Читать книгу Single Malt Weihnacht - Matthias Deigner - Страница 8
ОглавлениеWeihnachten – niemals ohne
Single Malt
Brigitta Rudolf
Ian hatte sich damit abgefunden, dass sein Leben eine Wendung genommen hatte, nachdem Caitlin ihn verlassen hatte. Nicht ohne Grund, zugegebenermaßen. Aber danach hatte er komplett den Halt verloren und war endgültig auf der Straße gelandet. Er hatte unter den Tippelbrüdern sogar Verbündete gefunden. Meistens zogen sie zu dritt los und hatten auch einen Platz unter einer Brücke, den sie miteinander teilten. Das Leben als Obdachloser war nicht ganz ungefährlich in einer Stadt wie dieser. Allerdings gab es mindestens einen Tag im Jahr, an dem er sich komplett von seinen Freunden abschottete. Das war der Heilige Abend. Dann übermannte ihn der Kummer über seine scheinbar ausweglose Situation jedes Mal von Neuem. Früher, ja früher, da hatte er am Heiligen Abend mit seiner Frau Caitlin daheim in ihrem gemütlichen kleinen Haus vor dem Kamin gesessen. Sie hatten sich an ihrem Weihnachtsbaum gefreut und zum krönenden Abschluss des Tages hatte er die Flasche Single Malt geöffnet, die er von ihr erhalten hatte. Dieses Geschenk erhielt er seit Jahren zu jedem Weihnachtsfest. Und er kam lange damit aus, er war kein Trinker. Damals nicht. Seitdem er auf der Straße lebte, sah das anders aus. Es waren selten harte Sachen, die seine Freunde und er tranken, aber der Alkohol half ihnen letztlich auch die kalten Winternächte zu überstehen. Gelegentlich setzte er sich an den Eingang des großen Einkaufszentrums und erbettelte sich etwas Geld. Seinen Malt zu Weihnachten, den brauchte er einfach. Allerdings hielt die Flasche nie lange, sondern war spätestens nach dem ersten Feiertag leer. Dann kehrte Ian zu seinen Freunden zurück. Die kannten seine Marotte und stellten keine Fragen mehr. So hatte er es auch in diesem Jahr geplant. Nachdem er sich von Tom und John verabschiedet und zwei Flaschen seiner Lieblingsmarke besorgt hatte, suchte er seinen geheimen Platz auf. Dort ließ er sich nieder, breitete eine Decke aus und setzte die Flasche gleich an den Hals. Heute wollte er sich betrinken. Seine Gedanken kreisten, wie immer zu Weihnachten, auch um Caitlin. Wie mochte es ihr gehen? Wie und wo mochte sie jetzt leben? Er hatte seit Jahren nichts mehr von ihr gehört. Wenn ich doch nur noch einmal mit ihr sprechen könnte, dachte er sehnsüchtig. Aber sie hatte viel zu lange Geduld mit ihm gehabt, und als sie endgültig gegangen war, konnte er es ihr im Grunde nicht einmal verübeln. Er wusste, er war oft sehr unzuverlässig gewesen, und das bereute er nun zutiefst. Nur aus diesem Grund hatte er diverse Jobs verloren, deshalb hatte Caitlin eines Tages die Nase voll gehabt und ihn verlassen. Wieder nahm er einen tiefen Schluck aus der Flasche. Die meisten Leute saßen jetzt in der Kirche oder zu Hause und feierten Weihnachten mit ihrer Familie. Er fühlte sich einsam, wie immer an diesen Tagen. Jetzt begann es auch noch zu schneien. Dicke Flocken fielen vom Himmel, schnell hatte der Schnee auch über ihn ein weißes Laken gebreitet. Ian begann zu frieren und wickelte seine Decke fester um sich. Auch dagegen half der Whisky, also trank er noch einen Schluck und noch einen. Es dauerte nicht lange, da war die erste Flasche leer. Er warf sie achtlos fort und öffnete die zweite. Langsam verschwamm die Welt um ihn immer mehr und er sank zur Seite und schlief ein.
Als er erwachte, beugte sich ein goldhaariger Engel über ihn. Träumte er oder hatte er sich durch den Suff schon ins Himmelreich katapultiert? Vorsichtig blinzelte er und murmelte: »Was is´n los?«
»Das fragen Sie noch? Sie haben verdammtes Glück gehabt, dass einige Leute Sie gefunden und uns alarmiert haben. Diese Nacht ist kalt, Sie hätten erfrieren können. Aber jetzt nehmen wir Sie erst mal mit ins Krankenhaus«, antwortete der Engel.
Ian schluckte. Er lebte also noch. Ob er sich allerdings darüber freuen sollte, wusste er nicht. Willenlos ließ er sich aufhelfen und auf eine Trage betten. Um dagegen zu protestieren, fühlte er sich zu schwach. Dann dämmerte er kurzfristig wieder weg. Als er zum zweiten Mal erwachte, lag er, mit einem Krankenhauskittel bekleidet, in einem weichen und sauberen Bett. Ein fast vergessenes Gefühl von Wohlbehagen stieg in ihm auf. Vorsichtig sah er sich um. Sein Schädel brummte und er erinnerte sich, dass er einige Stunden zuvor eine ganze Flasche Single Malt getrunken und sogar noch eine zweite angebrochen hatte. Gewohnheitsmäßig wollte er wieder danach greifen, aber die hatte man ihm wohl abgenommen. Stattdessen standen eine frische Flasche Mineralwasser und ein sauberes Glas auf seinem Nachttisch. Seine Kehle fühlte sich staubtrocken an, daher setzte er sich mühsam auf, öffnete die Flasche und trank einen Schluck Wasser. Brr, fast hätte er sich daran verschluckt. Wo hatte man seine Sachen hin geräumt? Einen Augenblick später fühlte er sich so weit, dass er aufstand und in dem schmalen Spind an der Wand nachsah. Stimmt, darin fand er seine Plastiktüten. Seine Kleidung lag ordentlich zusammengefaltet daneben, ganz hinten in der Ecke stand die angebrochene Flasche mit dem restlichen Whisky. Erleichtert griff er danach und nahm die Flasche an sich. Er wollte sich noch einen Moment ausruhen, dann würde er sich anziehen und das Krankenhaus verlassen. Was sollte er hier? Gerade, als er wieder auf dem Bett saß, klopfte es an der Zimmertür und im nächsten Moment stand die blonde Frau wieder vor ihm, die dabei gewesen war, als man ihn aufgegriffen hatte. Mit einem Blick erfasste sie die Situation. Sie ging schnell auf ihn zu, nahm ihm die Flasche sanft aus der Hand und sagte: »Das wollen Sie doch nicht wirklich. Heute ist Heiligabend und ich habe Feierabend. Deshalb wollte ich noch einmal nach Ihnen schauen. Wie fühlen Sie sich?«
Ian schaute sie an. Schließlich raffte er sich auf und antwortete. »Wie soll es mir schon gehen? Lassen Sie mich in Ruhe, ich möchte mich anziehen und gehen.«
»Wohin wollen Sie denn?«
»Das kann Ihnen doch egal sein«, gab er genervt zurück.
»Ist es aber nicht. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich bin ebenfalls allein. Wollen wir den Rest von Weihnachten gemeinsam verbringen?«
»Aber«, stotterte Ian. »Sie kennen mich doch gar nicht ...«
»Nein, aber ich finde, jeder hat eine zweite Chance verdient und Sie sehen aus wie ein anständiger Kerl. Ihre Blutwerte haben ergeben, dass Sie kein Gewohnheitstrinker sind. Sehen Sie, meinem Bruder konnte ich nicht helfen, als er vor einigen Monaten verschwand. Ich glaube, er ist in der Obdachlosenszene abgetaucht. Vielleicht können Sie mir sogar helfen ihn zu finden. Ich würde mich wirklich freuen, Sie, zumindest über die Feiertage, bei mir zu haben. Danach sehen wir weiter.«
Ian glaube zu träumen, aber diese Frau schien es wirklich ehrlich zu meinen. Und hatte Caitlin nicht immer gesagt, dass zu Weihnachten noch immer kleine Wunder geschehen konnten? Stumm nickte er.
»Ich heiße Nancy«, stellte seine Wohltäterin sich vor.
»Ian«, murmelte er.
»Ich weiß«, sagte sie leise und begann damit seine Habseligkeiten zusammenzupacken, während er sich anzog.
»Brauchen Sie den Whisky wirklich?«, fragte sie.
Wortlos nahm Ian ihr die Flasche aus der Hand und schüttete sie ins Waschbecken. Erstaunt registrierte er, dass es ihm nicht einmal schwerfiel.
»Gehen wir«, antwortete er.
Jetzt lächelte Nancy: »Frohe Weihnachten, Ian!«
»Frohe Weihnachten, Nancy.«