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Es ist eine Minute vor neun, und ich warte auf den Fahrstuhl. Warum kann nicht wenigstens einer der drei zufällig schon da sein? Ich weiß, dass Treppensteigen gesund ist und alles, und ich tu’s ja auch ab morgen (gehört zu meinem Sportprogramm), aber ich kann nicht fünf Stockwerke in zwei Minuten hinaufsteigen. Abgesehen von meinem verletzten Fuß, ich würde schwitzen und japsen, wenn ich oben ankomme, und Trina wäre sauer, weil sie meint, ich käme gerade aus dem Bett mit Ray. Oh, das hätte ich besser nicht gesagt. Allein der Gedanke daran macht mich unruhig. Bis mir wieder einfällt, dass er mich seit acht Tagen nicht angerufen hat. Komm schon, Fahrstuhl. Ich sehe auf meine Uhr. Vierzig Sekunden. Komm schon, komm doch endlich. Pling! Er ist da. Ein Zeichen.

Ich betrete das Empfangsbüro von Parks and Landon und verliebe mich. Es ist minimalistisch, klar, aber so einladend, dass ich morgen einziehen würde. Das Ganze atmet eher die offene Atmosphäre eines SoHo-Lofts als die stickige Enge einer Anwaltskanzlei. Das Empfangsbüro ist weiträumig und mit einem schönen Holzboden, riesigen Fenstern und einer hinter dem Empfang freigelegten Backsteinwand ausgestattet. Die anderen Wände sind in einem Dunkelgelb gestrichen, das dem Raum etwas freundlich Goldenes verleiht. Hier und da liegen Orientteppiche – weich und wunderschön auf dem glänzenden Boden. Zimmerpflanzen schmücken die Ecken. Und dann begreife ich – ich bin auf der falschen Etage.

Das kann kein Anwaltsbüro sein. Anwaltsbüros sind verstaubt, beklemmend und streng. Ich bin vermutlich in eine PR-Firma oder eine Werbeagentur geplatzt. Vielleicht stellen die mich ein. Vielleicht ist dies hier mein Schicksal. Die Heiligen wissen ja, dass ich ein kreativer Mensch bin, der in einer dunklen, miefigen Registratur nichts zu suchen hat. Ich gehöre in den Bauch der kreativen Bestie. »Parks and Landon, Rechtsanwälte, mit wem darf ich Sie verbinden?« Mein Kopf fährt herum zum Empfang. Eine gequält aussehende Frau über fünfzig steht dahinter und hat einen Hörer zwischen Schulter und Kopf geklemmt, einen Stapel Papiere in der Hand und Stifte hinter beiden Ohren. Mein Universum der Kreativität löst sich in Luft auf. Wenigstens ist es kühl hier drinnen, denke ich, als ich an den Empfang trete.

»Kann ich Ihnen helfen?« Sie ist höflich, aber der Ton hat etwas Dringliches.

»Ich bin Melanie Zeitgar.« Ich strecke ihr meine Hand entgegen. »Von Fifth Avenue Temps.«

»Oh. Aha?« Es ist nicht so sehr, wie sie es sagt – sie klingt noch immer höflich –, aber die rasche Musterung, der sie mich unterzieht, gibt mir das Gefühl, nackt auf dem Schulhof zu stehen.

»Ja«, sage ich mit einem strahlenden Lächeln. »Die bin ich.«

Sie nickt und schüttelt mir endlich die Hand. »Margaret Tomer. Juristische Hilfskraft.«

»Freut mich.«

»Ebenfalls. Und ich bin wirklich froh, dass man Sie geschickt hat.« Ich strahle wieder. Sehen Sie? Die werden begeistert von mir sein. »Ich habe denen bereits gesagt, dass es nicht besonders gut aussieht, Model um Model zu uns zu schicken«, fährt Margaret fort. »Okay, den Männern gefällt’s. Ist ja nur natürlich. Aber ich finde, sie haben genug zum Gucken gehabt. Und wir haben hier eine Menge weiblicher Mandanten, die es gar nicht so schön finden, ständig mit Perfektion konfrontiert zu werden. Das bekommt Abercrombie & Fitch nicht, und das bekommt uns auch nicht. ›Greg, Steve‹, hab ich gesagt, ›es reicht jetzt mit den umwerfenden Models. So ist das wahre Leben nicht.‹ Es sei denn, sie würden auch mal ein paar heiße männliche Exemplare einstellen, oder? Es ist doch wie bei Hooters. Ich für meinen Teil würde durchaus ab und zu hingehen, um einen Burger zu essen, wenn dort muskelbepackte Jungs mit Six-Pack-Bauch und zuckendem Bizeps arbeiten würden, Sie nicht auch? Nun, willkommen. Es wurde wirklich Zeit, dass wir hier mal einen Durchschnittsmenschen bekommen.«

Ich sollte mich an so etwas gewöhnt haben. Ich wohne schließlich mit Kim Minx zusammen, dem schönsten Mädchen auf diesem Planeten. Aber mein Magen zieht sich trotzdem zusammen, und meine Augen beginnen zu brennen. Ich beiße mir in die Wange und rufe mir in Erinnerung, dass auch ich eine schöne Frau bin. Soweit das bei uns »Durchschnittsmenschen« geht. Margaret deutet meine Miene wohl richtig und rudert wieder zurück. »Nicht, dass Sie kein hübsches Ding sind. Sind Sie, Schätzchen. Ganz reizend. Helfen Sie mir bitte aus. Sind Sie eine unserer neuen juristischen Hilfskräfte oder Steves neue Assistentin?«

Ich blicke zu den Namen an der Wand hinter dem Empfang. Greg Parks, Rechtsanwalt. Steve Landon, Rechtsanwalt.

»Steves Assistentin«, sage ich, ohne zu zögern. Sehen Sie, was für eine gute Schauspielerin ich bin? Ich klinge so aufrichtig, dass ich mir selbst glaube. Erleichterung durchströmt mich. Ich bin keine Registraturmaus. Ich werde nie eine Angestellte in der Registratur sein. Wir alle werden in hundert Jahren tot sein, wen stört es also, wenn ich ab und an ein bisschen lüge? Im Übrigen verhält es sich mit schlechten Angewohnheiten wie mit einer Diät. Wenn man etwas erreichen will, muss man jeden Morgen von neuem beginnen. Ich habe bereits einen Schoko-Muffin mit einunddreißig Gramm Fett verdrückt und einen Schal gestohlen, was macht da noch eine kleine Lüge aus? Und ich meine, ich tue ja niemandem weh damit. Steve braucht augenscheinlich eine Assistentin, und ich werde die verdammt beste Assistentin sein, die er je erlebt hat.

»Wunderbar. Kommen Sie mit.« Margaret stiebt den Flur entlang, als ob ihr Blazer brennt. Ich muss rennen, um Schritt zu halten. Mein Knöchel protestiert heftig, und auf der Hälfte des dämmrigen Korridors falle ich über ein Kabel.

Zum dritten Mal an diesem Morgen liege ich auf dem Boden. Margaret bleibt stehen und blickt zur Decke, bis sie begreift, dass es nicht über ihr, sondern hinter ihr grunzt.

»Alles in Ordnung?« Sie bleibt die fünf Schritte von mir entfernt stehen.

»Ja. Nur eine ... eine alte Bühnenverletzung«, murmele ich.

Sie wartet, bis ich mich wieder aufgerappelt habe. »Sie sind also Schauspielerin?«, fragt sie, einen Hauch gelangweilt, während ich auf sie zuhoppele.

Ich rühre die Frage in meinem Kopf um und spiele die Sequenz aus: Wenn ich ja sage, wird sie mich fragen, was ich schon gespielt habe. Ich beschönige die Kloster/Nonnen-Zote und erzähle ihr von dem Mal, als ich die verschmähte Ex eines Gangsters gespielt habe. Sie fragt, ob ich jemals im Fernsehen oder Kino gewesen bin. Was soll ich sagen? Sicher, da war die Werbung für die Ingwer-Creme – ein organisches, veganisches Gleitmittel –, aber dafür wurden nur meine Hände und meine Stimme aufgenommen. Im Übrigen wird sie mich bestimmt angewidert ansehen und mir schließlich ein mitleidiges, wenn auch gepeinigtes Lächeln schenken.

»Nicht mehr«, antworte ich also. »Ich bin ...« Mein Blick trifft auf eine große Steinskulptur in einem der Büros, an denen wir gerade vorbeigehen. Eine gedrehte schwarze Marmorsäule, eins fünfzig hoch, mit abgerundeter Spitze und einer dünnen diagonalen Ader in der Mitte, gleich dem Sekundenzeiger einer Uhr. Das ist die einzige Erklärung für das, was nun aus meinem Mund kommt. »Ich bin Uhrmacherin«, entfährt es mir.

»Uhrmacherin?« Margaret runzelt die Stirn. »Was meinen Sie damit?«

Gute Frage. »Ich bin Künstlerin«, antworte ich. Sie wartet. »Ich mache Uhrenskulpturen.« Sie wartet weiter. Sagte das nicht alles? »Kunst«, fahre ich langsam fort, »die die Zeit abliest.« Und dann bedenke ich sie mit einem eindringlichen Künstlerblick.

»Wie ungewöhnlich«, murmelt Margaret und blickt endlich zur Seite.

»Richtig«, stimme ich ihr zu.

»So. Da sind wir.« Margaret hält an einer geschlossenen Tür am Ende des Flurs an. Ich bin gespannt auf das Büro, in dem ich arbeiten werde. Bisher hat sich in keinem der Zimmer, an denen wir vorbeigekommen sind, ein Mensch befunden. Einerseits frage ich mich, wo denn all die Leute sein mögen, andererseits bin ich erleichtert. Vielleicht muss ich Trina Wilcox nie begegnen. Vielleicht bin ich einfach nur in einem riesigen Bürotrakt mit Blick auf den East River und kann Steve Landon fröhlich assistieren. »Heute sind alle auf Gregs Seminar. Schadensverhütung«, sagt Margaret, die anscheinend meine Gedanken lesen kann. »Seit Greg vergangenes Jahr seine Begegnung mit dem Ruhm gehabt hat, wollen ihn alle, und inzwischen hält er morgens und nachmittags Seminare.«

»Begegnung mit dem Ruhm?«, frage ich höflich, wobei ich mir wünsche, sie würde endlich die Tür aufmachen.

Margaret sieht mich an. »Sie wissen doch, wer er ist, oder?«

»Äh ... einer der beiden Partner?«, frage ich.

Margaret lacht laut auf. »Ja, natürlich, aber ich meinte den Medienrummel, in den er letztes Jahr geraten ist. Lesen Sie denn keine Zeitung?«

Ich spüre, wie mein Gesicht zu glühen beginnt, und zähle im Geiste auf Spanisch bis fünf. »Ich lese jeden Tag Zeitung.« (Eigentlich lese ich nur am Samstag Zeitung, und meistens überfliege ich bloß die Headlines und gehe ansonsten ins Internet oder schalte CNN ein, aber hier kommt es ja nur darauf an, dass ich mir Informationen besorge, nicht, wie ich es tue, oder etwa nicht?) »Und natürlich habe ich mich gewundert, ob es sich um denselben Greg Parks handelt ...«

»O ja«, schnurrt Margaret. »Nicht, dass er damit angibt. Eigentlich mag er überhaupt nicht, wenn wir das Thema anschneiden. Er ist ziemlich medienscheu, was pure Ironie ist, wenn man mal drüber nachdenkt. Verraten Sie nicht, dass ich es Ihnen erzählt habe, aber er wird vielleicht bei Side Court TV mitmachen.« Sie blickt mich abwartend an.

»Was Sie nicht sagen«, murmele ich. Ich habe Side Court nur ein paarmal gesehen, und es langweilte mich zu Tode. Vor der Glotze zu sitzen und zuzusehen, wie Juristen über Fälle diskutieren, befriedigt meiner Meinung nach nicht die Lust des Amerikaners daran, mitzuerleben, wie Leute verurteilt werden.

»Und das wird Greg dann zusammen mit der Frau machen, die erfolgreich den gestörten Zwerg angeklagt hat, der Kindern im Central-Park-Zoo seine Weichteile gezeigt hat«, fährt Margaret fort. »Ist das nicht irre?«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, antworte ich mit einem Discount-Lächeln.

»Jedenfalls schade, dass Sie seine Präsentation verpassen, aber heute Nachmittag ist er wieder zurück.«

Ich nicke und versuche, das Bild von einem Gartenzwerg im Trenchcoat aus meinem Geist zu verscheuchen. Ich muss wirklich anfangen, Zeitung zu lesen. Also werde ich Trina wohl doch noch begegnen. Aber das ist gar nicht mehr so schlimm. Ich bin keine Bürokraft, die Akten ablegt. Ich werde bei erster Gelegenheit Jane anrufen und ihr erzählen, dass ich zu Steve Landons Assistentin befördert worden bin. Mir scheint, die Heiligen wollen mich doch nicht für den Schal strafen. Endlich öffnet Margaret die Tür, und ich trete erhobenen Hauptes über die Schwelle meines neuen Zuhauses.

»Melanie, das ist Steve Beck. Er ist der Betreuer der Akten. Er untersteht Trina Wilcox, die Steve Landons Assistentin ist.«

Ich kriege kein Wort heraus. Ich kämpfe noch mit der Tatsache, dass ich statt in einem schicken Büro mit Blick auf den East River tatsächlich in einer Registratur stehe. Und es liegt in der Natur der Sache, dass solche Aktenaufbewahrungsräume absolut scheußlich sind. Dieser Raum hat den Charme eines Krankenhauskellers. Braune Metallschränke stehen an nackten weißen Wänden wie eine Reihe schlechter Zähne, die auf ihre Wurzelbehandlung warten. Steve Beck ist ein kleiner, dicker Junge mit rotem Haar und einer dicken Brille. Er steht hinter einem Klapptisch und sieht nur flüchtig auf, während seine dicken Finger verschiedene Blätter zu mysteriösen Stapeln sortieren. Und bevor ich Margaret sagen kann, dass ich nur Spaß gemacht habe, dass auch ich eine juristische Hilfskraft bin, verlässt sie das Verlies, und ich bin mit diesem schrecklichen Aktenhüter allein.

»An die Arbeit«, sagt Steve Beck. Seine Stimme ist hoch, und bei jedem Wort kommt ein Pfeifton aus seiner Nase. Ja, dir auch einen guten Tag. »Du musst schon etwas genauer sein«, sage ich und unterdrücke die hundert Beleidigungen, die mir einfallen. »Ich bin neu hier«, füge ich hinzu, falls sein Verstand ein wenig langsam arbeitet. Er seufzt, richtet seine Goldrandbrille, grunzt und sinkt zu Boden. Mein erster Gedanke ist, dass er eine Herzattacke hat und ich ihn mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzdruckmassage wiederbeleben muss. Ich habe vor ein paar Jahren einen CPR-Kurs gemacht – kardiopulmonale Reanimation – und mich eigentlich darauf gefreut, es irgendwann praktisch zu machen. Doch meine Rettungsphantasien hatten nie einen ungehobelten, nasenpfeifenden Aktenhüter beinhaltet.

Als ich mich gerade auf der Suche nach einem Stück Plastik umsehe, das ich zwischen unsere Lippen klemmen kann, taucht er mit einer Pappschachtel wieder auf. Das Ding sieht schwer aus. »Du kannst damit anfangen«, sagt er und drückt mir den Karton mit Schwung in die Hand. Ich taumele unter dem Gewicht, und es ist ein Wunder, dass ich nicht zum vierten Mal an diesem Tag zu Boden gehe. »Mandantenakten«, pfeift er. »Ordne sie alphabetisch, nach Nachnamen natürlich.«

»Du machst doch wohl Witze«, sage ich. Er reagiert mit einem grantigen Blick. »Ich meine, die müssen doch irgendeine Form von elektronischem Ablagesystem haben?«

»Nein.«

»Oh. Sollte es.«

»Tja, gibt es aber nicht. Also ordne sie, Goldlöckchen.«

»Wie beliebt?«

»Hör mal, ich hab keine Zeit, deinen Babysitter zu spielen. Mach einfach.«

»Ich heiße Melanie.«

»Schön für dich.«

Ich bekämpfe den Wunsch, ihm eine zu scheuern. Nicht einmal die Hölle kennt den Zorn einer arbeitslosen Schauspielerin, oder wie man das so schön sagt, aber er ist es nicht wert. Er ist bereits ein übergewichtiger Aktenbetreuer mit Nasenproblemen – was könnte ich ihm noch antun? Drei Stunden später reicht es mir. Meine Augen brennen von den winzigen Buchstaben, in denen die Namen geschrieben sind, und mir tut alles weh, weil ich ständig überfüllte Kartons rauf- und runterwuchten muss. Nicht nur, dass ich unter Tarif dafür bezahlt werde, mit jeder Sekunde weitere Hirnzellen zu verlieren, die Arbeit ist auch körperlich richtig schwer. Ich beschließe hier und jetzt, dass ich unbedingt wieder zu Vorsprechen gehen muss. Andernfalls bin ich dazu verdammt, mein ganzes Leben lang Aushilfsjobs zu übernehmen und zu klauen. Morgen besorge ich mir die Backstage, krame meine Porträtaufnahmen aus dem Schrank und optimiere meinen Lebenslauf. Ich werde die nächsten Tage nur noch mageres Fleisch und gedünstetes Gemüse essen, Pilates lernen und regelmäßig ein MultiVitaminpräparat plus Kalzium zu mir nehmen.

Aber verstehen Sie mich nicht falsch. Es geht mir hier nicht allein um Eitelkeit. Es braucht mehr als ein schönes Gesicht und einen tollen Körper, um eine großartige Schauspielerin zu sein. Diese Lektion habe ich schon als Kind gelernt. Ich war in der dritten Klasse, und Mrs. Miller hatte gerade angekündigt, dass unsere Klasse Schneewittchen und die sieben Zwerge einstudieren würde. Am nächsten Tag sollte jeder ein paar Zeilen lesen, dann würde sie die Rollen verteilen. Sofort wusste ich, was mein Schicksal war. Ich war für die Rolle des Schneewittchens geboren! Bis die Schule aus war, hatte ich mich derart hineingesteigert, dass ich zu Hause Lumpen anzog, mich mit Nadeln stach, unseren gelben, fadenscheinigen Teppich vollblutete und darüber lamentierte, warum ich nicht ein normales Mädchen sein konnte. Wahrscheinlich hatte ich Elemente aus Cinderella, Dornröschen, Schneewittchen und Pinocchio durcheinandergebracht, aber darauf kommt es ja nicht an. Für mein Alter lieferte ich eine erstaunliche Darbietung ab, das steht jedenfalls fest.

Und daher war ich auch ganz und gar nicht vorbereitet, als Mrs. Miller am nächsten Tag vor der Klasse verkündete, Lara Thomas würde das Schneewittchen geben. Ich blickte auf meinen verbundenen Daumen und erstarrte zu Stein.

»Und Melanie Zeitgar übernimmt die Rolle der bösen Königin.«

Was? Ich starrte auf Mrs. Millers rosarote Lippen und versuchte zu begreifen, was sie da sagte. Ich, die böse Königin? Irgendwie gelang es mir, auf meinem Platz sitzen zu bleiben und mich nicht zu übergeben. Irgendwie gelang es mir, das hämische Kichern von Lara und den anderen Mädchen zu ignorieren, die mich genau beobachteten. Irgendwie gelang es mir, niemanden umzubringen. Am Nachmittag – die geborene Method Actress – stahl ich einen Apfel von Mrs. Millers Tisch und aß ihn auf dem Heimweg.

»Aber Melanie«, sagte meine Mutter am Abend, nachdem ich mich auf dem Küchenboden in einer Pfütze von Gram und Zorn aufgelöst hatte. »Schneewittchen ist nichts. Jeder kann Schneewittchen spielen. Die böse Königin ist eine viel anspruchsvollere Rolle. Ohne sie gäbe es auf der Bühne nichts zu sehen als ein niedlich summendes und hüpfendes Mädchen, und wen interessiert das schon? Liebes, es braucht schon eine wirkliche Schauspielerin, um die böse Königin zu spielen.«

Meine Tränen versiegten augenblicklich, als der Linoleumboden und ich diese Tatsache verarbeiteten. Ich hob meinen Kopf, um zu sehen, ob sie sich über mich lustig machte. Aber sie wirkte ziemlich ernst. Und plötzlich durchdrang mich das Gefühl unglaublicher, betörender Macht! Mutter hat recht, Schneewittchen kann wirklich jeder, dachte ich. Ich sah Lara Thomas mit ihrem braunen Pferdeschwanz vor mir. Sie war nichts. Und, Mann – was für ein jämmerliches Schneewittchen sie abgeben würde.

Bis zum nächsten Tag kannte ich meinen Text, meinen wahren Text – den Text einer wirklichen Schauspielerin – auswendig. »Lady Pendula«, verkündete ich mit klarer, erhabener Stimme, »soll ich das rote oder das blaue Kleid nehmen?« Jeder Kopf in der Klasse fuhr zu mir herum, und Mrs. Millers rosaroter Mund blieb offen stehen. Ich beherrschte die Bühne! Und von diesem Tag an hatte Schneewittchen keine Chance mehr. Ich war die böse Königin. Ich übte ihre Stimme, ihren Gang, das boshafte Kichern, als sie – als alte Hexe verkleidet – dem (jämmerlichen) Schneewittchen den Apfel gab. Das Kind, das den Spiegel spielte, bebte tatsächlich, wenn ich zu ihm sprach. Schneewittchen war ein Witz, ein blasses, dünnes Nichts, eine armselige Requisite für meine Bühne.

Und mein Ruhm und meine Herrschaft dauerten die Proben an bis zur Premiere. Zu diesem Zeitpunkt war ich in meiner Rolle so aufgegangen, dass ich Schneewittchen in einem Anfall königlichen Zorns eine Ohrfeige verpasste, die uns beide überraschte. Eine Woche später, als ich wieder die Schule betreten durfte, wurde ich zum Bühnenbildschieben degradiert, und Lisa Hardy hatte meine Rolle bekommen. Aber trotz Schulverweis, trotz der demütigenden Briefe, die ich schrieb – »Liebe Lara, es tut mir sehr leid, dass ich dich geschlagen habe« –, und drei Wochen Fernsehverbots war mir klar, dass ich es immer wieder tun würde. Es war der beste Abend meines Lebens gewesen, und seit diesem Tag war ich wirklich eine Schauspielerin.

Ha! Mich an meine Wurzeln zu erinnern, hat mich mit neuer Leidenschaft für meine Kunst beseelt! Ich muss mich wirklich wieder in das stürzen, wofür ich geboren wurde.

Und wenn ich erst einmal gertenschlank bin, gehe ich auf mindestens fünf Vorsprechen pro Woche. Das ist nur eins am Tag. Das kann ich schaffen. Täglich eins. Zur Not in meiner Mittagspause. Oder wenn ich die Mittagspause durchmache und früher freibekomme. Die Zeitarbeitsagenturen wissen, dass wir alle Schauspieler sind, also müssen sie damit zurechtkommen oder mich rauswerfen. Ich muss es tun, oder ich gehe hier inmitten von zwölf Kartons abgeschlossener Fälle vor die Hunde. Steve Beck ist zum Heulen langweilig. Er ist Allergiker, und alle paar Minuten niest er ohrenbetäubend. Ich brauche gar nicht zu versuchen, ihn in ein witziges, kluges Gespräch zu verwickeln. Plötzlich sehne ich mich nach Trina Wilcox, auch wenn sie mich immer noch hasst. Als es Mittag wird, lasse ich die letzte Pappschachtel mit einem befriedigenden Rums fallen.

Das Superschnäppchen

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