Читать книгу Das Superschnäppchen - Mary Carter - Страница 6
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ОглавлениеNach ein paar quälenden Minuten des Lächelns beginne ich, die Stirn zu runzeln. Soll ich wirklich Kims Rat befolgen? Auch sie steht in der Kartei der Fifth Avenue Temps. Wir lassen uns schon seit Jahren dort vermitteln, während wir nebenbei unsere »kreativen« Karrieren vorantreiben. Kim ist Model, ich Schauspielerin, und bevor Sie jetzt meinen, ich sei auch nur eine von diesen hoffnungslosen naiven Träumerinnen, die nach drei Jahren Schauspielstudium die Bretter der Welt erobern zu können glauben, dann lassen Sie sich gesagt sein, dass Sie sich übel irren. Ich mag zwar mittelmäßig sein, aber ich habe mir meine Mittelmäßigkeit hart erkämpft, und ich denke, das hat durchaus irgendeine Art von Wert. Ich war erst achtzehn, als ich meiner Mutter mitteilte, ich würde Rochester verlassen, um Schauspiel an der Village School of Acting zu studieren, und es ist wohl unnötig, zu erwähnen, dass sie einen kleinen Anfall bekam. Zwei Tage vor meiner Abreise überfielen mich in meinem Zimmer wie ein Eingreifkommando meine Mutter, mein Bruder Zachary und eine Postkarte von meinem Vater mit den Worten: »Ich stimme deiner Mutter zu. Geh aufs College.«
Wir schrien, weinten, flehten (mein Bruder Zach), kauten nervös auf Zitronenstäbchen (meine Mutter) und klauten in Läden im Geiste alles, was nicht niet- und nagelfest war (ich), schafften es aber nach einigen Stunden, zu einer Einigung zu kommen. Ich bekam fünf Jahre Zeit bewilligt, meinen Traum von der Schauspielerei zu verwirklichen, und würde im Gegenzug das Geld, das meine Tante Betty mir fürs College hinterlassen hatte, unberührt lassen. Wenn ich nach den fünf Jahren noch ohne festes Engagement war, würde ich mit Tante Bettys Geld studieren und einen College-Abschluss machen, damit ich eine vernünftige Arbeit bekommen und genauso unglücklich werden konnte wie jeder andere auch.
Und so verbrachte ich die Zeit zwischen achtzehn und dreiundzwanzig damit, meine Schauspielqualitäten auszufeilen und mich mit dem zu bewaffnen, was mich zu einer Dreifachbedrohung machen würde. Eine »Dreifachbedrohung« ist eigentlich jemand, der Schauspieler/Sänger/Tänzer ist, aber da ich mich weder im Singen noch im Tanzen besonders hervortat, beschloss ich, alles mitzunehmen, was man so mitnehmen kann, und hoffte, dass mich die extensiven außerplanmäßigen Aktivitäten wenn schon nicht zu einer Dreifachbedrohung, dann wenigstens zu einer Gefahr im Allgemeinen heranbilden würden.
Also nahm ich Stunden in Bewegung, Stepptanz, Oboe, »Improvisation für den seriösen Schauspieler«, »Braten im Wok«, »Für die Kamera darstellen«, Bühnenpräsenz und belegte Shakespeare und sogar einen Sprechkurs, in dem ich mindestens hundert verschiedene Zungenknoten lernte, die meine Aussprache verbessern sollten. Ich war ein skatender, nähender, bratender Kugelblitz.
Nachdem ich nach drei Jahren mit der Ausbildung fertig war (obwohl ein wahrer Schauspieler niemals zu lernen aufhört), stürzte ich erhobenen Hauptes (ein kurzes Gastspiel in einem Mädchenpensionat half mir dabei enorm) in die Welt der New Yorker Vorsprechen und steckte jedes bisschen Energie in meinen Traum, ein bezahltes, festes Engagement zu bekommen. Doch mit Ausnahme von zwei Stücken (ohne Gage), schrägen Werbespots (Bezahlung in Naturalien; ich habe noch immer eine Schublade voll Vaginalcreme), Videos für Firmenschulungen (ich mit Schutzhelm) und Studentenfilmen (ich musste ein sehr besoffenes Mädchen spielen, das mit einem sehr besoffenen Typen in seinem stinkigen Zimmerchen rumfummelte) kam ich nicht wirklich weiter.
Mein einziges festes Einkommen als Schauspielerin hatte ich einen Sommer, als ich mit einem Krimi-Dinner-Programm auf Tour ging, bei dem mein einziger Satz »Ich habe Hunger« lautete. (Ich stelle mir gerne vor, dass meine Interpretation dieses Satzes, wie kurz er auch gewesen sein mag, allen anderen die Show gestohlen hat. »Ich habe Hunger« ist in seiner Bedeutung sehr vielschichtig; denken Sie nur an all das, auf was man Hunger haben kann – Ruhm, Schönheit, Sex, Drogen, Rock ’n’ Roll oder KitKat-Riegel –, und Sie verstehen, was ich meine.)
Aber das war’s dann auch schon, und plötzlich waren meine fünf Jahre um. Also schrieb ich mich wie versprochen mit dreiundzwanzig an der NYU ein. Um meiner Familie einen Gefallen zu tun, belegte ich keinen einzigen Schauspielkurs. Ich überdauerte drei Jahre und drei verschiedene Hauptfächer, und vielleicht hätte ich es sogar geschafft, meinen Abschluss zu bekommen, um als Personalchefin in Zukunft in irgendeinem stickigen Büro vor mich hin zu dümpeln, zum Mittag Gin zu trinken und in Erinnerungen an meine Tage als erfolglose Schauspielerin zu schwelgen, wenn nicht eines denkwürdigen Abends mein Leben auseinandergefallen wäre. Und so ungern ich an diesen Abend denke, so betrachte ich ihn doch als Weckruf. Ich hörte darauf und stieg aus. Zum Teufel mit meinem Versprechen – ich wollte noch immer Schauspielerin sein.
Doch ich bin immer noch nicht besonders weit gekommen. Die letzten drei Jahre habe ich vor allem gekellnert, Hotdog-Gutscheine im Kostüm (na, als was wohl?) verteilt und als Aushilfe gearbeitet. Irgendwann begann ich, mir einzureden, dass mein Problem auf folgende Formel zu reduzieren sei: In der Schauspielerei ist der Körper dein Instrument, und mein Instrument hat Orangenhaut.
Und um meine Frustration noch zu steigern, bekommt Kim tatsächlich Modeljobs, während ich umsonst von einem lausigen Vorsprechen zum nächsten wetze. Ich habe seit meiner Off-off-off-usw.-Broadway-Aufführung vor Monaten nicht mehr gespielt. In dem Stück ging es um einen psychopathischen Mörder, der ins Kloster geht. Ich musste eine nymphomanische Nonne spielen und hatte vier Sätze zu sagen. Sieben, wenn man »O Gott, o Gott, o Gott« als drei wertet. Es lief weniger als eine Woche lang und war nicht wirklich bezahlt. Eigentlich hat es mich mit den Porträtfotos, Probenraumgebühren, Plakaten, Programmen, Rundmails und Ähnlichem über tausend Dollar gekostet.
Und dann waren da noch die zweihundert Dollar für den Kräuterumschlag, der unansehnliche Zentimeter über Nacht schmelzen lassen sollte. (Hat er nicht getan. Stattdessen habe ich zwei Tage lang nach gekochtem Kohl gerochen, und niemand wollte mir zu nahe kommen. Vielleicht war das der Sinn. Je weiter die Leute von dir entfernt sind, umso dünner wirkst du.) Aber das ist schon okay. Ich habe alles mit Kreditkarte bezahlt, und es sollte in zehn Monaten getilgt sein. Zehn Monate sind nichts. Wenn man nicht willens ist, in sich selbst zu investieren, wie kann man dann erwarten, dass es jemand anderer tut? Alles wird gut. Ich brauche nur eine nette, dauerhafte Zeitarbeit. Aber Jane Greer hat meine Anrufe seit einer Woche ignoriert. Tja, bis jetzt.
»Also, ich mache mir ja gar keine großen Sorgen«, lüge ich. »Okay, sie will mich also sehen. Aber ich habe schließlich nichts Böses getan.« Das stimmt allerdings nicht so ganz. Ich hatte in letzter Zeit eine Menge Alptraumjobs, und es ist durchaus möglich, dass ich mich bei einem ein winzig kleines bisschen danebenbenommen habe. Ich habe Darlehensanträge für eine Versicherungsgesellschaft bearbeitet, was allein schon Grund genug ist, sich selbst die Kehle durchzuschneiden und mit dem eigenen Blut »Hilfe« auf die Kabinenwände zu schreiben, aber für einen kreativen Menschen wie mich war der Job die reine Folter. Mein direkter Vorgesetzter, Tom Spencer, hatte die Frechheit, mir zu sagen, dass ich eine Wahnsinnsfrau wäre, wenn ich »um den Arsch rum ein bisschen weniger« hätte. Die Tatsache, dass ich gerade eine Zimtschnecke aß, machte den Spruch nur noch demütigender. Es ist also im Bereich des Möglichen, dass ich diesem Drecksack auf sein Angebot einer Festanstellung gesagt habe, ich würde mich lieber nackt ausziehen und an eine Neonreklame hängen als für ihn arbeiten.
Na ja, das hätte ich am liebsten gesagt, aber wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, könnte mir herausgerutscht sein: »Ich würde mich lieber nackt ausziehen und an eine Neonreklame hängen, als mit Ihnen ins Bett gehen.« Ich wollte das wirklich nicht sagen, aber er sah mich so anzüglich an, als er mir den Job anbot, und sofort erschien vor meinem inneren Auge das Bild von seinem schwabbeligen, haarigen Körper, der sich wie ein ganzes Netz voll toter Fische auf mich herabsenkte.
»Jedenfalls viel Glück«, sagt Kim. »Gehen wir zu Juan’s zum Dinner?«
»Glaubst du wirklich, dass es so schlimm wird?« Juan’s ist unser Lieblingsmexikaner um die Ecke. Wir gehen immer dorthin, wenn einer von uns in einer Krise steckt, und bemitleiden uns bei den »drei Musketieren« – Fett, Salz und Tequila. Kim hört auf, in der Vogue zu blättern, und schenkt mir ein Discount-Lächeln. »Also Juan’s«, sage ich und kämpfe die Tränen zurück.
Sie wackelt mit den Zehen. »Du kannst dir was von mir ausleihen, wenn du willst.«
Ich nicke und mache mich auf den Weg in ihr Zimmer.
Kims Schlafzimmer ist im Gegensatz zu meinem tadellos aufgeräumt. Es sieht aus wie ein Mini-Barneys. Sie besitzt von Foto-Shootings und Musterverkäufen tonnenweise Klamotten, Make-up und Accessoires. Ich könnte ganze Tage hier drin verbringen. Aber ich weiß schon, was ich will. Ihren himmelblauen Kaschmirpulli. Ich nehme ihn von dem mit rosafarbener Seide bezogenen Bügel und drücke ihn an mich. Pure Glückseligkeit. Ich weiß, was Sie jetzt denken, aber Sie irren sich. Ich habe strenge Grundsätze, was das Klauen angeht, und ich nehme niemals etwas von Freunden oder Familienmitgliedern. Kims Sachen sind nicht gefährdet, und ich weiß, wie lieb es von ihr ist, dass sie sie so großzügig verleiht. Das ist ein Grund dafür, warum ich es ertrage, mit einem derart schönen Menschen zusammenzuwohnen.
Ich meine – wirklich, wenn ich die Wahl hätte, würde ich mich lieber mit hässlichen Menschen umgeben. Wer nicht? Ideal war’s doch, Freundinnen zu haben, die so attraktiv sind, dass die Jungs in der Bar rüberschauen, aber gleichzeitig auch so unansehnlich, dass man selbst die Einzige ist, mit der sie sich dann unterhalten wollen. Aber mit Kim an der Seite könnte ich einem Kerl die Brieftasche aus der Hosentasche ziehen (das tue ich wirklich selten, ich schwöre es), und er wäre so hin und weg von ihr, dass er mich am nächsten Tag nicht einmal mehr identifizieren könnte. Sobald sie Kim sehen, bin ich verschwunden. Puff! Außer für Ray. Ray, Ray, Ray, Ray, Ray. Den schönen, wundervollen Ray. Er ist nicht im Geringsten an Kim interessiert. Das ist auch einer der Gründe, warum ich nicht bereut habe, so bald nach unserem ersten Treffen schon mit ihm ins Bett gesprungen zu sein (vier Stunden später, um genau zu sein).
»Oh!«, macht Kim, als ich mich in ihrem himmelblauen Kaschmirpulli und meinem schwarzen Mini vor ihr aufbaue.
»Sieht das gut aus?«, frage ich, als ich ihren komischen Ausdruck sehe. »Stimmt was nicht?« Ich verrenke mir den Hals, weil ich meinen Hintern inspizieren will.
»Deine Rückseite sieht gut aus«, sagt Kim. »Es ist der Pulli.«
»Nicht meine Farbe?«
»Im Gegenteil. Sie unterstreicht das Blau deiner Augen.« Ich warte. »Das ist ein Geschenk von Charles«, sagt sie schließlich. »Ich habe ihn noch kein einziges Mal getragen.« Charles ist ihr neuster Beau. Er ist so alt wie wir und ausgerechnet Arzt. Die beiden sind eine wandelnde Küchendesignreklame: »Die perfekte Verbindung von Schönheit und Intelligenz.« Und aus dem verträumten Ausdruck, der in den vergangenen Wochen immer wieder über Kims Gesicht huscht, schließe ich, dass ich nicht die Einzige bin, die bis über beide Ohren verliebt ist.
»Vielleicht sollte ich mir lieber was anderes suchen«, sage ich enttäuscht. Der Pulli gibt mir wirklich das Gefühl, viel schöner zu sein. Ich hatte gehofft, dass ich, wenn ich ihn trage, nicht zum Klauen verführt werde.
»Du kannst ihn anbehalten«, sagt Kim schließlich. »Pass nur gut drauf auf.«
»Verspreche ich. Und ich lasse ihn danach reinigen.«
»Viel Glück«, sagt sie. Zum dritten Mal schon. Ob sie es bemerkt hat? Und inzwischen fange ich an zu glauben, dass ich es brauchen werde.
Und so werde ich sterben:
FIFTH AVENUE TEMPS
Zeitarbeiterin: Melanie Zeitgar
Anstellung: Versicherungsabteilung/Todesfälle und Verlust diverser Körperglieder
Aufgabe: Kundenwerbung via Telefon
Dauer: Drei Stunden
Hallo? Dürfte ich mit Mr. oder Mrs. Davis sprechen? Ich bin Melanie von J. D. Harrold’s Lebensversicherungsabteilung. Ich habe eine tolle Neuigkeit für Sie. Wir bieten Ihnen eine drei Monate beitragsfreie Versicherung auf Todesfall und Zerstückelung an. Ja, ganz richtig! Wenn Sie in den nächsten drei Monaten ein Körperglied oder Ihr Leben verlieren, zahlen wir an Sie oder entsprechend an Ihre Familie. Fünfzehntausend Dollar für Finger oder Zeh, fünfzigtausend für einen Arm oder ein Bein und unglaubliche hunderttausend, falls Sie durch einen tragischen Unfall versterben. Hallo? Hallo?
Fifth Avenue Temps liegt in Midtown Manhattan nur ein paar Blocks vom Hauptgebäude der New York Public Library entfernt. Meistens bleibe ich einen Moment vor der Bücherei stehen, um die Steinlöwen zu betrachten, die den Eingang flankieren. Sie geben mir Kraft, und heute brauche ich die auch. Ich stehe also eine Weile da und starre in ihre kalten Steinaugen, bis ich mich etwas besser fühle. Ich sehe auf die Uhr. Viertel vor acht. Ich habe noch Zeit, mir einen Kaffee und einen Muffin zu besorgen. Dann fällt mir wieder ein, dass heute der Tag ist, an dem ich den Süßigkeiten entsage und mich fortan nur noch gesund ernähren und viel bewegen will, aber im Angesicht der Situation muss ich das noch etwas aufschieben. Wenn bei Jane alles gut verläuft, dann fang ich eben morgen mit dem gesunden Leben an.
Ich liebe die New Yorker Delis. Die Eimer mit frischen Blumen und das Sortiment farbenfroher Früchte und Gemüse vor den Läden sind der Traum eines jeden Ladendiebs. Es ist ein Kinderspiel, im Vorbeigehen eine Orange oder eine Kiwi mitgehen zu lassen, denn hier gibt es weder Kameras noch Sensoren. Dennoch klaue ich eigentlich kaum noch Obst. Erstens, weil ich es nicht in meinem Schrank verstecken kann (es handelt sich ja schließlich nicht um eine ägyptische Pyramide, in der, wenn direkt im Zentrum plaziert, das Obst auf mysteriöse Weise konserviert wird), und zweitens, weil mir Obstdiebstahl nicht den ultimativen Kick verschafft. Ich würde jederzeit eine Bodylotion einer Grapefruit vorziehen.
Ich zögere bei einem Strauß gelber Rosen. Sollte ich Jane welche mitbringen? »Nur eine Kleinigkeit, um den Tag ein wenig zu verschönern«, kann ich sagen und ihre überbordende Dankbarkeit lässig abwehren. Ich nehme die Blumen. Lege sie wieder zurück. Ich nehme sie wieder auf und atme ihren feinen, pudrigen Duft ein. Ganz leicht berühre ich die Blütenblätter. Eins fällt ab und bleibt in meiner Hand kleben. Keine Blumen. Ich lege sie weg und betrete das Deli.
»Wer etwas kaputt macht, muss es kaufen.« Sie ist direkt hinter mir, eine stämmige, dunkle Frau mit buschigen Augenbrauen und einem eindringlichen Blick. Sie hält mir die gelben Rosen entgegen.
Ich hebe die Hände, als ziele man auf mich. »Ich will sie nicht.«
Sie schiebt sie mir wieder entgegen. »Wer etwas kaputt macht, muss es kaufen.«
Ich gehe zur Theke. »Einen normalen Kaffee und einen Chocolate-Chip-Muffin«, sage ich zu dem Mann dahinter.
Sein Blick wandert von mir zu den gelben Rosen. Die Frau spricht in rasantem Tempo in einer Sprache auf ihn ein, die ich nicht erkenne, geschweige denn verstehe. Er antwortet, und sie überreicht ihm den Strauß wie die olympische Fackel zu Beginn der Spiele. Er legt die Rosen neben meinen Kaffee und den Muffin. »Achtzehn Dollar.«
Ich wühle in meinem Portemonnaie und gebe ihm einen Zwanziger. Ich blicke über die Schulter, um zu sehen, ob ich noch bewacht werde, aber die Frau ist bereits wieder gegangen, um anderen unschuldigen, an Blumen schnuppernden Kunden aufzulauern.
Meine rechte Hand sinkt auf den Süßigkeitenstand herab, und meine Finger tanzen über die Schokoriegel, als spiele ich Klavier. Ich lasse verschiedene Dinge in meiner Tasche verschwinden, und zwar mit einer Leichtigkeit, die jeden Zauberer beeindrucken würde. Auch wenn ich die elf Dollar für die Rosen nicht komplett hereinholen kann, gelingt es mir, KitKat-Riegel, eine Tüte M&Ms (Neu! Zwanzig Prozent mehr!) und eine Schachtel Chicklets einzusacken. Diäten beginnen immer erst am nächsten Tag.
»Chicklet?« Ich halte ihr die gelbe Schachtel hin wie einen Ölzweig.
»Nein danke«, sagt Jane knapp, während sie ihre Sojamilch und die Grapefruit so positioniert, dass sie sich klar von meinem Kaffee und dem Muffin abgrenzen. Dann wendet sie sich wieder ihrem Bildschirm zu und ignoriert mich. Ich beginne zu schwitzen. Fünf Minuten verstreichen. Fünf ganze Minuten, und sie hat noch nichts zu mir gesagt. Sie ist ans Telefon gegangen und hat freundlich mit den Anrufern gesprochen, sie hat andere Leiharbeiter angestrahlt, die hereingekommen sind, und quälende zwanzig Sekunden hat sie an ihren Nägeln gefeilt. Schließlich hole ich die gelben Rosen hervor und halte sie ihr hin.
»Nur eine Kleinigkeit, um den Tag ein wenig schöner zu machen«, quieke ich.
Jane hört auf, sich die Nägel zu feilen, und sieht mich an. Sie ist hübsch, in Brooklyn geboren und aufgewachsen, von italienischer Abstammung, und hat die Mentalität eines Generals, der keine Gefangenen macht.
»Blumen, Melanie? Du hast mir Blumen mitgebracht?« Sie sticht ihren frisch manikürten Fingernagel in meine Richtung, als sei er ein ferngesteuerter Marschflugkörper mit meinem Kopf als Ziel. »Hol mir doch eine Vase, ja? Dahinten.« Sie deutet mit der Nagelfeile auf die winzige Küche hinter ihr. Gehorsam hole ich eine Vase und arrangiere die Blumen darin, während sie auf ihrer Tastatur tippt und geheimnisvolle Notizen am Rand ihres Tischkalenders macht. »Also gut. Plaudern wir ein bisschen.«
Sie zieht eine Schublade auf, holt einen Stapel rosafarbener Gesprächsnotizen heraus und klatscht sie mir vor die Nase. »Weißt du, warum du hier bist?«
»Weil du einen tollen Job für mich hast?«, frage ich mit einem nervösen Lachen. Sie antwortet mit einem kalten Blick. Ich schaudere. Sie nimmt den ersten Zettel in die Hand und liest vor. »Banco de Popular de Puerto Rico.« Uh-oh. »Was bedeutet« – sie hält sich den Zettel dicht vor die Augen und zieht die Nase kraus – »Una cerveza por favor?«
»Ein Bier bitte«, übersetze ich ihr.
»Das weiß ich«, sagt sie beherrscht. »Und warum hast du das gesagt?«
»Es war ein Scherz. Die Frau, die mich eingearbeitet hat, fragte, ob ich Spanisch kann.«
»Sie meint, du hättest diesen Satz immer wieder gesagt.«
»Das wollte ich eigentlich nicht. Aber sie hat mir dauernd neue Arbeit auf den Tisch geladen und dann gefragt, ob ich etwas brauchte. Ich wollte damit nur die Stimmung ein bisschen aufhellen.«
Jane nahm den nächsten Zettel. »Bank of America. Sie sagen, du hast den ganzen Nachmittag Solitär gespielt.«
»Ich hatte nichts zu tun.«
»Ich war noch nicht fertig. Das Spielen fanden sie nicht schlimm, aber es hat ihnen nicht gefallen, dass du dauernd ›Fuck, fuck, fuck‹ gebrüllt hast.«
»Ich hatte wirklich miese Karten. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung, aber ... tut mir leid.«
»Und zu guter Letzt behauptet Tom Spencer von Spencer Insurance, dass du ihm einen unsittlichen Antrag gemacht hast.«
»Was?« Ich springe von meinem Stuhl auf und rupfe ihr den Zettel aus der Hand. »Das ist Bullshit. Totaler Blödsinn!«
Sie nimmt mir den Zettel wieder ab, wobei sie mich mit einer ihrer Speerspitzen kratzt. Ein weißer Strich erscheint wie der Kondensstreifen eines Flugzeugs auf meiner Hand.
»Du hast also nicht gesagt, du würdest dich nackt ausziehen und an eine Neonreklame hängen?«
»Das ist aus dem Kontext genommen. Vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen.« Ich lasse mich wieder auf meinen Platz fallen und stopfe mir den Rest Muffin in den Mund. »Hast du Tom Spencer mal gesehen?«, frage ich verzweifelt und beschwöre vor meinem inneren Auge seinen Kahlkopf und seinen Schwabbelbauch herauf. »Kannst du dir ernsthaft vorstellen, dass jemand mit dem ins Bett will?«
Jane überrascht mich, indem sie den Kopf zurückwirft und laut zu lachen beginnt. »Okay, der Punkt geht an dich.« Sie zerknüllt den Zettel und wirft ihn durch den Raum. Er landet in einem Blumentopf.
»Danke«, sage ich. »Von jetzt an zeige ich mich nur von meiner besten Seite.«
»Das wollte ich von dir hören.« Sie nimmt ein Kärtchen in die Hand, schreibt eine Adresse darauf und gibt es mir.
»Parks and Landon«, lese ich. »Rechtsanwaltsbüro?« Mir geht es sofort besser. Das ist gut. Sie kann nicht zu sauer auf mich sein, wenn sie mich in eine Großkanzlei schickt.
»Exakt. Der Job geht mindestens über sechs Wochen. Vielleicht sogar länger.«
Es ist eine unglaubliche Leistung, dass ich nicht schreie. Ich nicke gelassen, als hätte ich es erwartet. Sechs Wochen als Anwaltssekretärin. Unfassbar. Ich überschlage im Kopf: vierzig Stunden pro Woche bei fünfundzwanzig Dollar die Stunde. Oder kriegen Anwaltssekretärinnen mehr?
»Die Angestellte in der Registratur ist in Mutterschutz«, sagt Jane.
Ich nicke und lächle und frage mich, was mich das anginge.
»Natürlich kann ich dir nicht das übliche Gehalt zahlen«, sagt sie. Ich hatte recht. Anwaltssekretärinnen verdienen mehr.
»Wie viel mehr?« Ich drücke mir die Daumen, dass es mindestens fünf Dollar extra gibt. Aber was, wenn es zehn wären? Zusätzliche zehn Dollar die Stunde? Ich kann meine Schulden bezahlen und vielleicht sogar einen Kurzurlaub einplanen. Ja, genau das werde ich tun. Ray und ich könnten ein Wochenende nach Atlantic City düsen. Tolle Ausrede, um ihn anzurufen. Ich beschwöre den Schutzheiligen der Lohnerhöhungen. Wenn ich zehn Dollar mehr kriege, stehle ich nie wieder.
»Nicht mehr. Weniger«, zischt Jane ungeduldig. Ich drehe den Kopf, um zu sehen, mit wem sie spricht. Ich hasse diese Freisprechdinger mit Stöpsel im Ohr. Es sieht beinahe so aus, als ob sie mit mir spricht. »Melanie, du weißt, dass eine Angestellte in der Registratur nicht so viel verdient, wie du gewohnt bist.«
»Das versteh ich nicht.«
»Was verstehst du nicht?«
»Warum sollte mich interessieren, was eine Angestellte in der Registratur verdient?« Und dann begreife ich, und das Entsetzen packt mich. »Du meinst – mich? Ich bin diese Angestellte?« Ich bekomme die Worte beinahe nicht heraus. Sie sind so ungeheuerlich, dass sie nicht auf meine Zunge wollen. »Jane! Ich bin Verwaltungsassistentin!« Ich setze mich so gerade auf, wie ich kann, und versuche, mich mit einer verwaltenden Aura zu umgeben. »Ich bin Anwaltssekretärin. Projektmanagerin. Ähm ... Beraterin.« Ich stoße Berufsbezeichnungen aus und werfe sie ihr auf den Tisch wie ein Kartengeber im Casino die Spielkarten. »Einmal. Einmal war ich Hospitality-Agent – bei Estée Lauder –, aber das nur, weil du niemanden sonst hattest, den du einsetzen konntest, weißt du noch? Und sogar da hast du mir das Gehalt gezahlt. Auch weil sie mich absolut liebte. Estée Lauder hat mich geliebt.« Ich schlage zur Unterstreichung mit der Hand auf den Tisch. (Um die Wahrheit zu sagen, ich bin mir nicht sicher, ob die ältere Frau, der ich im Fahrstuhl begegnet bin, wirklich Estée Lauder gewesen ist, aber sie hatte ungefähr das richtige Alter, ein gesticktes E auf dem Pulli, und sie roch nach Babypuder und getrockneten Rosen, also kann es durchaus sein.)
»Ich bin noch nie eine Aushilfe gewesen. Noch nie. Ich tippe fünfundneunzig Wörter in der Minute, Jane. Welche simple Bürokraft kann das schon?« Ich lehne mich zurück und verschränke die Arme vor der Brust. Ich will ja nicht mit meinen flinken Fingern angeben – aber Angestellte in der Registratur! Ich bitte Sie!
»Tut mir leid! Etwas anderes habe ich momentan nicht«, sagt Jane. Sie wendet sich ab und widmet sich wieder ihrem Bildschirm.
»Aha«, sage ich, weil mir nichts anderes einfällt.
»Vielleicht, wenn du diesen Job gut erledigst ...«, sagt Jane und lässt den Satz in der Luft hängen.
»Ja, bitte, bitte. Ich verspreche es. Ich zeige mich von der besten Seite.« Ich lege die Hände zusammen. Toll. Nur eine Viertelstunde, und ich bettele schon.
»Diese Stelle muss wirklich dringend besetzt werden, Melanie«, sagt sie und presst stur die Kiefer zusammen. Ich beäuge die Rosen und überlege, ob ich sie wieder an mich nehmen soll.
»Komm schon.« Ich hoffe wider besseres Wissen, dass es mit Vernunft funktioniert. »Hier sind hundert Zeitarbeiter, die den Job sofort machen würden. Jemand, der weniger qualifiziert ist. Schick einen von denen.«
»Ich habe schon vier Leute hingeschickt.«
»Und?«
»Der Job hat sich als anspruchsvoll erwiesen.«
»Das kann ich mir wahrhaftig nicht vorstellen.«
»Ich ziehe dich ab, sobald sich etwas Besseres ergibt.«
»Eine Woche. Und du bezahlst mir mein Gehalt.«
»Zwei Wochen. Und ich gebe dir das Gehalt einer Empfangsdame.« Ich sinke auf meinem Stuhl zurück und nicke. »Du sollst um neun da sein.«
»Also morgen um neun. Okay.«
»Heute um neun, Melanie.« Sie sieht mich von oben bis unten an, und ich bin froh, dass ich Kaschmir trage. »Sei pünktlich und zieh dich etwas businessmäßiger an.« Sie wendet sich wieder zu ihrem Computer um. Unser »Geplauder« ist vorüber. »Und denk dran«, sagt sie, als ich schon fast aus der Tür bin. »Du bist zwei Punkte im Rückstand ...«
»Und du bist der Baseballcaptain«, beende ich den Satz für sie. Zwei Wochen als billige Hilfskraft. Sie spielt nicht nur Baseball, sie stampft mich in Grund und Boden. Aber welche Wahl habe ich schon? Wenn sie will, dass ich es fresse und zwei Wochen Hiwi-Arbeiten mache, dann fresse ich es eben. »Keine Sorge. Ich bin ganz brav.«
»Daran zweifle ich nicht. Besonders, da Trina ein Auge auf dich haben wird.«
Ich erstarre im Türrahmen. »Trina wer?«, sage ich und versuche dabei, die Angst, die mich packt, aus meiner Stimme zu halten. Bitte nicht Trina Wilcox. Nicht Trina Wilcox. Bitte, bitte, bitte bloß nicht Trina Wilcox. Ich kreuze die Finger. Bete zum Schutzheiligen der Namensvetterinnen. Bitte, bitte, bitte, lass es nicht Trina Wilcox sein.
Jane lächelt. »Trina Wilcox.« Ich habe schon vier Leute hingeschickt. Der Job hat sich als anspruchsvoll erwiesen. O Gott. »Kennst du Trina?«, fragt Jane nun lieblich. Ich lächle und nicke, wende aber den Blick ab. Jane verabscheut Zwietracht innerhalb der eigenen Reihen. »Ist das ein Problem?«, will sie wissen. Wissen Sie jetzt, was ich meine? Die Frau ist ein Bluthund.
»Nein, nein, Trina ist toll«, erwidere ich mit gezwungenem Enthusiasmus.
Jane nickt zufrieden. »Bei Parks and Landon ist man absolut begeistert von ihr. Ich denke, man wird ihr eine Festanstellung anbieten.«
»Oh.«
»Nicht, dass sie annehmen würde. Über kurz oder lang wird ihre Modelkarriere abgehen wie eine Rakete. Ich meine, sie ist perfekt, oder? Ein echtes Puppengesicht.«
»Da stimme ich dir absolut zu«, sage ich (und lüge nicht einmal, wenn man unter »Puppe« so etwas wie Chuckie aus diesen Horrorfilmen versteht). Ich hebe meinen Blick zum Himmel und bete zum Schutzheiligen der gemeinen Weiber um Gnade. Trina Wilcox ist mit Kim befreundet. Trina Wilcox ist Rays Exfreundin. Trina Wilcox hasst mich.