Читать книгу Das Superschnäppchen - Mary Carter - Страница 7
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ОглавлениеDraußen kippe ich die ganze Schachtel Chicklets in meinen Mund und kaue Kaugummi-Dragees. Davon tun mir die Kieferknochen weh, aber der Schmerz ist mir willkommen. Trina Wilcox. Die Böse Hexe der West Side. Ich sollte umkehren und nach Hause gehen. Ich sollte zurückgehen und Jane Greer sagen, dass ich mich weigere, mit Trina Wilcox zu arbeiten. Ich hätte die Rosen wieder mitnehmen sollen.
Ich gehe zur U-Bahn und beschwere mich murmelnd wie ein aus der Anstalt entwichener Geisteskranker. Das macht nichts – die einzigen Leute in New York, die einem ins Gesicht blicken, reden auch mit sich selbst, so dass es keine Rolle spielt, ob ich wie ein Psycho daherkomme. Ich hätte einem Job in der Registratur nicht zustimmen dürfen. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Ich bin eine neunundzwanzigjährige Angestellte in der Registratur. So sollte mein Leben nicht verlaufen. Ich müsste eine berühmte Schauspielerin mit einem Loft in SoHo sein, und wenn schon nicht mit einem tollen Mann und einem Baby im Bauch, dann doch wenigstens mit einem halbwegs attraktiven bodenständigen Freund, der eine Green Card besitzt.
Du hast Ray, sagt ein Stimmchen in mir. Ja, zum Glück.
Aber es ist ein bisschen zu früh, um ihn schon »meinen Freund« zu nennen, oder? In meinem Bauch prickelt es bei dem Gedanken daran. Vielleicht ist er ja schon mein Freund – aber ich denke nicht daran, mich an Begriffen aufzuhängen. Wir sind beide erwachsen und haben in beiderseitigem Einverständnis eine sexuelle Beziehung. Wir mögen in Hinsicht auf regelmäßiges Kontaktieren ein wenig unterschiedlicher Meinung sein, aber ich denke, das wird sich auswachsen. Ich meine, man kann keinen Mann zwingen, einen anzurufen. Ich habe ihm bereits eine E-Mail geschrieben und zweimal auf die Mailbox gesprochen, jetzt ist er dran.
Es sei denn, er hat meine Nachrichten nicht bekommen. Die Technik ist unberechenbar. Vielleicht denke ich, er ignoriert mich kaltherzig, während ich irgendeinem Funkmast Gott weiß wo (New Jersey – ich schiebe alles auf New Jersey!) die Schuld geben muss! Äh ... hallo? Melanie? Hör auf zu träumen, er hat deine Nachrichten garantiert bekommen. Wie stehen wohl die Chancen, dass gestern drei Nachrichten an denselben Adressaten verschwunden sind? Eben. Aber wenn ich schon mein Liebesleben nicht in den Griff kriege, dann doch wenigstens meine berufliche Karriere. Jane hat ihre Waffe geschickt geführt, und ich hab das Feld schon geräumt, bevor sie zum ersten kleinen Schlag ausgeholt hatte. Mein Gott, wie hab ich bloß so dumm sein können?
Aber vielleicht mache ich mir umsonst Sorgen. Vielleicht hasst Trina mich ja doch nicht. Es ist eine Chance, noch einmal neu anzufangen und einander kennenzulernen. Wenn sie bei den anderen vier Leuten gnadenlos gewesen ist, dann haben sie das wahrscheinlich verdient. Ich meine, vielleicht haben sie »Z« unter »A« abgelegt. In diesem Fall hätte ich sie auch rausgeschmissen. Außerdem sind es ja nur zwei Wochen. Zwei Wochen erstklassiges Benehmen, und ich stehe wieder in Janes Gunst. Also – positiv denken! Ja, genau! Von nun an werde ich eine positive Einstellung zum Leben haben. Ich höre auf zu stehlen, werde vorsprechen gehen und mein Liebesleben nicht mehr mit Labels versehen. Dann werde ich mich auch wieder glücklicher fühlen. Ich war davon zu besessen. Entspann dich, Melanie! Von nun an hast du keine Erwartungen mehr. Nur so kann man das Leben genießen.
Ich blicke auf die Visitenkarte. Das Anwaltsbüro befindet sich an der 28th zwischen Park und Madison. Ich könnte die 1 bis Penn Station nehmen und ein paar Blocks zu Fuß gehen. Ich kürze einfach durch den Garment District ab und –
Garment District. Die Worte haben einen psychotropen Effekt auf mich. Die Luft um mich herum verschiebt sich plötzlich ein wenig, und alles leuchtet etwas heller. Gott, ich liebe es, im Garment District zu klauen. Ich könnte stundenlang das Terrain sondieren, liebevoll mit den Fingern über brandneue, wunderschöne Pullover streichen – und kleine Parfumflaschen in meinen Taschen verschwinden lassen. Ein kleines Hochgefühl wäre jetzt nicht schlecht. Dann würde ich den ganzen Ärger über Trina Wilcox für ein Weilchen vergessen. Verführerische Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum. Das würde das Universum wieder ins Gleichgewicht bringen. Ich stehle gar nicht genug, um jemandem finanziellen Schaden zuzufügen. Ich tue eigentlich niemandem weh. Nobody’s perfect. Ich könnte stattdessen so viele schrecklichere Dinge tun ... Und ich finde, das stimmt. Ich fahre nicht einmal Auto. Ich gehöre nicht zu den Millionen Menschen, die die Umwelt verschmutzen oder sich noch hinters Steuer klemmen, wenn sie getrunken haben. Und, okay, ich bin jetzt nicht wirklich abstinent, aber ich hab’s neulich noch einmal überprüft: Betrunken zu Fuß gehen schadet keinem, außer vielleicht hier und da einer Taube. Und ich meine – wie hätte ich auch wissen sollen, dass sie mit ihren kleinen Krallen in Kaugummi feststeckte? Im Übrigen sollte sie froh sein, dass ich sie umgerannt habe; andernfalls hätte sie möglicherweise die ganze Nacht in dem Gummi stecken müssen.
Himmel, ich könnte ein Junkie oder ein Pornostar sein. Ich bin wahrscheinlich die einzige Schauspielerin auf dieser Erde, die weder raucht noch kokst! Hör auf, Melanie! Du bist durch mit dem Thema Ladendiebstahl. Konzentrier dich auf etwas anderes. Ich hole mein Handy aus der Tasche und rufe Kim an. Sie muss wissen, ob Trina mich hasst oder nicht. Natürlich geht die Mailbox an. »Hey, Kim, ich bin’s. Ruf mich bitte zurück. Ich bin auf dem Weg zu meiner neuen Stelle, und ich muss mit Trina Wilcox arbeiten. Ich weiß ja, dass es dumm ist, aber – hat sie die Sache mit Ray jetzt verdaut, oder nicht?«
Ich muss kichern, als ich auflege. Es ist doch albern, zu befürchten, dass sie noch immer sauer auf mich ist. Ist es nicht lustig, was für unnötige Sorgen wir Menschen uns ständig machen? Bei »Positives Denken für Anfänger«
erfährt man, dass neunzig Prozent aller Sorgen, die wir wälzen, nicht berechtigt sind. Was man fürchten muss, ist die Furcht selbst. Es ist halb neun, und ich bin auf dem Weg zu meinem Job. Okay, ich bin zwar degradiert worden, aber ich werde einen phänomenalen Ablage-Job machen (Ablage machen), und in ein paar Tagen hat Jane bestimmt eine neue Stelle für mich. Spätestens nächste Woche bin ich da wieder raus. Und vielleicht werden Trina und ich allerbeste Freundinnen. Dann lachen wir uns gemeinsam über meine Ängste kaputt. Ja, dies könnte der Beginn meines neuen Lebens sein.
Da haben Sie’s! Ich höre auf zu stehlen. Nicht, weil es besonders bedenklich wäre, sondern weil die Zeit gekommen ist, reinen Tisch zu machen und neu durchzustarten. Hört ihr das, ihr Heiligen? Das war’s. Von nun an bin ich eine gesetzestreue Bürgerin. Ich beschleunige meinen Schritt und lächle breit. Alles wird gut.
Dank dem Schutzheiligen der pünktlichen Bahnen bin ich in wenigen Minuten an der Penn Station. Ich habe sogar noch Zeit für einen Latte. Ich sollte vielleicht nicht innerhalb einer Stunde zwei Kaffee kaufen, aber ich hatte ja keine Chance, den ersten zu trinken, und Starbucks ist direkt gegenüber. Ich habe noch jede Menge Zeit. Danke, Starbucks, danke, danke! Ein Vanille-Soja-Latte entrahmt. Ja, ja, ja, ja! Gott, ich liebe Kaffee. Hmmmmmm! Ich lege ein kleines Espresso-Tänzchen hin. Omeingott! Verdammt! Die haben den Deckel nicht fest genug draufgedrückt. Ich habe mir Kaffee über Kims Kaschmirpullover gekippt! Ein dunkler, schmaler Streifen zieht sich über meine linke Brust hinunter wie der Oregon Trail! Verdammtes Starbucks!
Der Teufel soll dich holen, dass du mir brühend heißen Kaffee ausschenkst, mich vor Freude tanzen lässt! Ich hasse dich! Ich hasse dich, du großer, böser Konzerngigant. Verklagen! Verklagen! Verklagen!
So kann ich jedenfalls nicht zur Arbeit gehen. Wasser bringt nichts; der Oregon Trail ist zum Crater Lake geworden. Fleckig und nass wäre genau das Richtige, wenn wir, sagen wir, in die Rodeo Bar gehen würden, aber für ein Anwaltsbüro ist das ein wenig unangemessen. Ich müsste nach Hause gehen und mich umziehen, aber dazu ist keine Zeit mehr. Andererseits sieht es auch nicht toll aus, wenn ich wie eine Bewerberin für eine Wet-T-Shirt-Wahl auftauche. Besonders, da Miss Du-hast-mir-meinen-letzten-Toy-boy-ausgespannt-Wilcox auf mich wartet. Dabei habe ich ihr und Ray einen Gefallen getan. Man stelle sich nur einmal vor, er müsste immer noch mit ihr zusammen sein. Jeder weiß doch, dass Musiker sehr launisch und Models sehr narzisstisch sind. Nach diesem genetischen Rezept werden zukünftige Politiker gebacken. Ich habe die beiden vor sich selbst gerettet. Aber natürlich muss ich mich der Realität stellen. Selbst wenn Trina über die Seifenschalen-Geschichte hinweg ist, würde sie dennoch keine Gelegenheit auslassen, mich auf die Straße zu setzen.
Nein. Ich kann bei Parks and Landon definitiv nicht in diesem Aufzug aufkreuzen. In diesem Moment sehe ich ein Schild mit drei wunderschönen kleinen Wörtchen. Na ja, genau genommen, drei riesigen Wörtern in Feuerwehrrot. Heute radikal reduziert. Das Schicksal hat mir ein hübsches Kaufhaus direkt in den Weg gestellt. Ich schaue auf die Uhr. Fünf nach halb neun, und ich bin noch zehn Blocks von dem Anwaltsbüro entfernt. Aber ich kann immer noch ein Taxi nehmen. Damit hätte ich gute fünfzehn Minuten, um einen hübschen Schal zu finden, mit dem ich den Fleck zudecken kann. Genau. Ich gehe da hinein und klaue einen Schal. Kaufe einen Schal, kaufe, kaufe. Ich schicke ein kurzes Gebet zum Schutzheiligen der Freudschen Versprecher – ich meinte wirklich kaufen! Sie werden schon sehen. Ich werde wie ein ganz normaler Mensch zur Kasse gehen und bezahlen.
Einen Schal finden ist kein Problem. In einer Viertelstunde hier wieder rauskommen sehr wohl. Drinnen ist es proppenvoll. Und ich meine proppenvoll: Von Wand zu Wand, Hüfte an Hüfte, dazwischen volle Taschen, und über allem ein Hauch von billigem Parfüm. Frauen jonglieren mit Waren wie Volksfestschausteller und schnappen sich reduzierte Teile, als wären es die letzten Stücke Fleisch für ihre hungernde Dorfgemeinschaft. Eine Studie des Niedergangs der menschlichen Rasse. Es ist weder spirituell erhellend noch weiblich, noch feministisch. Es ist Ausverkauf!
Die Gänge sind mit provisorischen Verkaufstischen zugestellt, auf denen grelle Plakate die tiefsten aller Tiefstpreise versprechen. Die Schlange vor der Kasse zieht sich einmal durch den ganzen Laden. Einige Verkäufer lächeln die Kunden noch an, aber andere blicken derart finster, als hätten sie unter dem Tresen eine Kollektion Voodoo-Puppen mit deiner DNS. Man ahnt, dass der Verkäufer, sobald man den Laden verlässt, deine Puppe hervorholt, ihr mit einer Nadel in dein weiches kleines Stoffherz piekt oder dir mehr Orangenhaut an die Schenkel wünscht. Es ist der Tag der Tage in Brewber’s Department Store. Es ist Schlussverkauf – alles muss raus!
Mein Schal weht an einem Haken über einer Reihe glitzernder, bestickter Handtaschen. Er bewegt sich durch die Ausdünstungen schwitzender Körper und den Luftzug der tobenden Schlacht. Hier siegt nicht der Stärkste, sondern der Schnellste. Der Schal, der mir gehört, hängt dort einsam, verletzlich und wunderschön. Er hat ein leicht gedecktes Grün und wirkt so unglaublich weich. Der perfekte Begleiter für den himmelblauen Kaschmirpulli. Jetzt, da ich ihn gesehen habe, weiß ich gar nicht, wie ich den Pulli ohne ihn tragen konnte. Wenn ich den Pullover habe reinigen lassen, werde ich den Schal Kim schenken. Die beiden sind wirklich füreinander gemacht. Wenn es so leicht wäre, einen Mann zu finden wie diesen Schal, dann würde ich nie, nie wieder stehlen.
Um an ihn heranzukommen, muss ich mich allerdings an einer Horde halbwüchsiger Wilder vorbeiquetschen, die sich mit quäkenden Stimmen und strahlendem Lächeln gegenseitig beleidigen. (»Nee, wirklich, ey. Steht dir überhaupt nicht. Du siehst voll komisch damit aus, echt voll krass, ey.«) Endlich bin ich nah genug, um den Schal zu berühren. Weich, ich wusste es. Und frei. Aber als ich den Arm ausstrecke und danach greife, berühre ich Haut. Rauhe, speckige Haut, die einer anderen Frau gehört.
Eine andere Frau hat meinen Schal. Mein Schal sieht dünn und hilflos aus über ihrem fleischigen Arm. Jetzt legt sie meinen Schal in den Wagen – nein, haut ihn auf den Haufen Zeug wie mal eben Salz in einen Eintopf. »Hey!«, rufe ich, aber sie dreht sich nicht einmal um. Sie steigert sogar ihr Tempo, und ich muss laufen, um Schritt zu halten. »Hey!«, rufe ich wieder.
Sie schert zwischen BHs und Slips scharf links ein. Sie will mich abhängen! Ich schlage Haken um Tische mit Duftkerzen und stelle sie vor dem Stand mit Damenuhren. Sie hat noch immer nichts gesagt, hat mich nicht einmal angesehen. Aber ich habe sie praktisch in die Enge getrieben. Sie kann nur noch nach rechts flüchten, und das werde ich verdammt noch mal nicht zulassen. Jetzt versucht sie es, aber ohne mich ... Ich strecke meinen Fuß aus und unter den Wagen, stoppe das Ding. Den Kopf geradeaus, verdreht sie ihre Augen nach rechts und mustert mich wie ein Raubvogel.
»Entschuldigen Sie«, sagt sie und schiebt den Wagen mit einem resoluten Stoß vorwärts. Selbst wenn ich meinen Fuß hätte zurückziehen wollen (was ich nicht will), ist es zu spät. Er steckt zwischen den Stäben der Ablage unten fest. Als die Frau dem Wagen einen Stoß versetzt, bleibt mein Fuß, wo er ist, während mein restlicher Körper sich aus der Senkrechten in die Waagerechte begibt. Als ich auf den Boden aufschlage, schicke ich ein Stoßgebet zum Schutzpatron der Bescheuerten Tricks, dass ich nicht verstümmelt werde. Ich kann ja wohl nicht mit Holzbein bei der Arbeit auftauchen. Mit einer Art losgelöster Neugier höre ich jemanden schreien und wünsche mir, er würde aufhören. Später wird mir klar, dass ich es selbst bin. Unter Umgehung meines Verstands hat sich der Schmerz direkt durch meine Kehle den Weg ins Freie gebahnt. »Hilfe, Hilfe!«, schreie ich. Und wie in einem Fellini-Film bin ich plötzlich umgeben von großen Frauen mit blauem Lidschatten und Clownswangen. Wir haben eine Schar neugieriger älterer Damen angezogen, und meine Nemesis beginnt sofort, die Geschworenen auf ihre Seite zu ziehen.
»Sie hat ihr Bein einfach unter meinen Wagen gestreckt. Einfach da zwischen die Stangen unten reingestoßen.« Die alten Ladys blicken von ihr zu mir und wieder zu ihr. Ich öffne den Mund, um mich zu verteidigen, aber es kommt nur ein Stöhnen hervor. Mein Fuß tut richtig, richtig weh. »Was sollte das?«, schreit mich die dickwanstige Schaldiebin an. Vom Boden aus kann ich sehen, wie ihre Hängebacken beim Brüllen wabbeln. Spucketröpfchen fliegen und hängen an ihrer Unterlippe, und wenn sie das nächste Mal den Kopf schüttelt, tropfen die bestimmt auf mich herunter. Ich reiße die Arme hoch, um mein Gesicht zu schützen, und gewinne sofort den Sympathiebonus.
»Lassen Sie sie in Ruhe!«, schreit eine Frau.
»Helfen Sie ihr doch hoch«, sagt eine andere.
Ich bin ja nicht blöd, ich schmiede mein Eisen, solange es heiß ist. »Mein Schal«, weine ich. »Das ist mein Schal.« Und deute mit dramatischer Geste auf die oberste Lage in dem Einkaufswagen.
»Ihr Schal?« Die Frau nimmt meinen gedeckt grünen Retter und knetet ihn in den schwitzigen Fingern. »Nein, meine Liebe. Das ist mein Schal.« Sie verstaut ihn in den Tiefen ihres Einkaufswagens. Ich blicke in die Gesichter der Gaffer. Sie beginnen, die Stirn zu runzeln. Sie wissen nicht, wem sie glauben sollen. »Sie hat mich verfolgt!«, schreit die Dicke. »Sie ist mir hinterhergerannt und hat ihren Fuß in die Ablage meines Wagens unten gerammt!«
Mir fällt nichts Kluges ein, deshalb fange ich an zu weinen. In letzter Zeit habe ich ohnehin nah am Wasser gebaut. Sogar Tampax-Werbung bringt mich zum Heulen. (»Doch, geh, mein Kind. Geh du nur reiten!«) »Er ist für meine Mutter«, presse ich schluchzend hervor. »Meine Mutter und ich haben uns seit ... zehn Jahren nicht mehr gesehen.« Ich heule jetzt wie ein Schlosshund; ich bin der Antifeminist. Ich schicke eine rasche Entschuldigung an den Schutzheiligen der Gertrude Stein, damit er meine Mitgliedschaft nicht aufkündigt, aber ich kann jetzt nicht aufhören – die Großmütter unter den Gaffern, von denen es viele gibt, gewinne ich gerade für mich.
Drei haben sich neben mich gekniet; zwei ziehen behutsam meinen Fuß unter dem Wagen heraus, die dritte wischt mir die Tränen mit einem Taschentuch ab, das nach Zimt riecht. Auf einen aufmunternden Schubs seiner Großmutter hin holt ein kleiner Junge den grünen Schal aus dem Wagen und gibt ihn mir mit einem Lächeln.
»Danke«, flüstere ich. »Vielen Dank.«
Die Dicke mit dem Wagen beugt sich herunter und bläst mir ihren Zigarettenatem ins Gesicht. »Du kleines Luder«, sagt sie, aber wir wissen beide, dass ich gewonnen habe.
Ich bleibe auf dem Boden mit meinem kostbaren Schal und versichere allen, dass ich in Ordnung bin, gehen kann, vielen Dank, und wenn’s nichts ausmacht, möchte ich jetzt eigentlich am liebsten nach Hause und den Schal für meine liebe, entfremdete Mutter einpacken. Sie helfen mir auf die Füße, klopfen mir auf den Rücken und ziehen sich langsam zurück, während ich mein Handy hervorkrame und »Ich rufe Mom an« flüstere. Einige der alten Damen wollen noch nicht von dannen ziehen und hoffen vermutlich auf eine Zugabe. Ich deute nach Süden, sage laut: »Sehen Sie nur. Fünfundsiebzig Prozent Rabatt!«, und steige wieder in das vorgetäuschte Gespräch mit meiner Mutter ein, während ich in die entgegengesetzte Richtung davonhumpele. Aber selbst Humpeln ist mehr, als ich ertragen kann.
Au, au, au. Das. Tut. Weh. Ich schicke ein Gebet zum Schutzheiligen der Krüppel. Bitte, bitte, mach, dass ich hier verdammt noch mal rauskomme. Ich sehe auf die Uhr. 8:53. O Gott. Ich mustere die Kassenschlange. Sie reicht bis zur Damentoilette. Und nun ist es so weit. Nun wird mein Entschluss auf die Probe gestellt. Ich habe drei Möglichkeiten:
a) Ich verschwinde ohne Schal, springe in ein Taxi und tauche bei Parks and Landon mit dem schmutzigen Pullover auf. Trina sagt Jane, dass ich wie ein Dreckschwein erschienen bin, und Jane schmeißt mich raus.
b) Ich stelle mich an der Kasse an und erscheine bei Parks and Landon strahlend schön und makellos mit umgelegtem Schal, bin aber eine Stunde zu spät. Trina sagt Jane, dass ich eine Bummelantin bin, die nicht pünktlich sein kann, selbst wenn ich eine tickende Uhr auf dem Hintern eintätowiert hätte, und Jane schmeißt mich raus.
c) Ich stehle den verdammten Schal um meiner Karriere willen.
Momentchen. Einen kleinen Moment bitte. Ich stehle den Schal nicht. Ich leihe ihn mir nur aus! Nach der Arbeit bringe ich ihn wieder zurück. Versprochen. Ich verspreche es, ich verspreche es, verspreche es, flüstere ich dem Heiligen zu.
Manchmal ist die beste Möglichkeit, etwas mitgehen zu lassen, es ganz offen mitzunehmen. Ich lege mir den Schal um den Hals und arrangiere ihn so, dass er den Fleck bedeckt. Ich habe recht gehabt. Pulli und Schal passen wunderbar zusammen. Bisher habe ich noch kein Gesetz gebrochen. Bis jetzt probiere ich das Stück bloß an. Und es gibt ja schließlich kein Gesetz, das die Anprobe verbietet, oder? Tatsächlich muss der Laden per Gesetz tatenlos zusehen, wie du den Gegenstand nimmst und bei dir behältst, bis du wirklich die Örtlichkeit verlässt, ohne für besagten Gegenstand zu zahlen. Erst dann dürfen sie kommen und dich holen. Mir ist es schon ein paarmal passiert, dass ich meine Beute fallen lassen musste, bevor ich den Laden verließ, weil ich wusste, dass man hinter mir her war.
Aber heute herrscht hier ein so enormes Chaos, dass es ein echtes Kinderspiel ist. Am Schal ist kein Sensor befestigt; die teuren Dinger benutzen sie nur für teure Artikel wie Ledermäntel. Jetzt gehe ich einfach zur Tür. Niemand achtet auf mich. Ich fokussiere den Ausgang und bewege mich zielgerichtet. Ich sehe eine zerrupfte Verkäuferin, die versucht, einen Stapel Kleidung zu falten. Immer wenn sie die Sachen schön ordentlich aufeinandergelegt hat, kommt jemand und zieht unten wieder etwas heraus.
»Entschuldigen Sie«, sage ich. »Um wie viel Uhr machen Sie zu?«
Sie sieht mich nicht einmal an. »Sechs«, presst sie hervor.
»Danke.« Wunderbar. Mein Arbeitstag endet um fünf. Dann habe ich noch jede Menge Zeit, meinen ausgeliehenen Schal zurückzubringen.
Als ich endlich draußen bin, hämmert mein Herz wie wild gegen die Rippen. Ich bin etwas überrascht, dass ich den typischen Kick verspüre – ich meine, in Anbetracht der Tatsache, dass ich den Schal bloß leihe. Aber ich spüre den Rausch kommen. Plötzlich bin ich die Größte. Ich möchte springen und jubeln und brüllen, dass ich am Leben bin, aber ich kann mit dem Knöchel kaum auftreten, geschweige springen. Dann bekomme ich einen Lachkrampf. Ich beuge mich vor, schlage mir auf die Oberschenkel und brülle vor Lachen, beuge mich nach hinten, keuche, ringe zwischendurch nach Atem. Frauen versuchen, mich zur Seite zu schieben, als sie hinein- oder hinauswollen, klatschen mir ihre Taschen und vollen Brewber’s-Tüten in Magen und Nieren. Jedes Mal, wenn jemand mich schubst, schießt mir frischer Schmerz in den Knöchel. Egal. Das macht nichts. Ich rühre mich nicht vom Fleck. Ich lache, bis ich weine.
Freudentränen rinnen mir über die Wangen, bis ich plötzlich wirklich weine. Tatsächlich wegen des gestohlenen Schals heule. Tränen strömen über mein Gesicht, der Wind der Drehtüren weht mir mein schmutzig blondes Haar in die Augen, und Sekunden später setzt sich ein vertrauter, pochender Schmerz in meiner Brust fest. Es ist Schuldzeit. »Lieber Himmel, nein, lass mich nur noch ein bisschen glücklich sein!«, flehe ich den Schutzheiligen des überirdischen Glücks und der Zufriedenheit an, aber es ist schon zu spät. Die Schwerkraft verändert die Richtung meiner Mundwinkel, zupft an meiner Kehle und verlangsamt mein wild pochendes Herz zu einem dumpfen Wummern. Ich bin so versunken in mein eigenes Elend, dass ich den Sicherheitsmann nicht bemerke, bis sein schwarzer Vinylärmel nach mir greift. Seine buschigen Augenbrauen sind besorgt zusammengezogen. Ich glaube, er sagt etwas wie: »Miss, ist alles in Ordnung?« Aber was ich höre, ist: »Sie da! Woher haben Sie diesen Schal?« und »Haltet den Dieb! Verstärkung, ich brauche Verstärkung!«
Ich ziehe den Schal fest um meinen Hals, knurre wie eine Löwenmutter, die ihre Kleinen beschützt, und schieße über die Straße. Na ja, humple. Humpeln, hüpfen, rennen, humpeln. Autos bremsen quietschend, Fahrer hämmern auf die Hupe, als ich auf den Bürgersteig hoppele. Himmelherrgott noch mal. War das dämlich. Schmerz schießt durch meinen Knöchel, und ich gehe in die Knie, finde mich erneut auf dem Boden wieder mit dem Rest der Welt über mir. Ich beschließe hier und jetzt, dass ich nie wieder bettele, leihe oder stehle. Nie, nie wieder. Es ist acht Uhr fünfundfünfzig. Ich halte mein gesundes Bein in die Luft und wedele damit. Es gibt mehr als eine Methode, ein Taxi zu rufen.