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Ein Beinahe-Kartäuser: Petrus Canisius und der mystische Drang nach innen
ОглавлениеAus Petrus Canisius wäre ein ganz ausgezeichneter Kartäusermönch geworden. Sein spiritueller Mentor Nikolaus van Essche, der ihn 1536 unter seine Fittiche genommen hatte, als er als kaum Fünfzehnjähriger zum Studium nach Köln gekommen war, dürfte schon sehr früh erkannt haben, dass er es mit einem jungen Mann zu tun hatte, dem es mit seinem Entschluss zu einem religiösen Leben blutig ernst war. Und wo hätte so jemand ernsthafter religiös leben können als in einem Kartäuserkloster!
Da war einmal die kompromisslose spirituelle Disziplin der Kartäuser, die der religiösen Leistungsbereitschaft des jungen Peter Kanis sehr entgegenkam. Peter Kanis war zutiefst davon überzeugt, dass zu einem echt religiösen Leben nicht nur das gläubige Vertrauen in die Gnade Gottes gehörte. Ein religiöses Leben umfasste auch und sogar in erster Linie die mühsame praktische Vorbereitungsarbeit auf diese Gnade Gottes. Martin Luthers vehement vertretene Option, dass man ganz von der „Leistungsfrömmigkeit“ weg- und „zur Glaubens- und Gnadenfrömmigkeit“98 hinkommen müsse, hat er dementsprechend für eine grundlegende Verirrung gehalten. Religion bedeutete nach seinem Verständnis vor allem unermüdliche harte Arbeit an sich selbst – eine Arbeit, die man nicht einfach durch den Verweis auf die alleinwirksame göttliche Gnade aushebeln durfte. Noch nicht zwanzigjährig hat er im Jänner 1541 in diesem Sinne an seine Schwester Wendelina geschrieben, „daß Gebete Deine vollkommene Besserung nicht bewirken werden, wenn Du nicht Dein träges Herz auf die Gnade vorbereitest, um die Du Gott bittest“. Es waren, wie er sie ermahnte, ernsthafte „geistliche Übungen“ notwendig, um „zu verkosten, wie süß und liebenswürdig Gott ist“99.
Das war nicht nur ein frommer (und etwas altkluger) Ratschlag an seine Schwester, das war auch der Grundsatz seiner eigenen religiösen Praxis. Während seiner Kölner Studienzeit hielt er sich in einem Merksatz dementsprechend immer und immer wieder selbst vor, dass rastloses „Streben und Mühen“ notwendig waren, wenn man wie er den Ehrgeiz hatte, „Gott gefallen zu wollen“100. Dieses Streben und Mühen beinhaltete dem katholischen Zeitgeschmack entsprechend auch körperliche Selbstdisziplinierung. Peter Kanis war hier ganz ein Kind seiner Zeit: Er griff ganz selbstverständlich auch auf Techniken der körperlichen Selbstdisziplinierung zurück, um in sich Neigungen abzutöten, von denen er vermutete, dass sie ihn von seinen geistlichen Ambitionen ablenken könnten. Sein teilweise exzessives Fasten ist vielfach belegt; schon als Kind hat er freiwillig ein härenes Büßerhemd getragen. Den postmodernen Kult um körperliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit als Inbegriff eines gelungenen Lebens hätte er dementsprechend nicht verstanden. Ein gelungenes Leben war nach seiner Überzeugung vielmehr ein unermüdliches geistliches Leben auf der Suche nach Gott – und wenn einen körperliche Bedürfnisse von dieser Suche ablenkten, musste man selbstverständlich mit allen möglichen Mitteln gegen sie ankämpfen. Man konnte dabei eigentlich nicht streng genug sein. Was er 1586 im Alter von 65 Jahren an die adligen Stiftsdamen in Hall in Tirol schrieb, war auch schon in seiner Jugend seine tiefste Überzeugung gewesen: „Je strenger aber der mensch gegen jm selber ist […], souil mer thailt jme der gütig Got sein barmhertzigkhait, vnd verzeicht jme desto volkhumenlicher seine sind“101. Wirklich religiös zu leben, war harte Arbeit.
Die Kartäuser als die religiösen Spitzenathleten ihrer Zeit waren geradezu der Inbegriff dieser religiösen Leistungsbereitschaft des jungen Peter Kanis. Die üblichen Mönchsgelübde von Armut, Keuschheit und Gehorsam allein waren ihnen in ihrer religiösen Praxis seit jeher zu wenig gewesen: Das Leben eines Kartäusermönchs sollte grundsätzlich nichts anderes sein als eine große und unermüdliche geistliche Übung. Er musste sich zu diesem Zweck durch eiserne Selbstdisziplin ganz von der Welt abwenden und in immer neuen Anläufen bereitmachen für das eine große Ziel: die Begegnung mit Gott. Dabei durfte er sich von nichts und niemandem ablenken lassen – nicht von der sündigen und verdorbenen Welt, noch nicht einmal von seinen Mitbrüdern im Orden. Darum lebten, aßen, arbeiteten und beteten die Kartäuser im Wesentlichen allein. Sie waren keine Kirchenfürsten, keine Grundherren und auch keine Hofkapläne; sie waren keine Prediger, keine Seelsorger und auch keine Lehrer. Sie waren einsame Gottsucher, die bereit waren, sich rund um die Uhr nichts anderem zu widmen als einer rigorosen religiösen Praxis in Gebet, Meditation und geistlicher Lektüre. Diesem Programm war der Kartäuserorden, dieser „durch strenge Askese und Schweigegebot strengste Orden überhaupt“102, seit seiner Gründung am Ende des 11. Jahrhunderts und damit beinahe ein halbes Jahrtausend lang beharrlich treu geblieben, als Peter Kanis ihm in den 1530er Jahren begegnete. Andere Orden mochten regelmäßige und oft sehr schmerzhafte Reformen nötig haben, um immer wieder zu sich selbst und ihrer spirituellen Berufung zurückzukehren, weil sie sich zu sehr auf die Welt und zu wenig auf Gott eingelassen hatten; die Kartäuser nicht. Das wurde sogar sprichwörtlich: „Der Kartäuserorden wurde niemals reformiert, weil er niemals deformiert wurde.“103
Die Kartäuser waren für Peter Kanis aber nicht nur wegen ihrer außerordentlichen asketischen und spirituellen Disziplin und Leistungsbereitschaft attraktiv. Sie hatten sich in den 1520er und 1530er Jahren unter den Katholiken auch einen ausgezeichneten Ruf wegen ihrer unerschütterlichen Rechtgläubigkeit und Standfestigkeit in ihren katholischen Überzeugungen erworben. Während in anderen Orden ganze Massen von Mönchen und Nonnen unter dem Eindruck des Mönch-Reformators Martin Luther und seiner Mitstreiter ihre Klöster verlassen hatten, waren die Kartäuser der katholischen Sache im Wesentlichen vorbehaltlos treu geblieben. Besonders berühmt waren in diesem Zusammenhang die Londoner Kartäuser geworden. Sie hatten die Errichtung einer vom Papst getrennten englischen Staatskirche durch König Heinrich VIII. abgelehnt und waren dafür zwischen 1535 und 1537 nach mehreren politischen Schauprozessen hingerichtet worden.
Es war genau die Zeit, in der sich auch der Teenager Peter Kanis immer klarer wurde, dass ihm seine religiösen Überzeugungen ähnlich wichtig waren. Das hatte in seinem Fall zwar nicht das Martyrium bedeutet. Aber er war am Ende der 1530er Jahre doch im Begriff, sein bisheriges Leben als wohlhabender Nimwegener Patriziersohn mit glänzenden Aussichten auf eine erfolgreiche großbürgerliche Zukunft wegen seiner religiösen Überzeugungen aufzugeben. Wie bei den Londoner Kartäusern waren das nicht irgendwelche religiösen Überzeugungen; es war keine jugendliche Aussteigerspiritualität, die ihn zu diesem Schritt motivierte. Er war vielmehr zutiefst von der Überzeugung durchdrungen, dass nur der Glaube der römischen Kirche der wahre christliche Glaube war. Genau für diesen Glauben war er bereit, sein bisheriges Leben vorbehaltlos aufzugeben. Als etliche Jahre später das Gerücht gestreut worden war, dass der katholische Vorkämpfer Petrus Canisius nun doch zur Reformation übergelaufen sei, goss er diese feurige Überzeugung von der Heilsnotwendigkeit der katholischen Kirche, für die sogar der Einsatz des eigenen Lebens kein zu hoher Preis war, in ein entsprechend feuriges Bekenntnis, das er erstmals 1571 und dann immer wieder als Anhang seiner Bücher abdrucken ließ: „Der römischen Kirche, die alle diese Lästerer verachten, […] gehörte ich an und von ihrer Autorität entferne ich mich nicht eine Hand breit: um für sie Zeugnis abzulegen, bin ich bereit, mein Leben hinzugeben und mein Blut zu vergießen“, denn „ich habe die völlige Gewißheit, daß nur in der Einheit mit ihr die Verdienste Christi, des Herrn, und die Heilsgaben des Heiligen Geistes sich auf mich und die anderen Menschen verströmen.“104 Dass der unerschütterliche katholische Bekennermut der Kartäuser einen Katholiken von dieser Machart sehr beeindruckt haben dürfte, ist naheliegend.
In Köln hat Petrus Canisius nicht nur studiert und entscheidende spirituelle Impulse aus dem Umfeld der dortigen Kartause erhalten. Er hat dort mit seinem Erbe auch die erste Jesuitenniederlassung im römisch-deutschen Reich errichtet.
Ausschnitt aus der Großen Ansicht von Köln von Anton Woensam, 1531.
Die Kartäuser waren für den jungen Peter Kanis aber nicht nur wegen ihrer beinharten asketischen Disziplin und ihrer unerschütterlichen katholischen Rechtgläubigkeit eine naheliegende Option für das vorbehaltlos religiöse Leben, nach dem er sich sehnte. Mehr als von all dem fühlte er sich von der tiefen Innerlichkeit ihrer Ordensspiritualität angezogen. Der Kartäuserorden bestand nämlich keineswegs nur aus Mönchen, die „härter als Stein“ waren und „weder mit sich selbst noch mit denen, die mit ihnen leben, Mitleid“ hatten.105 Tatsächlich war das spirituelle Profil der Kartäuser auch und vielleicht sogar in erster Linie geprägt von einer außergewöhnlichen Feinfühligkeit für die Intimität der persönlichen Gotteserfahrung.106 Schon im Spätmittelalter hatten sich dementsprechend Kartäusergemeinschaften intensiv mit mystischen Strömungen im Umfeld der Devotio moderna verbunden.107 Im Fokus dieser in erster Linie im niederrheinisch-flämischen Raum verbreiteten Frömmigkeitsbewegung standen spirituelle Praktiken, die vor allem auf die unmittelbare Begegnung des einzelnen Gläubigen mit Gott abzielten und ursprünglich besonders intensiv von Laien kultiviert worden waren. Das war zwar keine religiöse Biedermeierei, die Religion aus dem öffentlichen Raum herauslösen und auf den privaten Raum beschränken wollte; die Ordens- und Kirchenreform war ganz im Gegenteil ein großes Anliegen der Devotio moderna. Aber es ging doch um eine bewusst ich-zentrierte Religiosität. Die individuelle Begegnung mit dem geheimnisvollen Gott im Inneren der eigenen Erfahrungswelt ohne gesellschaftliche, ja in gewisser Weise sogar ohne kirchliche Hilfsmittel war das eigentliche Ziel.
Diese individuelle Begegnung wurde naheliegenderweise in erster Linie durch religiöse Übungen gesucht, die den Einzelnen zu einer eigenverantwortlichen und höchstpersönlichen Frömmigkeitspraxis herausforderten: Andachtsübungen im Umfeld der Passionsfrömmigkeit sollten das innerliche Mitgefühl für den leidenden Christus anregen; die Praxis des inneren Gebets sollte über auswendig gelernte Gebetsformeln hinausführen und dabei helfen, einen persönlichen spirituellen Stil zu entwickeln; die oft eifrig gepflegte fromme Lektüre sollte dabei unterstützen, sich in einsamer Zurückgezogenheit mit nichts anderem zu beschäftigen als der Bedeutung der christlichen Botschaft für das eigene Leben. Diese stark auf die individuelle Glaubenspraxis bezogenen spirituellen Techniken passten perfekt zum traditionellen kartäusischen Ordensideal der einsamen Gottsuche.108 Sie wurden dementsprechend in vielen Kartausen mit Begeisterung aufgenommen und weiterentwickelt. Die Kartäuser wurden so innerhalb der katholischen Kirche zu den wahrscheinlich wichtigsten Trägern eines selbstbewussten mystischen Christentums, das Kirche nicht vor allem als hierarchische Institution oder als sakramentale Vermittlungsinstanz der göttlichen Gnade betrachtete, sondern in erster Linie als eine Gemeinschaft von engagierten Gottsuchern. Diesen Gottsuchern ging es darum, Gott nicht nur in gewissen abgezirkelten Lebensbereichen wie in der Liturgie oder in kirchlichen Ritualen zu begegnen,109 sondern ihr innerstes und intimstes Seelenleben zu einem Ort dieser Begegnung zu machen.
So ein Gottsucher wollte der junge Peter Kanis mit seinem „zur Mystik hinneigenden kontemplativen Naturell“110 auch sein – und er hatte Glück: Nicht nur war an seinem Studienort Köln eine Kartäusergemeinschaft angesiedelt, die das Zentrum der letzten großen Blüte der Devotio moderna am Niederrhein bildete und sich ganz auf eine solche mystische Form des Christentums eingelassen hatte. Vor allem war sein geistlicher Mentor Nikolaus van Essche dem „Herzen und der Freundschaft nach […] ein wahrer Kartäuser“111, der nur aus gesundheitlichen Gründen nicht in den Orden hatte eintreten können. Van Essche war bereits von entscheidender Bedeutung gewesen für die Anbindung der frommen Frauengemeinschaft um die berühmte Mystikerin Maria van Oisterwijk an die Kölner Kartause. Jetzt hatte er die Chance, auch ihren offensichtlich spirituell ebenso begabten Großneffen Peter Kanis, dem Maria noch im Kindesalter eine große Zukunft als religiöser Schriftsteller vorausgesagt hatte, ins kartäusische Leben der mystischen Gottsuche einzuführen. Und er war ein bemerkenswert hingebungsvoller spiritueller Begleiter. Er leitete Peter nicht nur durch ein striktes Programm aus täglicher Lektüre und Meditation der Bibel und durch regelmäßige geistliche Gespräche zu einem religiösen Leben an. Er warf sich selbst mit seiner ganzen Persönlichkeit in die Waagschale. Er „betete und weinte um mich, segnete und warnte mich, ermahnte mich in Wort und Schrift“112, erinnerte sich Petrus Canisius Jahrzehnte später an ihn zurück. Einmal nahm van Essche sogar die Mühe einer längeren Reise nach Nimwegen auf sich, um seinen Schützling auch in den Ferien mit Nachdruck daran zu erinnern, dass Schulferien nicht auch religiöse Ferien sein durften. Die Suche nach Gott duldete keine Pausen.
Dieses persönliche große Engagement verfehlte seinen Eindruck auf Peter nicht. Er war ja, wie er viele Jahre später im Rückblick feststellte, bereits mit der tiefen Sehnsucht nach Köln gekommen, endlich „eine bestimmte Lebensweise“ jenseits seiner großbürgerlichen Herkunft zu finden, „die mir zum Heil gereicht“113. Dass er sich in Köln bald immer stärker „zu dem frommen Leben der Ruhe und Beschauung, wie es die Kartäuser führen“114, hingezogen fühlte, war kein Zufall. Nikolaus van Essche, dieser Kartäuser ehrenhalber, hatte ganze Arbeit geleistet.
Als van Essche 1538 und damit nach nur etwa zwei Jahren als Peters spiritueller Ratgeber ins heute belgische Diest ging, um dort Pfarrer zu werden, war die Frage für ihn dementsprechend eigentlich nicht mehr, ob, sondern nur noch wann sein Protegé Peter den Schritt in den Kartäuserorden machen würde. Van Essche wusste ihn in Köln auch weiterhin in guten kartäusischen Händen, die das vollenden würden, was er begonnen hatte. Er hatte Peter mit den führenden Köpfen der Kölner Kartause bekanntgemacht. Hier fand dieser religiös hochbegabte Jugendliche Gesprächspartner, die ihn in persönlichen Begegnungen und besonders auch in ihren Schriften immer noch tiefer in die mystische Spiritualität der niederrheinischen Kartäuser einführten. Petrus Canisius bezeichnete sie später als „aufrichtige Freunde […], denen das Heil meiner Seele sehr am Herzen lag“115. Zu diesen Freunden gehörte der berühmte Prior Gerhard Kalckbrenner, der als Zentrum eines literarisch eifrig tätigen Zirkels von katholischen Widerständlern gegen die Reformation fungierte. Wohl noch bedeutender für die weitere spirituelle Entwicklung von Peter Kanis dürfte allerdings Kalckbrenners Vikar Johannes Justus von Landsberg gewesen sein. In seinen Schriften wurde vieles von dem vertieft, was Peter bei van Essche bereits gelernt hatte. Wie van Essche pflegte auch Landsberg eine mitunter geradezu grell anmutende Begeisterung für die Andacht zum leidenden und gekreuzigten Christus. Diese Begeisterung gehörte zum Grundbestand der kartäusischen Spiritualität in dieser Zeit. Versatzstücke dieser schon im Spätmittelalter äußerst beliebten Frömmigkeitsform haben Petrus Canisius wenig überraschend langfristig geprägt. Dass er im Oktober 1560 einem körperlich und geistig angeschlagenen Freund den Rat gab, er solle „sich eine Wohnung in den Wunden Christi“116 bauen, ist genauso auf diesem Hintergrund zu verstehen wie seine spätere Gewohnheit, jede seiner täglichen Gebetszeiten aus dem Brevier in Beziehung zu einer Dimension des Leidens Jesu zu bringen.117 Als seine leiblichen Brüder am Ende der 1570er Jahre wegen ihres katholischen Glaubens für eine kurze Zeit aus Nimwegen vertrieben worden waren, ermunterte er sie dazu,, „Trost in der Betrachtung des bittern Leidens Christi“ zu finden.118 Das war nach seiner Erfahrung der Königsweg, mit eigenem Leid umzugehen.
Am augenscheinlichsten wird Landsbergs bedeutender Einfluss auf die geistliche Biographie von Petrus Canisius an einem ganz speziellen Punkt: Im September 1549 hatte Canisius im römischen Petersdom eine mystische Gotteserfahrung gemacht, die er später in Worte gefasst hat, die die tiefgreifende Prägung durch Landsberg geradezu handgreiflich klar machen. Gott hatte ihm damals, wie er im Gebetsstil der persönlichen Anrede schreibt, „das Herz Deines heiligsten Leibes“ geöffnet und ihn dazu aufgefordert, daraus „die Wasser meines Heiles“ zu schöpfen. Daraufhin wagte er es, „Dein süßestes Herz zu berühren und mein sehnendes Verlagen in ihm zu stillen“119. Das ist Landsberg pur. Landsberg hatte auf dem Hintergrund seiner umfassenden Kirchenväterlektüre und seiner intensiven Andacht zum leidenden Jesus das geöffnete Herz Jesu als den eigentlichen Ort der Begegnung des mystischen Gottsuchers mit dem lebendigen Gott verstanden. Dementsprechend hatte er seinen Lesern folgenden Ratschlag mitgegeben: „Gebt euch Mühe, in euren Seelen die Andacht zum liebenswürdigsten Herzen Jesu zu entzünden, das so überreich an Liebe und Erbarmungen ist. […] Es ist die Schatzkammer aller himmlischen Gnaden, das Tor, durch das wir Gott nahen und Gott zu uns herabkommt.“120 Auch wenn es schon im Mittelalter teilweise bedeutende Vorformen dieser Frömmigkeitsform gegeben hat, auf die Landsberg auch ausdrücklich zurückgegriffen hat, war eine solche Andacht zum Herzen Jesu damals alles andere als allgemein üblich. Die Herz-Jesu-Frömmigkeit ist erst viel später und unter etwas anderen Vorzeichen in der gefühlsbetonten barocken Frömmigkeit des 17. und 18. Jahrhunderts wirklich populär geworden. Petrus Canisius hat seine mystische Gotteserfahrung von 1549 damit nahezu eineinhalb Jahrhunderte zuvor mit Begriffen beschrieben, die er bei Johannes Justus von Landsberg gelernt hatte. Dass er heute als ein wichtiger früher Vertreter der typisch katholischen Herz-Jesu-Frömmigkeit der Neuzeit betrachtet wird, hat er der theologischen und spirituellen Vermittlungsarbeit dieses großen Kartäusermystikers zu verdanken.
Der Kartäusermystiker Johannes Justus von Landsberg (um 1490–1539) hat Petrus Canisius während seiner Kölner Zeit sehr stark beeinflusst. Vor allem vermittelte er ihm eine innige Herz-Jesu-Frömmigkeit, die im katholischen Milieu eigentlich erst viel später populär wurde.
Es steht also fest: Petrus Canisius wäre ein ganz ausgezeichneter Kartäusermönch geworden. Er besaß die kartäusische Leistungsbereitschaft in religiösen Angelegenheiten; er besaß die kartäusische Standfestigkeit in seinen katholischen Überzeugungen. Vor allem aber besaß er die kartäusische Begeisterung für den mystischen Weg der höchstpersönlichen innerlichen Gotteserfahrung. Noch dazu war er in seiner Studienstadt Köln von kartäusischen Lehrmeistern umgeben, die seine Eignung und Neigung erkannten und mit großem Einsatz förderten. Das, was er von ihnen gelernt hat, hat seine spirituelle Biographie bleibend geprägt. Immer wieder spürt man in seinen normalerweise sehr spröden Briefen und seinen oft stark formalisierten geistlichen Lebenserinnerungen durch, dass die spirituelle Grundhaltung seines Lebens in wesentlichen Teilen jene kartäusische Grundhaltung geblieben ist, wie er sie als Jugendlicher in Köln kennengelernt hatte. Er ist zu Recht ein „Meister des innern Gebetes“121 genannt worden, wie es für die kartäusisch-mystische Frömmigkeit typisch war. Sein mehrfach aufgelegtes kleines Betbuch von 1563 gilt unter Kennern als eine „Nachblüte der mittelalterlichen deutschen Mystik“122, die quasi zur DNA der Kartäuserspiritualität gehörte. Und nur jemand, der wie er von der Kartäusermystik gelernt hatte, dass der unermesslich große Gott sich vorzugsweise in der mystischen Erfahrungswelt des unermesslich kleinen Menschen offenbart, konnte Gott mit spürbarem Gefühl als den bezeichnen, „der meinetwegen das Weltall gebildet hat und erhält“123. Wie herausfordernd nahe ihm dieser Gott in seiner innersten Erfahrungswelt gekommen ist, deutet sich in einer späteren Erinnerung eines ziemlich indiskreten Mitbruders an, der den in seiner Kammer betenden Petrus Canisius durch das Schlüsselloch beobachtet hatte: „Er betete inbrünstig und mit kräftiger Stimme, er rief, er argumentierte. Es war, als ringe er mit Gott wie einst Jakob mit dem Engel.“124