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2.1 Die diagnostischen Kriterien

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Tabelle 2.1 zeigt die diagnostischen Kriterien der Depersonalisations-Derealisationsstörung im noch gültigen ICD-10 (F48.1) und im DSM-5 (300.6). Im ab 2022 gültigen ICD-11 erfolgt eine weitgehende Angleichung der ICD Kriterien an das DSM-5. Im ICD-10 wird die Depersonalisations-Derealisationsstörung auch als Depersonalisations-Derealisationssyndrom bezeichnet. In beiden Klassifikationssystemen fehlt ein Zeitkriterium. Experten sind sich diesbezüglich aber einig, dass die Diagnose in der Regel nicht vergeben werden sollte, wenn die Symptome nicht über mindestens drei Monate (besser sechs) die meiste Zeit des Tages vorhanden waren.

Tab. 2.1: Diagnostische Kriterien der Depersonalisations-/Derealisationsstörung nach DSM-5 (Abdruck erfolgt mit Genehmigung vom Hogrefe Verlag Göttingen aus dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition, © 2013 American Psychiatric Association, dt. Version © 2018 Hogrefe Verlag) und ICD-10.



Die Depersonalisations-/DerealisationsstörungDSM-5: 300.6ICD-10: F48.1

Typischerweise empfinden die Betroffenen die Symptome als quälend. Häufig fühlen sich Betroffene durch die Symptome im zwischenmenschlichen und oder beruflichen Bereich beeinträchtigt. Sehr häufig sind vor allem Ängste, »verrückt« zu werden, die Kontrolle über den Verstand zu verlieren und peinlich aufzufallen (»man könnte mir ansehen, dass etwas mit mir nicht stimmt«). Im späteren Verlauf der Erkrankung leiden die Betroffenen vor allem unter dem Gefühl der Isolation und der Angst, ihr Leben oder den Sinn ihres Lebens zu verpassen. Mit Bezug auf die Arbeits- oder Studier- und Lernfähigkeit beklagen die Betroffenen oft, dass sie Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren, neue Informationen aufzunehmen und zu behalten. Im zwischenmenschlichen Bereich fühlen sich die Betroffenen oft durch Ängste in sozialen Situationen, ihre »Gefühllosigkeit« oder dem Gefühl, »nicht authentisch zu sein«, beeinträchtigt.

Für die Diagnose eines Depersonalisations-Derealisationssyndroms ist es erforderlich, dass die Symptome von Depersonalisation und Derealisation nicht durch einen organischen Krankheitsprozess erklärt werden. Die wichtigsten organischen Erkrankungen, die ausgeschlossen werden sollten, sind Anfallskrankheiten wie die Temporallappenepilepsie oder andere Epilepsieerkrankungen, bestimmte Migräneformen und Schädigung des Gehirns durch Blutungen oder Tumore. Weiterhin sollten chronische organische Schlafstörungen (z. B. ein Schlafapnoesyndrom) ausgeschlossen sein, weil chronischer Schlafmangel auch zu Depersonalisation und Derealisation führen kann. Der Ausschluss einer organischen Ursache erfolgt meist in Form einer Blutentnahme und Laboruntersuchung (z. B. zum Ausschluss einer Schilddrüsenüber- oder -unterfunktion), einer Aufzeichnung der Hirnstrommuster mit Hilfe eines Elektroenzephalogramms (EEG) und/oder einer Magnetresonanztomografie (MRT) zur Darstellung des Gehirns. Falls Betroffene in der körperlichen Untersuchung keine neurologischen Auffälligkeiten haben, kann auf eine umfangreiche apparative Diagnostik verzichtet werden. Wenn Betroffene ausschließlich unter einer visuellen Wahrnehmungsstörung leiden (z. B. alles »wie zweidimensional« sehen oder »wie durch dickes Glas«), kann auch die Konsultation eines Augenarztes sinnvoll sein (Michal et al. 2006c). Tatsächlich waren auch die meisten Patienten, die mich wegen eines Depersonalisations-Derealisationssyndroms aufsuchten, wegen ihrer Beschwerden zumindest einmal bei einem Augenarzt gewesen. Allerdings ohne, dass ein Augenarzt jemals etwas Besonderes feststellen konnte. Meiner Erfahrung nach ist eine organische Ursache für einen langandauernden Zustand von Depersonalisation oder Derealisation extrem selten.

Da Symptome von Depersonalisation bei vielen unterschiedlichen Krankheiten vorkommen können, betonen beide Diagnosesysteme, dass Symptome von Depersonalisation und Derealisation nur dann als eine eigenständige (= primäre) Störung diagnostiziert werden können, wenn diese Symptome nicht ausschließlich als Begleitsymptome einer anderen seelischen oder körperlichen Erkrankung vorkommen. Zum Beispiel tritt kurzeitige Depersonalisation/Derealisation sehr häufig im Rahmen von Panikattacken auf. Es handelt sich dabei um heftige Angstanfälle, die meist nur 5–30 Minuten andauern, aber mit einer längeren Erwartungsangst (d. h. Angst vor dem erneuten Auftreten einer Panikattacke) einhergehen. Im Rahmen solcher Panikattacken kommt es nicht selten zu kurzzeitiger, Minuten dauernder, Depersonalisation. Tage, Monate oder gar Jahre dauernde Depersonalisation/Derealisation fällt jedoch nicht darunter.

Aufgabe des Arztes oder Psychologen ist es, durch eine gründliche Befragung nach allen weiteren Krankheitssymptomen zu klären, ob die Depersonalisation/Derealisation ausschließlich als Symptom einer anderen psychischen Störung auftritt oder als eigenständige Störung. Grundsätzlich ist nämlich davon auszugehen, dass Patienten, die unter einer Depersonalisations-Derealisationsstörung leiden, in den meisten Fällen auch Diagnosen anderer seelischer Erkrankungen, meist einer Angststörung oder Depression, aufweisen.

Das gleichzeitige Vorkommen unterschiedlicher Diagnosen wird in der Medizin als Komorbidität bezeichnet und ist bei seelischen Erkrankungen eher die Regel als die Ausnahme. Die Rede von der Komorbidität suggeriert dabei, dass es sich bei unterschiedlichen Diagnosen um unterschiedliche Krankheiten handelt. Dies ist im Bereich seelischer Erkrankungen aber nur bedingt richtig. Ein Unterarmbruch (Diagnose = Radiusfraktur) und eine Depression (Diagnose = z. B. mittelgradig depressive Episode) sind eindeutig zwei unterschiedliche Krankheiten, die keine gemeinsamen Krankheitsmechanismen teilen und ganz und gar unterschiedliche Therapiestrategien erfordern. Bei seelischen Erkrankungen ist dies etwas anders gelagert. Auch wenn sich unterschiedliche Diagnosen seelischer Erkrankungen gut voneinander abgrenzen lassen, so hängen die Ursachen hierfür meist eng zusammen. Für die Behandlung bedeutet dies, dass es notwendig ist, den Betroffenen als ganze Person mit seinen biologischen, sozialen und seelischen Eigenschaften wahrzunehmen. Dies schließt allerdings ein störungsspezifisches Vorgehen in der Therapie keinesfalls aus.

Typisch für Patienten mit einer Depersonalisations-Derealisationsstörung sind weiterhin oft folgende Probleme und Begleiterscheinungen, ohne dass sie direkt zu den diagnostischen Kriterien zählen (vgl. DSM-5, APA 2013, S. 303 ff): Betroffene geben oft Schwierigkeiten an, ihre Symptome zu beschreiben, obgleich es ihnen mit entsprechender Ermunterung meist sehr gut gelingt. Sie befürchten, »verrückt« zu sein oder zu werden, oder aber an einem unheilbaren Gehirnschaden zu leiden. Sehr häufig beklagen Patienten eine subjektiv veränderte Zeitwahrnehmung, sei es, dass die Zeit viel zu schnell oder zu langsam vergehe. Außerdem haben Betroffene oft Schwierigkeiten, sich Erinnerungen lebhaft ins Gedächtnis zu rufen und ihre Erinnerungen als persönlich bedeutsam zu empfinden. Unspezifische körperliche Beschwerden wie Kopfdruck, Kribbeln oder Benommenheit sind ebenfalls nicht selten. Viele Betroffene berichten von einer Verschlimmerung der Symptome bei grellem Licht, Neonlicht oder überhaupt, wenn es hell ist. Auch andere Arten der Überreizung (z. B. Menschenmengen, Lärm) führen nicht selten zu einer Intensivierung der DDS-Symptomatik (vgl. Simeon und Abugel 2008). Manche Betroffene verfallen in ein extremes Grübeln: Sie können sich kaum noch von der Frage lösen, ob sie tatsächlich existieren. Oder aber sie sind ständig mit der Kontrolle der eigenen Wahrnehmung beschäftigt. So überprüfen sie andauernd, wie »wirklich« oder »unwirklich« die Art ihrer Wahrnehmung gerade ist. Dieses ständige Überprüfen empfinden sie als sehr anstrengend. Sie können es aber nicht einstellen, aus Angst, sonst die Kontrolle zu verlieren. Unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome von Angsterkrankungen oder Depressionen sind ebenfalls typisch.

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