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Kapitel 15: Tafaris Reise
ОглавлениеTamiga, Westafrika, 2016
Akono kickte kleine Steine auf dem ausgetrockneten Weg vor sich her. Wie immer begleiteten ihn seine Freunde Bahati und Orma von der Schule nach Hause. Das durch europäische Unterstützung aus Lehmziegeln erbaute Schulhaus wurde 1993 mit einer großen Feier der knapp tausend Dorfbewohner eingeweiht. Akono war elf, Bahati ebenfalls, Orma bereits zwölf Jahre alt. Sie kannten es nicht anders, als jeden Morgen, außer sonntags, zum Unterricht zu gehen. Schreiben, Lesen, Rechnen, die englische Sprache sowie Landwirtschaft und Ackerbau zählten zu ihren Fächern, während sie die Freizeit am liebsten mit ihrem Sport, dem Fußballspielen, verbrachten.
Als Akono in die Nähe der strohgedeckten Lehmhütte seiner Eltern kam, verabschiedete er sich von den Freunden. Die etwas abseits gelegene Hütte des Kraals lag unweit der rund angeordneten Zentrumshütten des Dorfes. »Wir sehen uns. Ich bring meinen Ball mit. Wird aber später, weil ich Vater noch helfen muss.«
Die restliche Wegstrecke rannte Akono barfuß, ohne die Unebenheiten des Weges – dank der Hornhaut an den Füßen – zu spüren. Freudig stürmte er durch die halbrunde Öffnung der Behausung ins Innere. Der unbändige Hunger eines Elfjährigen musste gestillt werden, bevor man sich eiligst der Ausbesserung des Ziegenzaunes widmen konnte.
In der Lehmhütte war es düster, da einzig durch die Eingangsöffnung sowie eine weitere, rechteckige Fensteraussparung Licht in den Raum drang. Zu seiner Verwunderung lag die Mutter auf der Liege, während sein Vater kniend ihre Stirn mit einem Lappen befeuchtete.
»Ist Oluchi« – so hieß seine Mutter – »krank?«
»Ihr geht es nicht gut, Akono. Schon seit mehreren Stunden. Sie hat Fieber.«
»Was ist mit dem Zaun?«
»Der muss warten, Akono. Lauf hinüber zur Krankenstation und frag Tafari, ob er kommen kann.«
Die Krankenstation, vor drei Jahren von der UNESCO errichtet, bestand aus einer rechteckigen Lehmhütte, einem Zelt mit sechs Liegen sowie dem einheimischen Tafari, der aufgrund seiner rudimentären Grundkenntnisse der englischen Sprache durch Mitarbeiter der Organisation »Ärzte ohne Grenzen« in die medizinische Grundversorgung eingewiesen worden war. Daneben verfügte die Station über ein Auto, was im Dorf zu einer Besonderheit zählte.
Sofort lief Akono los, als er begriff, dass seine Mutter ihn weder angesehen noch begrüßt hatte. Sie lag nur da, schwer atmend, mit geschlossenen Augen. Wenige Minuten später stürmte er in das Zelt der Station. »Tafari, du musst dringend kommen! Oluchi ist krank. Sie hat nicht mal gelächelt, als ich in die Hütte kam.«
Tafari verband gerade einem Dorfbewohner die Hand. »Was hat sie, Akono?«
»Weiß nicht, aber Vater sagt, sie habe hohes Fieber. Komm mit!«
Unter Zuhilfenahme von braunem Klebeband fixierte Tafari den Verband des Verletzten, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und verließ das Zelt. »Warte noch, ich hole meine Tasche.«
Wenig später, bei Akonos Eltern angekommen, maß Tafari das Fieber von Oluchi sowie deren Blutdruck. Für mehr reichte seine Grundausbildung nicht. So konnte er nur mutmaßen, was der Auslöser der hohen Körpertemperatur war. »Wie lange hat Oluchi bereits so hohes Fieber?«
»Heute Morgen, als wir aufgestanden sind, ging es ihr gut. Sie klagte über Kopfschmerzen, aber es ging ihr gut«, meinte Thabo, Akonos Vater.
»Und wann kam das Fieber?«
»Das kann ich dir genau sagen: kurz nachdem Akono zur Schule ging, also um sieben Uhr. Ich war am Zaun der Ziegen beschäftigt. Sie rief nach mir – da sah ich ihre glänzenden Augen. Seitdem ist sie immer schwächer geworden und jetzt …« Thabo sah besorgt zu seiner Frau.
»Ich kann dir vorschlagen, sie mit nach Burkina Faso in das dortige Krankenhaus zu nehmen. Da fahre ich später hin.«
»Ist es schon so weit? Fliegst du?«
»Ja, morgen Früh geht’s los.« Tafari blickte voller Stolz, da er als erster Bewohner seines Dorfes in ein fremdes Land außerhalb Afrikas kam: Amerika. Er folgte einer Einladung von »Ärzte ohne Grenzen«, die für den Flug wie auch für einen einwöchigen Aufenthalt aufkamen. Seine Aufgabe bestand darin, der großen Stadt zu berichten, was sich im Dorf seit der Unterstützung durch das Ausland alles geändert hatte. Vom Bau des Brunnens, dem Schulsystem, der neu geregelten Landwirtschaft, die es ermöglichte, dass das Dorf zum Selbstversorger wurde. Und natürlich von seiner Krankenstation.
Thabo blickte zu Akono. »Kommst du alleine klar? Ich würde gerne mitfahren, um auf Oluchi aufzupassen. Morgen Abend bin ich zurück, wenn ich jemanden finde, der mich fährt.«
Akono nickte erleichtert, dass sich sein Vater entschlossen hatte, bei der Mutter zu bleiben. Die Dorfbewohner würden sich um ihn kümmern, so war es üblich. Eigentlich wurden die Kinder nicht nur von ihren Eltern erzogen, sondern von der gesamten Dorfgemeinschaft.
Tafari stand auf und warf einen letzten Blick auf Oluchi. Er selbst könnte ihr lediglich fiebersenkende Mittel geben, aber Oluchi schien sehr geschwächt. Und das nach so kurzer Zeit?
Auf der knapp zweistündigen Fahrt ins Hospital begegneten ihnen keine weiteren Autos. Ab und an kreuzte ein Eselskarren den Weg. Ansonsten weit und breit entlang der Strecke Buschland, unterbrochen von vereinzelt stehenden Lehmhütten und Kornspeichern. Oluchi lag fiebernd auf der Rücksitzbank des Wagens, während draußen eine flirrende Hitze von 45 Grad Celsius herrschte.
Kurz bevor sie in Burkina Faso ankamen, kontrollierte sie eine schwer bewaffnete Sondereinheit der Polizei. Tafari streckte eine in Plastik eingeschweißte Karte durchs Fenster, die ihn als Mediziner auswies, und wechselte einige Worte. Man winkte ihn durch und wenig später erreichten sie Léo, einen staubigen Marktflecken Burkina Fasos. Die sandige Straße war gesäumt von Müll sowie zerschlissenen schwarzen Plastiksäcken, deren Gestank nach verfaultem Obst und Tierkadavern ins Wageninnere drang.
Vor der Klinik, einem für diese Gegend beispiellosen Gebäudekomplex, machten sie halt. Das Gebäude, ein sandsteinfarbiger, zweiflügeliger Bau, zierten bunte Glasfenster und es verfügte neben Räumen für Ärzte und Klinikpersonal über zehn Betten und eine separate Isolierstation.
Thabo trug seine Frau durch die Flügeltüren in die Eingangshalle. Oluchi, außerstande sich zu bewegen, bekam nur schemenhaft mit, was um sie herum geschah. So schlecht war es ihr in ihrem ganzen Leben noch nie gegangen. Schmerzen peinigten sie, die sie trotz ihres einsetzenden Fieberwahns spürte.
Eine farbige Schwester mit rundem Gesicht und breiter Nase rollte ihnen eine Trage entgegen. Während Thabo an der Information die Personalien seiner Frau diktierte, folgte Tafari der Patientin, die von der Krankenpflegerin in einen Nebenraum geschoben wurde. Dort saß ein etwa fünfzigjähriger Arzt mit weißem Kittel, ein Stethoskop um den Hals.
»Seit wann hat sie hohes Fieber?«, fragte der Arzt mit besorgter Miene.
»Laut ihrem Mann seit heute Morgen.«
»Hast du ihr etwas dagegen gegeben?«
»Nein, wir sind direkt aus Tamiga hierhergefahren.«
Der Arzt nickte, während er die Entnahme von Blutproben vorbereitete. Dann wies er die Schwester an, der Infusion ein fiebersenkendes Mittel beizumischen. »Wir werden die Blutwerte testen und sie hierbehalten.«
Inzwischen war Thabo hinzugekommen; er verfolgte die Unterhaltung des Mediziners mit Tafari und beobachtete die Schwester beim Anlegen der Kanülen. Oluchi lag indes noch immer mit geschlossenen Augen auf der Krankenliege. Fein säuberlich verwahrte der Arzt die sechs mit Oluchis dunkelrotem Blut gefüllten Reagenzgläser und versah sie mit Aufklebern, die diese eindeutig identifizierten.
»Morgen wissen wir mehr. Bleibst du in der Stadt?«, fragte der Doktor.
»Ich fliege morgen und werde die Nacht wohl am Flughafen in Ouagadougou verbringen.« Tafari platzte fast vor Stolz.
»Könnte ich bei ihr bleiben?«, fragte Thabo sorgenvoll dazwischen.
»Sie können gerne die Nacht hier verbringen. Die Schwester wird Ihnen zeigen, wo Sie schlafen können und etwas zu trinken bekommen. Morgen wissen wir mehr.«
Es war kurz vor 06:00 Uhr, als sich die Sonne über das Flughafengelände erhob. Trotz der Aufregung gelang es Tafari, in der Wartehalle ein wenig zu schlafen. Sein Gepäck, ein hellbrauner, in Kunstleder gefasster Koffer, hatte er bereits am Abend eingecheckt. So musste er nur noch zu Gate 9, um die Maschine zu erreichen.
Punkt 07:15 Uhr spürte er, wie sein Körper in den Sitz der United Airline gepresst wurde. Über 10.000 Kilometer Flugstrecke lagen vor ihm. Im Direktflug wären es knapp 9.500 gewesen, doch für seinen Flug war eine Zwischenlandung in Brüssel (Ankunftszeit 14:17 Uhr Ortszeit) eingeplant. Dummerweise hatte er dort fünf Stunden Aufenthalt, sodass die Ankunft in New York für 22:25 Uhr angekündigt war. Danach flog die Maschine mit den restlichen Fluggästen weiter zum endgültigen Ziel: Miami.
Die Boeing 767-300 fasste knapp 200 Sitzplätze, wovon einige im hinteren Bereich unbesetzt blieben. Neben Tafari saß eine ältere Dame mit hellem, violett gefärbtem Haar, welches trotz Dauerwelle einen dünnen, eingefallenen Eindruck machte. Eigentlich müsste sie bereits ergraut sein, dachte Tafari, als er sie unbemerkt von der Seite anblinzelte. Sie trug eine braune Safarihose, weiße Bluse, Sportschuhe. Ihr Gesicht war stark geschminkt, wie Tafari befand, was vorrangig an dem dick aufgetragenen roten Lippenstift sowie den mit grüner Farbe bemalten Augenlidern lag. Sowohl ihre Hände als auch das Gesicht waren faltig; braune Altersflecke zierten die Handrücken. Es störte Tafari nicht, dass die Dame geringes Interesse an ihrem Sitznachbarn zeigte. Außer einem kurzen Lächeln, als sie ihren Platz gefunden hatte, nahm sie weiter keine Notiz von ihm. Dies änderte sich, nachdem sie den dritten Whisky bei der Stewardess bestellt und den Plastikbecher, wie die beiden anderen zuvor, in einem Zug geleert hatte.
»Sprechen Sie Englisch?«, fragte die Alte, als sie bereits über zwei Stunden in der Luft waren.
»Ja, ein wenig«, erwiderte Tafari und wandte den Blick vom runden Bullauge weg der Lilahaarigen zu.
»Sie müssen nicht denken, dass ich immer so viel trinke, aber ich leide unter schrecklicher Flugangst. Ungewöhnlich für eine New Yorkerin, meinen Sie nicht auch?«
»Gewiss.«
»Ich bin froh, dass Sie so schlank sind. Auf dem Hinflug vor einer Woche saß eine fürchterlich dicke Frau neben mir. Sie hat gar nicht gut gerochen.«
Tafari lächelte in der Hoffnung, nicht selbst einen üblen Geruch an sich zu haben. Immerhin trug er seine Kleidung schon seit zwei Tagen, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, im Flughafengebäude zu duschen.
»Wissen Sie, welcher Film gezeigt wird?«, fragte die Lilahaarige weiter.
»Nein, doch vor Ihnen liegt ein Programmheft. Da steht es, glaube ich, drin.«
»Ach Gott, natürlich. Daran hab ich alte Dame mal wieder nicht gedacht.« Sie kramte in dem Netz, das an der Rückenlehne des Vordersitzes angebracht war, und studierte die Bordzeitung.
Tafari blickte wieder in den strahlenden Himmel, der hellblau leuchtend über, neben und unter ihm zu sehen war. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er ein erhebendes Gefühl von Freiheit. Mit geschlossenen Augen malte er sich aus, wie es in New York sein würde. Die hohen Häuser. Er hatte bereits Bilder davon gesehen, doch schien es ihm unmöglich, in einem dieser Wolkenkratzer im hundertsten Stockwerk zu wohnen. Wie lange man da wohl braucht, um nach unten auf die Straße zu kommen? Die Straßen! Es müssen geteerte Wunderwerke sein. Nicht wie in Afrika, wo sie aus kilometerlang platt gewalztem Wüstensand bestehen. Über diesem Gedanken schlief er ein.
Sein Schlaf sollte nicht lange währen, denn die Sitznachbarin hantierte mit ihren knöchrigen Fingern eine halbe Stunde später neben ihm an der Armlehne, um den Stecker ihres Kopfhörers unterzubringen. Freundlich bot er Hilfe an, nahm selbst seinen Ohrhörer und sah sich gemeinsam mit vielen anderen Fluggästen den Spielfilm an.
Gegen Mittag verspürte er den Drang, die Toilette aufzusuchen; auch fröstelte er wegen der niedrigen Temperaturen der Klimaanlage. So drängelte er an den kurzen Beinen der Alten vorbei, nahm seine Jacke aus dem über den Sitzen angebrachten Staufach und lief geradewegs den Gang Richtung Cockpit. Die Kühle des Fliegers kratzte in seinem Hals, obendrein begann die Nase zu triefen. Hätte ich mir doch die Jacke schon vorher angezogen, schimpfte Tafari mit sich. Er war andere Temperaturen gewöhnt – nicht die der klimatisierten Räume.
Als die Toilette frei wurde, quetschte er sich durch die enge Tür. Beim Waschen der Hände hatte er anfänglich Schwierigkeiten. Dem Wasserhahn fehlte der Regler zum Drehen! Doch wie von Zauberhand lief das Wasser, sobald seine Hände in die Nähe des Hahns kamen – zog er sie zurück, hörte auch der Wasserhahn mit der Arbeit auf. Erstaunt über diese Technik, putzte er sich anschließend mit einem Papiertuch aus der Spenderbox die Nase. Dann schlenderte er zurück zu seinem Platz. Dabei drückte er sich an einer netten Stewardess vorbei, die ihn freundlichst anlächelte.
Kaum hatte er seine Sitzposition, über die Alte hinweg, eingenommen, musste er niesen. »So ein Mist«, fluchte er leise und hoffte, wegen dieser Temperaturen nicht krank zu werden. »Das würde mir noch fehlen!« Er wühlte in den Taschen seiner Jacke und der Hose, doch es fand sich kein Taschentuch.
Die niedliche Dame neben ihm bemerkte das Malheur und wedelte freundlich mit einer Packung Papiertaschentücher. »Ich kenne das, junger Mann. Regelmäßig habe ich Halsschmerzen, wenn ich aus diesen arktischen Temperaturen der Flieger aussteige. Ein Grund mehr, der für meine Flugangst spricht. Finden Sie nicht auch?«
Tafari nickte zustimmend und lächelte dankbar. Die Jacke spendete zwar wohlige Wärme, seine Nasenspitze jedoch blieb eiskalt. Gleich darauf hörte er ein »Ping«, als rote Signallampen über den Sitzreihen Anweisungen erteilten, die Sicherheitsgurte anzulegen.
»Ladys und Gentlemen, wir befinden uns im Anflug auf Brüssel. Aufgrund der guten Wetterlage und des Rückenwindes werden wir circa zehn Minuten vor der geplanten Ankunftszeit landen. Die Temperaturen in Brüssel betragen …«