme und Schultern gestreut, dafür aber mein Gesicht in Frieden gelassen hat. Ich frage mich oft, ob wir wohl vor Antritt der Lebenszeit eine Wahl in Bezug auf unser Aussehen und unseren Charakter haben. Habe ich vielleicht statt geistiger Gesundheit ein sommersprossenloses Gesicht gewählt? Ich sehe vor meinem inneren Auge Petrus mit seiner weißen Schreibfeder. »Melanie, meine Liebe, du musst dich entscheiden. Möchtest du ein Gesicht mit Sommersprossen oder eine lebenslange Prozac-Gabe?« Also, ich hätte ja nicht gezögert. »Prozac, bitte. Und ich nehme die doppelte Dosis.«
Zurück zum Spiegel. Brüste annehmbar, nicht zu groß, nicht zu klein (Goldilocks wäre stolz gewesen), Hüften zu breit, Bauch in Ordnung, sofern ich ihn einziehe, die Waden sogar sehr hübsch, aber die Oberschenkel eine Quelle ständiger Verzweiflung und extrem verdeckungsbedürftig. Obwohl ich mir niemals Fett absaugen lassen würde, freue ich mich jetzt schon auf den Tag, an dem man direkt aus dem Regal sein Heimabsauggerät kaufen und es im stillen Kämmerlein selbst machen kann. Ich bin sicher, die Technologie ist nur noch ein winziges Stück davon entfernt. Bis dahin bezeichne ich mich weiterhin als »üppig«. Klingt viel schöner als »ein paar Kilo zu viel«.
Meine Augen sind mein Kapital; sie wechseln zwischen Grau, Blau und Grün wie ein Mood-Ring. Wenn ich ein paar Tage nichts esse, sehe ich sogar noch besser aus – Wangenknochen! –, aber die Kasteiung zieht unweigerlich eine Fressattacke nach sich, nach der ich dann wieder aufquelle.
Ich mag meine Füße, aber ich verabscheue meinen Hintern. Meine Füße sind zierlich und haben einen hohen Spann (ich hätte Balletttänzerin werden können), aber mein Hintern ist einfach viel zu groß. Ray (mein Freund? Liebhaber? Zukünftiger Ehemann?) sagt, er liebe meinen Hintern. Was für ein Typ Mann kann einen solchen Hintern lieben? Na ja, der Typ Mann, der nicht Stunden damit verbringen muss, eine verdammte Jeans anzuziehen. Teufel auch! (Das habe ich in London aufgeschnappt. Das und poppen. Klingt, als ob man viel mehr Spaß dabei hat. Aber das Wort ist nicht immer einsetzbar. »Popp dich!«, zum Beispiel. Da fehlt der Biss. Aber wenn es um meinen Hintern geht, ist »Teufel auch!« klasse.)
Als ich mich selbst lange genug gequält habe, verstecke ich die Seife in meinem Schlafzimmerschrank. Das ist der einzige Platz im Raum, der nicht als Katastrophengebiet bezeichnet werden muss. Der Rest meines Zimmers sieht tatsächlich aus wie ein abstraktes Gemälde mit dem Titel »Nach dem Überfall«. Hat aber einen Sinn. Meine Mitbewohnerin Kim hasst Unordnung, und obwohl ich auch gerne ein aufgeräumtes, sauberes Schlafzimmer hätte, weiß ich doch, dass Kim es nicht wagt, hier hereinzukommen, solange es so aussieht wie jetzt. Das Vorhängeschloss meines Schranks würde sie anlocken wie Blut einen Hai. Sie ist sehr sensibel und würde sofort denken, dass das Schloss ihretwegen dort hängt, dass ich ihr nicht vertraue und blabla. Sie wissen ja, wie wir Menschen sind. Ich würde dasselbe denken. Schließlich ist bei ihr immer Tag der offenen Tür, gibt es bei ihr keine Vorhängeschlösser. Ich darf reinmarschieren, wann immer ich will, und mir ausleihen, was immer ich will und in das ich mich quetschen kann. Für den Augenblick muss ich mich mit meinem Chaoszimmer abfinden und mit einem penibel aufgeräumten Schrank zufriedengeben.
Auf dem Fensterbrett neben meinem Kleiderschrank steht ein Porzellanclown, den mein Vater mir zum zehnten Geburtstag geschenkt hat. Wir wollten an diesem Tag in den Zirkus gehen, aber dann konnte mein Vater sich nicht früh genug freinehmen, und statt eines Abends mit Löwen! Tigern! Und Bären! (O Mann!) saß ich mit einem mies gelaunten Babysitter und einem Porzellanclown zu Hause. Inzwischen ist mein Vater Reiseführer in Florida und führt ein ausgesprochen entspanntes Leben, aber mein zehnjähriges Ich wartet noch immer auf eine Entschuldigung. Ironischerweise war ich damals viel zu klein, um verbittert zu sein, und ich liebte den Clown innig. Nun benutze ich ihn als Versteck für den Schrankschlüssel. Der passt nämlich genau unter seine großen, blauen Schuhe. Jetzt hole ich ihn hervor und halte den Atem an. Ich genieße die Vorfreude, meinen Schrank zu öffnen.
Das Erste, was mir auffällt (und leichte Panik verursacht), ist die Tatsache, dass mein Schrank langsam zu voll wird. Ich muss verstecken, was ich stehle, oder ich kann nicht schlafen. Früher habe ich mir Sorgen gemacht, dass meine Beutestücke schmutzig werden und meine Seele gleich mit schwärzen könnten, aber seitdem ich nachts Staub wische, hat sich das gelegt. Ich lege die Seife auf das untere Brett neben eine Schachtel Untersetzer (Bahamas! Bermuda! Virgin Islands!), eine brandneue Yankees-Kappe und sechs lange, gedrehte Bienenwachskerzen. Ich spüre, wie mir ein bisschen übel wird. Ich brauchte wirklich keine Seife mehr. Ich bin ein unmöglicher Mensch. O ja. Ich werde nicht mehr klauen. Denn abgesehen davon, dass ich davon Magengeschwüre bekomme, habe ich einfach keinen Platz mehr im Schrank. New Yorker Wohnungen sind unverschämt klein.
Es ist eine Dreizimmerwohnung direkt über einem Sushi-Restaurant auf der Thirtieth zwischen Lexington und Third. Früher mochte ich Sushi. Aber nun berührt kein roher Fisch mehr meine Zunge. Der Geruch setzt sich überall fest, vor allem in meinen Klamotten, aber das Schlimmste ist, dass er Kakerlaken und Mäuse anzieht. Sie kommen in ganzen Busladungen zu uns. Ich dusche dauernd und stopfe mir Watte in die Ohren, bevor ich ins Bett gehe, weil ich neulich von einer Frau gehört habe, der im Schlaf ein Kakerlak ins Ohr gekrochen ist. Das Vieh musste operativ entfernt werden. Jetzt überhöre ich zwar oft morgens meinen Wecker, aber wenn ich dafür einen kakerlakenfreien Gehörgang behalte, dann ist es das allemal wert.
Wir haben keinen Portier, aber wir haben Jimmy, einen Obdachlosen, der im Flur pennt. Wenn er gutgelaunt ist, macht er dir die Tür auf und strahlt dich zahnlos an. Wenn er allerdings mies drauf ist, versucht er in der Regel, einem ein Bein zu stellen, also muss man immer aufpassen, wohin man tritt. Er stammt eigentlich aus Georgia, lebt aber seit fünfzig Jahren in New York. »Ich komme aus Georgia«, hat er mir gesagt, als ich einzog. Ich hatte versucht, einen Futon die Treppe hinaufzuzerren, und musste dauernd pausieren, fluchen und das monströse Ding wieder neu packen. Ich möchte mal den Keller von der Person sehen, die den Futon erfunden hat. Es würde mich gar nicht überraschen, wenn dort Ketten, Peitschen und andere Sadomaso-Utensilien zu finden wären. Dieser Mensch hat entweder vollkommen vergessen, dass man diese Mistdinger hin und wieder auch bewegen muss, oder er hat den Gedanken an die Leiden eines Umziehenden in vollen Zügen genossen.
Zu allem Überfluss wurde am Tag meines Umzugs jeder Freund, der mir Hilfe versprochen hatte, von einem rätselhaften Virus befallen, weswegen ich den Schutzpatron der Umzüge mit saftigen Flüchen bedachte, wann immer meine durchweichten Turnschuhe auf der Treppe wegrutschten. Natürlich goss es auch noch in Strömen. »Soll ich Ihnen damit helfen?«, fragte Jimmy und übernahm, noch bevor ich antworten konnte. Ich wehrte halbherzig ab, aber er warf sich das Ding bereits über die Schulter und hievte es die Treppe hinauf. »Ich war früher Packer«, rief er mir über die Schulter zu, während ich mich erleichtert auf die Treppe sinken ließ. Ich hatte vier Stunden gebraucht, um all meine Sachen aus dem fünften Stock ohne Fahrstuhl in Chelsea in den LKW zu schaffen. Ich musste den Wagen in einer Stunde zurückbringen oder noch einmal fünfundsiebzig Dollar zahlen. Jimmy war meine Rettung.
Er schleppte den Rest meiner Habe ganz allein nach oben. Ich sah zu, wie sich die Muskeln unter seiner braunen Haut spannten, als er mühelos Futon, Küchentisch, Teppiche und Fernsehgerät über den Kopf hob und drei Treppen hinauftrug. Später erfuhr ich, dass ihm das durch einen Kokain/Speed-Cocktail möglich gewesen war, aber damals nahm ich ihm seine Profipackergeschichte ab. In den folgenden Monaten gab er vor, außerdem Profichef, Profischwimmer und Profipfadfinderführer gewesen zu sein. Ich gebe ihm beinahe täglich etwas Geld, und er gibt das meiste für Jack Daniels aus.
Seit neustem gefällt es ihm, mich anzukündigen. Er steht draußen vor dem Haus, und sobald er mich kommen sieht, stößt er die Tür auf, verbeugt sich mit großer Geste und brüllt aus vollem Hals: »Melanie ZZZZZZeitgar!« Ich habe keine Ahnung, warum er das Z so summt, und ich muss zugeben, dass mir diese neue Angewohnheit enorm peinlich ist. Ich habe schon überlegt, ob ich ihm erlaube, bei mir zu duschen, weil er so stinkt, aber ich finde, dass Charlie ihm eine eigene Wohnung mit Dusche geben sollte. Charlie ist unser Vermieter und Jimmy unser inoffizieller Hausmeister. Charlie wohnt im Haus gegenüber, und es ist zehnmal schöner als unseres. In seiner Eingangshalle gibt es Topfpalmen und einen Kronleuchter, in unserem Flur sind die Glühbirnen kaputt, und in dem einen Plastiktopf wächst Unkraut. Drüben haben sie außerdem einen echten Portier, der immer lächelt und noch nie jemandem ein Bein gestellt hat.
Manchmal denke ich, ich sollte Charlie bei der NAACP oder irgendeiner anderen Menschenrechtsorganisation anzeigen, aber ob Jimmy damit geholfen wäre? Ist es nicht besser, einen halb warmen Korridor zum Schlafen zu haben als die Straße? Als ich einzog, schenkte ich ihm ein Kissen und eine Decke für die Nacht, aber beides ist inzwischen verschwunden. Ich begreife nicht, wieso er es vorzieht, auf nacktem Zement zu schlafen, aber es steht mir wohl kaum zu, ihm nahezulegen, besser kein obdachloser Säufer zu sein. Ich könnte wahrscheinlich ausziehen, mich beschweren oder Stunk machen, aber ich lasse es. Die Wohnung hat eine Mietpreisbindung. Ich mag Jimmy, aber ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich manchmal wegsehen muss, wenn er mich anlächelt.
Auch in der Wohnung haben wir einige Probleme. Mit den Kakerlaken werde ich (mit Hilfe meines kleinen Freundes, dem Tennisball) fertig, aber sowohl Kim als auch ich haben eine Heidenangst vor Mäusen. Sie hängen meistens im Küchenbereich unserer Wohnung ab, und wenn wir vor dem Eintreten feste genug auftreten, sind sie immerhin so höflich, in ihre Löcher zu verschwinden. Die Kakerlaken dagegen haben mit Rücksichtnahme nichts am Hut und werden langsam ziemlich dreist. Neulich entdeckte ich einen auf dem Bildschirm, als ich gerade Sopranos guckte. Er saß direkt auf Tony Sopranos rechtem Nasenloch. Das war so unterhaltsam, dass wir uns nicht dazu durchringen konnten, das Vieh zu plätten. Ich habe es Tony genannt und mit rotem Nagellack markiert. Er ist der einzige Kakerlak, den wir nicht zertreten, ersäufen oder vergiften werden. Die anderen sind auf sich selbst gestellt.
Bevor ich ins Bett gehe, sehe ich mir den Film Wie ich Ray kennenlernte an. Er hat eine Bombenbewertung, läuft in meinem Kopf, und ich kann ihn sogar ohne eine Riesentüte Butterpopcorn sehen. Er geht ungefähr so:
AUSSEN – NACHT – MANHATTAN
FIGUREN: MÄDCHEN (ich)
... SCHÖNSTER MANN WEIT UND BREIT (Ray)
Ein hübsches MÄDCHEN Ende zwanzig (neunundzwanzig ist immer noch Ende zwanzig!) geht nach einem gruseligen Vorsprechen für ein Off-off-off-off-Broadway-Stück deprimiert die Straßen Manhattans entlang. Es hat das Vorsprechen verlassen, nachdem der Regisseur verkündet hat, es würde in Stringtan-gas gespielt, um das Publikum bei Laune zu halten. Das MÄDCHEN geht davon, ohne auch nur ein Wort des komödiantischen Monologs, den es vorbereitet hat, vorgetragen zu haben. Das MÄDCHEN beschließt, die Schauspielerei aufzugeben und auch gleich den Job in Beef Boys Bar and Grill zu schmeißen, weil die Verbindungsstudenten von der Columbia meistens nichts anderes vorhaben, als bei dem einen oder anderen Bier seinen Hintern zu begrabschen.
Plötzlich hören wir MUSIK. Sie dringt aus einer Bar an der Ecke, einer kleinen Kellerkaschemme, die nur durch eine Neonlampe, die über der Tür blinkt, von der jämmerlichen Souterrainwohnung daneben zu unterscheiden ist. Das MÄDCHEN lässt sich auf dem Bürgersteig auf die Knie fallen und späht durchs Fenster.
DER SCHÖNSTE MANN WEIT UND BREIT steht auf der ramponierten Bühne, eine Gitarre am Gurt um die Schulter und eine Mundharmonika an den vollen Lippen. Das MÄDCHEN ist augenblicklich verloren. Es schließt die Augen und speichert seinen Anblick ab.
Breite Schultern, struppiges, schwarzes Haar. Und da es durch die verschmierte Scheibe und den Qualm im Innern nicht gut sehen kann, stellt es sich seine Augen eisblau vor (damit habe ich mich geirrt, aber jadegrün ist auch unglaublich, oder?). Er hat bestimmt rauhe Hände und einen Verstand, der so kristallklar ist, dass er mit Leichtigkeit durch ihren zugemüllten Geist dringen kann. Das MÄDCHEN weiß, dass es in ernsthaften Schwierigkeiten steckt, wenn er genauso liebt, wie er spielt. Sie leckt den Finger an und schreibt spiegelverkehrt auf die Scheibe: »Ich will dich.« Die Musik verklingt. Die Scheinwerfer verlöschen. DER SCHÖNSTE MANN WEIT UND BREIT blickt auf, sieht das MÄDCHEN, liest »Ich will dich« und lächelt. »Dann komm und hol mich«, sagt das Lächeln. Das MÄDCHEN tut es.
ENDE (Aber hoffentlich nur der Anfang.)
Und hier der Teil des Films, den wir nicht zu sehen kriegen: Einen Monat später liege ich im Bett mit ihm und frage ihn nach diesem Augenblick – diesem Augenblick, der Liebe auf den ersten Blick war. Ich berühre das Grübchen in seinem Kinn und warte gespannt auf seine Version dieses magischen Moments. Ray legt seinen schönen Kopf zurück und sinniert einen Moment. Dann sagt er: »Ich dachte, du seist diese Clara, mit der ich an diesem Abend einen trinken wollte.« Aber er mag sagen, was er will, ich werde dem Schutzheiligen der neurotischen Impulse ewig dankbar sein und auch dem Schutzpatron der verborgenen Fähigkeiten opfern, dass ich seit meiner Kindheit die Spiegelschrift beherrsche. Bevor ich einschlafe, mache ich mit dem Schutzheiligen der Kleptomanen einen Deal: Wenn Ray morgen anruft, verspreche ich, nicht mehr zu stehlen.