Читать книгу Das Superschnäppchen - Mary Carter - Страница 9
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ОглавлениеMittagessen«, sage ich froh.
»Du nicht.« Steve schnieft.
»Bitte?«
»Meine Mittagspause geht von zwölf bis eins. Deine von eins bis halb zwei.«
»Eins bis halb zwei? Ich kriege nur eine halbe Stunde?«
»Genau.«
»Aber du hast eine Stunde?«
»Wieder richtig.«
»Das ist unfair«, stammele ich.
Steve zuckt die Achseln. »Du hast erst um halb zehn zu arbeiten angefangen. Also nur eine halbe Stunde Mittag. Es sei denn, du bleibst bis halb sieben.«
»Halb sieben? Ich gehe um fünf.«
»Sechs.«
»Fünf.« Plötzlich fühle ich mich wieder wie mit zehn Jahren, als ich mich mit Zach beim Monopoly gestritten hatte. Ich fand damals, dass alle Geldbußen, die man zahlen musste, in die Mitte gelegt werden mussten, damit man eine faire Chance hat, sie sich zurückzugewinnen, wenn man auf Frei Parken landete, aber Zach bestand darauf, dass das Geld der Bank zukam. Schon mit dreizehn war er Anwalt, der kleine Mistkerl. Nur dass ich Zach hasste und liebte und diesen Typ hier nur hasse.
»Die Agentur hat mir gesagt, dass ich von neun bis fünf arbeiten soll«, sage ich so hochnäsig wie möglich. »Ich kann damit leben, Mittagspause um eins zu haben, aber ich werde eine Stunde bleiben und um fünf gehen!« So! Friss das, Aktenordner. Steve nimmt eine Tüte mit Essen und geht zur Tür, während ich mich wieder meinen Akten widme. Wir wissen beide, dass ich diese Runde gewonnen habe, also besteht kein Grund, darauf herumzureiten.
»Das wirst du mit Trina Wilcox ausmachen müssen«, sagt er in der Tür. »Ich glaube, ihr zwei kennt euch schon, oder?« Er begegnet meinem Blick, und als er sieht, wie mir das Entsetzen ins Gesicht kriecht, lächelt er zum ersten und einzigen Mal an diesem Tag.
Er ist kaum zur Tür hinaus, als ich Kim anrufe. »Hi, Mel«, sagt sie, statt sich zu melden. Blöde Nummernerkennung. »Wie ist es bei Jane gelaufen?«
»Hast du die Nachricht nicht bekommen?«, flüstere ich, falls Steve im Flur lauscht.
»Oh. Ich glaube nicht.«
Ich verdrehe die Augen. Kim geht mit Fragen um wie ein Politiker, der auf seine Wiederwahl hofft. »Die mit Trina?«
»Trina?«
»Wilcox«, erläutere ich. Und warte. Man weiß bei Kim nie, ob sie wirklich über deine Worte nachdenkt oder sie nur wiederholt, ohne wirklich zugehört zu haben.
»Was ist mit ihr?«, fragt sie schließlich.
»Sie hasst mich, oder?«, jammere ich.
»O Gott«, sagt Kim. »Du hast die Website gesehen.«
Die Zeit friert ein. Ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich nicht wissen will, worüber Kim da gerade spricht. Ich vergesse die Sache einfach. Wen interessiert es schon, ob Trina Wilcox mich hasst oder nicht. Ich bin ein netter Mensch. Ich habe kein Problem mit ihr, sondern sie mit mir. Keine Sorge, Melanie, letztendlich spielt das doch alles keine Rolle. Du solltest dir Gedanken über Krebs und Aids und Terroristen machen. Du solltest lieb zu Kindern, Tieren und Großmüttern sein. Wenn du jetzt auflegst, gehe ich mit dir einen Handel ein. Ich lass dich in der Mittagspause etwas stehlen. Das zählt dann nicht. Du bringst den Schal noch immer um fünf zurück, aber du nimmst dir irgendetwas anderes. Kleines. Dann fühlst du dich gleich besser.
»Welche Website?«, frage ich. Ich blöde Kuh. Wenn Kim begriffen hätte, dass ich von nichts eine Ahnung hätte, wäre sie jetzt abgebogen und hätte getan, als sei nichts. Aber Kim ist nicht nur mit hinterhältiger Schönheit gesegnet, sondern auch mit einer kindlichen Naivität, und zwischen den Zeilen zu lesen, ist noch nie ihre Stärke gewesen.
»Na ja, Trinas Website«, sagt sie. »Und ich schwör dir, Melanie – niemand findet das lustig. Ich habe nichts davon gewusst, bis sie es jedem beim Vorsprechen bei Fruit of the Loom gezeigt hat. Aber mach dir keine Sorgen, Mel. Damit hat sie sich selbst ein Armutszeugnis ausgestellt. Selbst die Bananen von Fruit of the Loom haben sofort erkannt, dass sie ein Miststück ist.«
Ich muss mich fassen. Nicht nur, weil Kim anders als ich äußerst selten Schimpfwörter benutzt und ich völlig schockiert bin, dass sie Trina ein Miststück genannt hat, sondern weil jetzt neben dem exhibitionistischen Zwerg auch noch eine Banane in meinem Hirn herumgeistert. Toll. Wenigstens hat es mich einen Moment lang abgelenkt. »Bist du mir sehr böse, weil ich es dir nicht gesagt habe, Melanie?«, fragt Kim leise. »Ich wollte bloß nicht, dass dich das trifft. Sie ist doch bloß eifersüchtig.«
Ich klappe den Mund auf, aber nichts kommt heraus. Verdammt, was will sie mir bloß sagen? Warum und in welcher Form bin ich auf einer Website?
»Und bevor du fragst«, fährt Kim fort, »die Antwort ist nein. In Wirklichkeit siehst du überhaupt nicht dick aus.«
Ich rutsche am Aktenschrank runter und bleibe auf dem Boden sitzen. »Ich sehe dick aus?«, sage ich und versuche, die Tränen zu bekämpfen. Ich weiß noch immer nicht, wovon sie spricht, aber sobald jemand beteuert, man sehe in Wirklichkeit nicht dick aus, kann das nichts Gutes zu bedeuten haben.
»Und ich verurteile dich auch nicht«, sagt Kim weiter. »Wirklich, wenn es das ist, was du magst – wer bin ich, dass ich darüber urteile?«
»Was? Was mag ich?«
»Ich hätte auch gar nicht gedacht, dass du es bist, wenn du nicht mein pinkrotes Diva-T-Shirt anhaben würdest.« Pinkrotes Diva-Shirt, pinkrotes Diva-Shirt. »Du kannst es übrigens haben. Jetzt würde ich es ohnehin nicht mehr tragen.«
»Kim ...«
»Tut mir leid, so habe ich das gar nicht gemeint. Ich habe viel zu viele Klamotten. Das weißt du ja, du kennst meinen Schrank.«
»Kim, hör mal zu ...«
»Aber findest du nicht auch, dass es schon irgendwie lustig ist? Ich meine, du solltest eigentlich geschmeichelt sein – das Bild ist schon eine Million Mal angeklickt worden.« Eine Million Mal? Ich starre an die Decke und beschwöre den Schutzheiligen der Betrunkenen und Doofen, meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Pinkrotes Diva-Shirt, pinkrotes Diva-Shirt. Denk nach, denk doch nach. Aber nichts materialisiert sich in meinem Kopf. Ich kenne das T-Shirt. Ich weiß, dass Kim so eins hat. Ich habe es mir einmal ausgeliehen, richtig. Aber wann? Wann, wann war das?
Oh, genau, zu Trinas Party. Der berüchtigten Party, auf der Trina mich beschuldigt hat, ihre Perlmuttseifenschale gestohlen zu haben. Der Party, auf der Ray und ich zum ersten Mal gemeinsam aufgetreten sind und uns auf einem Haufen Mäntel geliebt haben. Schöner, wundervoller Ray. Wie lange hat er mich jetzt nicht angerufen? Acht Tage? Neun? Es kommt mir länger vor. Er wird anrufen. Er ist ein Kerl. Jungs müssen ihr Höhlenmenschding durchziehen. Das ist nicht persönlich, so sind sie einfach. Das bedeutet, dass er mich mag. Allein der Gedanke an Ray fährt die Panik in meinem Kopf runter. Wen kümmert eine Website? Ich, Melanie Zeitgar, bin mit Ray Arbor zusammen. Ray. Arbor. Klingt das nicht wunderschön? Dieses poetische Wort für Baum? Wie eine sonnige Wiese mit vereinzelten Bäumen.
»O Gott. Du meinst doch nicht, dass Ray dich deswegen nicht wieder angerufen hat?«, sagt Kim, womit sie meine sonnige Wiese mit den Bäumen zerstört. »Wegen der Website?«
Ich bin noch nie von einem Zug gestreift worden. Als Kind sind mein Bruder und ich immer an den Gleisen an unserem Haus entlanggegangen, haben milchige Glasstücke und plattgewalzte Pennys gesammelt, auf das Pfeifen der Lok gelauscht und das Vibrieren der Schienen gespürt, wenn sich ein Zug näherte. Zach ärgerte mich immer mit Geschichten von Kindern »wie uns«, die auf den Schienen spazieren, und – zack! – kommt ein Zug, sie können nicht weg, und das war’s dann mit ihnen. Wie in dem Film Stand by me, der auf Stephen Kings Kurzgeschichte »Die Leiche« basiert, träumt doch jedes Kind insgeheim davon, nur knapp einem Zug zu entkommen.
Aber jetzt, da ich das Gefühl kenne, löst sich die Phantasie in nichts auf. An ihrer Stelle stellt sich nackte Angst ein. Ich spüre sie in jedem Knochen. Ich stehe auf den Gleisen, und der Zug kommt. Ich habe nur noch eine einzige Chance, mich zu retten. Eine winzige Chance, zu entkommen, wenn ich mich flach an die Mauer drücke, den Beton schmecke und die Sonne ein letztes Mal auf dem Rücken spüre, während die Gleise zu vibrieren beginnen, als der Zug mit achtzig Meilen pro Stunde herandonnert. »Wie ist die Webadresse?«, stöhne ich, als der Zug vorbeirauscht. »Wie lautet die verdammte Adresse?«
Nicht nur, dass ich in einem muffigen Raum mit einem Haufen Akten eingesperrt bin, ich habe hier auch keinen Computer. Aber ich muss diese Seite sehen. Warum und wie bin ich auf einer Website? Ich spähe in den Flur. Alles wie die Wüste. Ich gehe zurück Richtung Empfang und betrete das erste Büro, das offen ist. Das ist doch schon was. Dieses Büro hat einen schimmernden Holzboden und deckenhohe Fenster mit großartigem Blick auf das Empire State Building. Hier stehen ein Ledersofa und ein Sessel, ein Tischchen aus Bambus und ein Schreibtisch aus Mahagoni. Die Wände sind dekoriert mit einer Schwarzweißfoto-Chronologie von New York, von den zwanziger Jahren bis heute. Ich mag die Person, die hier arbeitet, und ich würde gerne noch weiter herumschnüffeln, aber Steve Beck wird jede Minute zurück sein. Er ist genau der Typ, der zehn Minuten früher aus der Pause zurückkehrt, damit er dich bei irgendwas erwischen kann, und es ist offensichtlich, dass er auf Trinas Spielbrett der Bauer ist.
Da steht der Computer. Zum Greifen nah auf dem Schreibtisch. Ich muss nur noch eintreten. Bis hierhin ist alles okay. Wenn jemand vorbeikommt, kann ich sagen, ich hätte nur die Fotos bewundert. Ich könnte sogar behaupten, ich sei selbst leidenschaftliche Fotografin – sind wir das nicht alle? Der Computer ist vielleicht passwortgeschützt, und alles ist umsonst, aber ich brauche dennoch eine Ausrede, falls mich jemand erwischt. Denk nach, Melanie. Was kannst du sagen? Warum schnüffle ich am ersten Tag meiner Einstellung in fremden Dateien herum? Okay, ich sage, dass ich ganz dringend eine E-Mail verschicken musste. Und jetzt los.
Der Computer ist hochgefahren, und erleichtert entdecke ich das AOL-Icon. Ich melde mich als Gast an, logge mich mit Namen und Passwort ein, und sofort blinkt der Cursor im Adressfeld. Meine Hand zittert, als ich die Webadresse eingebe und mir bei der Namenswahl das Blut heiß in den Kopf steigt. Shemalediva.com.
Ich warte ein paar Sekunden, bis plötzlich der ganze Bildschirm mit dem Foto der hässlichsten Frau, die ich je gesehen habe, ausgefüllt ist. Sie liegt auf den Knien und fletscht in einer Art Ekstase die Zähne. Es sieht seltsamerweise aus, als hätte sie einen großen, hölzernen Penis zwischen ihren Beinen. Ihre Hände umfassen ihn, als ob sie masturbiert. Und wenn Sie jetzt noch nicht vollkommen schockiert sind – hier der Teil, mit dem ich überhaupt nicht zurechtkommen kann. Hier der Teil, der mich hat erstarren lassen und mir das blanke Entsetzen in jeden Nerv meines Körpers geschickt hat. Diese Frau bin ich.