Читать книгу Vom Chinchillabären und seinen Freunden - Mathias Graul - Страница 3
Abgestempelt
ОглавлениеGleich am nächsten Tag standen sie früh am Morgen vor der Tür des Brummholmer Konsulats um Pässe und Arbeitserlaubnisse zu bekommen. Endlich ging die Tür auf und ein Wachmann in Uniform führte sie zu einer kleinen Glastür im Inneren des Gebäudes.
Dort stand bereits ein anderer Wachmann. Durch ein Mikrophon fragte er die drei, ob sie Waffen oder elektronische Geräte dabeihätten. Der Lautsprecher schnarrte ziemlich, weshalb er ein wenig schwer zu verstehen war.
„Waffeln – nein, danke, wir haben schon gefrühstückt!“ antwortete der Chinchillabar artig.
„Waf-fen!“ wiederholte der Wachmann hinter der Glaswand. „Pistolen, Messer, Gewehre...!“
„Braucht man das etwa auf Brummholm?“ fragte das Blumenpferd entsetzt. Es hatte nämlich grosse Angst vor allem, was Lärm machen könnte oder wodurch man sich womöglich verletzen könnte.
„Er meint doch, ob wir etwas haben, was wir abgeben sollen!“ erklärte das Tigereichhorn, das in seinem Leben viel gereist war und solche Fragen von Wachtposten und Zöllnern gewöhnt war.
„Wir haben leider nichts mitgebracht, von dem wir etwas abgeben könnten, vielleicht ein anderes Mal!“ bemerkte der Chinchillabär kleinlaut und sah treuherzig auf den Wachmann.
Nachdem man sie von allen Seiten – auch von hinten, oben, unten und rundherum – gefilmt, geröntgt und fotographiert hatte, wurden sie in das Büro vom Herrn Konsul Knausermann geführt.
Zuerst mussten sie ein paar Minuten still herumsitzen und die Bilder von Brummholm, die an den Wänden hingen, betrachten. Es gab auch eine Flagge und eine Kopie der Eingangsseite des Brummholmer Grundgesetzes zur freien Besichtigung.
Dann endlich nahm der Herr Konsul Knausermann höchstpersönlich auf einem Ledersessel hinter einer weiteren Glaswand Platz und sprach durch ein Mikrophon: „Sie wünschen also auszuwandern nach Brummholm. Ihre Pässe bitte!“
Sie hatten aber keine Pässe.
„Dann müssen Sie erst welche besorgen und dann wiederkommen!“ schnarrte Knausermann und wippte auf seinem Lederstuhl. Er liebte es, wenn es quietschende Geräusche machte, wenn er mit dem Stuhl wippte. Es wurde still im Wartesaal. Eine Fliege brummte um eine alte, vergilbte Deckenlampe. Es rauschte leicht im Lautsprecher der Sprechanlage.
„Aber wir haben ein Haus auf Brummholm!“ protestierte der Chinchillabär und reichte den Vertrag, den er in seinem Brustbeutel dabeihatte, mit zitternden Pfoten durch die winzige Öffnung in der Glaswand.
Der Herr Konsul Knausermann klopfte ein paar Male mit den Fingerspitzen auf dem Vertrag herum, machte eine Kopie und wandte sich dann an den Chinchillabären, der mit grossen Pupillen, bebenden Schnurrhaaren und zitternden Ohrenspitzen hinter der anderen Seite der Glasscheibe wartete.
„Nun ja, wenn Sie staatenlos sind, können Sie Anträge auf Einbürgerung stellen und vorläufige Pässe für Staatenlose bekommen. Allerdings müssen Sie mir dann bitte hier jeder dieses Formular ausfüllen!“
Sie atmeten erleichtert auf. Gleich machten sie sich an die Arbeit. Nach einer Stunde reichten sie die ausgefüllten Anträge durch das Loch in der Scheibe.
Knausermann schmunzelte, als er die drei Anträge studierte. Es gab da natürlich noch ein paar Unklarheiten.
Zuerst kam der Chinchillabär dran. „In Kaukasien also sind Sie geboren. Wo genau?“
„Ach, das weiss ich nicht, ich hatte so eine unglückliche Kindheit, die meiste Zeit war ich in verschiedenen Kinderheimen, wo die genau waren, hat man mir nie erklärt!“ beteuerte der Chinchillabär.
„Na, ja, irgendetwas muss ich hier eintragen. Kaukasien gibt es nicht!“ Er las dem Chinchillabären die Namen von verschiedenen Ländern vor, die alle in der Kaukasus-Region lagen oder mit ihr angrenzten. Zuletzt entschied sich der Chinchillabär für Armenien. Er erinnerte sich nämlich, dass er früher mal sehr arm gewesen war, so wäre Armenien vielleicht passend. „Also gut!“ sagte Knausermann und stempelte alles ab.
Das Tigereichhorn erklärte, dass es zur See zur Welt gekommen sei, wohl aber familiäre Wurzeln irgendwo in Indien und auf Sri Lanka hätte. Dort gäbe es auch Tiger und sehr grosse Eichhörnchen.
Knausermann sagte: „Na dann schreibe ich eben Indischer Ozean!“ Das Tigereichhorn nickte zufrieden. Aber ein Land, das „Indischer Ozean“ heisst, gibt es natürlich auch nicht. So schrieb er einfach „Madagaskar“. Er wollte nämlich vermeiden, dass das Tigereichhorn anfangen würde, von seinen vielen Seereisen zu erzählen. Dann würde er nie fertig werden.
Schon einmal hatte er so ein Tigereichhorn im Konsulat gehabt, hatte fast eine Stunde lang die schrulligsten Seefahrer-Geschichten anhören müssen, die es zum Besten geben konnte. Dazu hatte er aber jetzt keine Lust. Madagaskar wurde es und Madagaskar blieb es – dort wo der Pfeffer wächst, nämlich. Stempel drauf – Peng! – Pass fertig.
Das Blumenpferd war ebenfalls staatenlos, da es in einem Zirkus zur Welt kam, als dieser gerade auf Reisen war. Es wusste nicht einmal, auf welchem Kontinent es geboren worden war.
Knausermann rollte mit dem Cursor von der Tastatur ganz nach unten auf der Liste der zulässigen Länder und wählte dann unter den letzten Buchstaben „XYZ – Internationale Forschungsstation White Horse Island“. Das war eine winzige Insel im südlichsten Pazifik, wo ein zerstreuter Meteorologe und Pinguinenforscher, ein paar gestrandete U-Boot-Matrosen eines totalitären Landes sowie mehrere hundert Pinguine wohnten. So hatte das Blumenpferd nun auch ein offizielles Geburtsland verpasst bekommen. Stempel drauf – Peng! – Pass fertig.
Glücklich trotteten die drei davon und setzten sich erst einmal auf eine Parkbank. Dann blätterten sie stolz und neugierig in ihren Pässen, besahen den Stempel mit der Arbeitserlaubnis und all den anderen Einträgen.
„Komisch, der Knausermann hat uns nicht einmal nach unseren Lieblingsfarben gefragt, aber trotzdem immer das Richtige eingetragen!“, wunderte sich das Tigereichhorn. Und ganz richtig: Beim Tigereichhorn stand nämlich unter Lieblingsfarbe „orange“, beim Blumenpferd „weiss“ und beim Chinchillabären „schokoladenbraun“! Ja, so ein erfahrener Konsul wie der Knausermann braucht eben nicht alles von allen zu erfragen.
Ein Konsulat ist eine Zweigstelle einer Botschaft. Eine Botschaft ist die Vertretung eines Landes in einem anderen Land.
Terroristen wollen manchmal Anschläge auf Botschaften und Konsulate verüben, deshalb wird man als Besucher wie auf einem Flughafen einer strengen Kontrolle unterzogen. Oft sind auch Kameras und Sicherheitsposten vor einer Botschaft oder einem Konsulat angebracht – zur Überwachung und Sicherheit der Leute, die dort arbeiten und der Leute, die dort Zuflucht suchen.
Ist man einmal in der Botschaft oder dem Konsulat drinnen, befindet man sich gesetzlich gesehen in dem Land, das vertreten wird.
Normalerweise dauert ein Passantrag mehrere Wochen. Leute ohne Staatsbürgerschaft nennt man Staatenlose. Man kann staatenlos werden, wenn ein Land, aus dem man ursprünglich kam, aufgehört hat zu existieren und das Land, dem nun das betreffende Gebiet gehört, sich weigert, Pässe auszustellen.
In Dänemark wurde einmal eine in Dänemark geborene Frau staatenlos, weil ihre ebenfalls in Dänemark geborene Mutter Spanierin geworden war und ihr Jugendpass abgelaufen war.
Waisenkinder wie unsere drei Freunde werden normalerweise eingebürgert, dort wo sie wohnen. Es gibt FN-Konventionen, die vermeiden sollen, dass es zu viele Staatenlose gibt. Aber viele Länder halten sich nicht an die Regeln und schieben die Staatenlosen lieber ab oder lassen sie in der Ungewissheit hängen.
Wahrscheinlich waren unsere drei Freunde in ihrem bisherigen Land falsch beraten und behandelt worden und der Konsul Knausermann hat dann auf Grundlage der Tatsache, dass sie Eigentum auf Brummholm haben, beschlossen, sie als Flüchtlinge zu behandeln und ihnen Pässe für Staatenlose anzubieten.
Nur wenige Konsulate und Botschaften sind so grosszügig, bei den meisten muss man mit viel Ärger, teuren Gebühren und ziemlich unverschämter Hochnäsigkeit und Gleichgültigkeit rechnen.