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3 Die Geschichte der Erkrankung
ОглавлениеDie Depersonalisations-Derealisationsstörung ist keine neue Erfindung und keine Modeerkrankung, sondern eine der ersten seelischen Erkrankungen, die in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben wurden. Eine der ersten wissenschaftlichen Darstellungen dieses Phänomens stammt von dem deutschen Psychiater Wilhelm Griesinger (1817–1868), der als einer der Begründer der modernen, naturwissenschaftlichen Psychiatrie gilt. Er verfasste eines der ersten psychiatrischen Lehrbücher »Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten« (1845). Darin beschrieb er u. a. verschiedene Formen von Empfindungsstörungen. So zitiert er eine melancholische (depressive) Patientin mit den Worten: »Ich sehe, ich höre, ich fühle, aber die Gegenstände gelangen nicht mehr zu mir, ich kann die Empfindungen nicht aufnehmen, es ist mir, als wäre eine Wand zwischen mir und der Außenwelt« (Griesinger 1845, S. 67). Griesinger bezeichnet diese Abgelöstheit als eine Art von Anästhesie (d. h. als Empfindungslosigkeit). Ein Stück weiter beschreibt er noch die Auswirkungen dieser Empfindungsstörung auf die Wahrnehmung der Umgebung:
»[…] die Außenwelt, lebendig oder unbelebt, erscheint uns plötzlich kalt und fremd geworden, es ist uns, als ob auch unsre Lieblingsgegenstände gar nicht mehr zu uns gehörten, und indem wir von nichts mehr einen lebendigen Eindruck erhalten, finden wir uns noch mehr zur Entfremdung von den Außendingen und zur inneren Vereinsamung bestimmt« (Griesinger 1845, S. 68).
Mit diesen Worten beschreibt er das zentrale Thema der Depersonalisation – nämlich die Abgelöstheit (engl. detachment) und eine der wesentlichen Folgen der Depersonalisation, nämlich die »innere Vereinsamung«.
Die erste wissenschaftliche Fallsammlung wurde im Jahr 1873 von dem ungarischen Hals-Nasen-Ohrenarzt Krishaber (1836–1883) veröffentlicht. In seiner Abhandlung »De la névropathie cérébro-cardiaque«, wörtlich übersetzt »Vom Nerven-Hirn-Herzleiden«, schilderte Krishaber das Phänomen der Depersonalisation, ohne allerdings einen Namen dafür zu haben. In seiner Fallsammlung beschrieb er achtunddreißig Patienten, die unter einem psychosomatischen Beschwerdebild litten, welches durch Ängste, starke Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und Schwindelgefühle gekennzeichnet war. Mehr als ein Drittel dieser Patienten beklagte außerdem Depersonalisation und Derealisation. Einer dieser Fälle sei nachfolgend wiedergegeben. Dieses längere Zitat aus Krishabers Fallsammlung stammt in seiner deutschen Übersetzung aus einer Arbeit des deutschen Psychiater Ernst Störring (Störring 1933, S. 463–465):
»Ein 43jahriger Oberst, dessen Vater an Hirnerweichung gestorben war. Im Übrigen keine neuropathische Belastung. Schon in seiner Jugend hatte er peinliche Angstträume, die mit kurzdauernden Attacken von ›Katalepsie‹ schlossen. Zu gleicher Zeit glaubte er sich verdoppelt. 12 Jahre vor Beginn der Erkrankung hatte er das Gefühl des Traumhaften und des Unbestimmten im Denken. Er bezog das auf Pollutionen7. Er war stets mäßig, arbeitete jedoch viel und vertrieb den Schlaf durch Tee und Kaffee. Infolge seines Dienstes war er außerdem körperlichen Ermüdungen ausgesetzt. Hierzu kam, dass er heftigen Kummer erlitt. Eines Tages empfand er plötzlich einen ziehenden Schmerz in der Herzgegend und hatte das Gefühl, gewürgt zu werden. Er konnte kaum seine Tränen zurückhalten. Von Stunde zu Stunde wurde ihm schlechter, es war ihm, als wolle ihn etwas einhüllen und sich zwischen ihn und die Außenwelt einschieben. ›Es war wie eine Barriere zwischen mir und der Welt‹. Wenn er sprach, erschien ihm die Stimme seltsam, er erkannte sie nicht und hielt sie nicht für die seine. Er konnte seine Aufmerksamkeit nicht auf das richten, was man ihm sagte. Es stiegen ihm Zweifel an seiner Existenz auf, er glaubte nicht mehr er selbst zu sein. Zeitweise war er sogar sicher, nicht zu existieren. Gleichzeitig hatte er das Bewusstsein der Realität der Außenwelt verloren und fühlte sich, wie in einen tiefen Traum versunken. Nachts traten Alpträume und Herzklopfen auf. Der Schlaf wurde ständig unterbrochen. 3 Tage nach der ersten Attacke eine neue heftigere. Am 4. Tag die dritte. Als er trotzdem ausreiten wollte, war es ihm, als wenn er vor Müdigkeit in Stücke fiele. Seit diesem Tag wurde der Zustand dauernd. Durch 2 Jahre hindurch wich er nicht, er verschwand erst allmählich im Verlauf des 3. Jahres. Er fühlte den Boden nicht, wenn er ging und hatte Furcht, zu fallen. Seine Beine schienen ihm nicht zu ihm zu gehören. Zeitweise trat Vernichtungsgefühl auf, außerdem Schwindel und Betäubungsgefühle. Er konnte nicht erkennen, was vor ihm war. Das Vermögen, sich zu orientieren, war ihm verloren gegangen. Auch wenn er nur eine kurze Strecke von seinem Hause entfernt war, gelang es ihm nicht, seinen Weg wiederzufinden. Er konnte den Blick nicht fixieren. Auch trat Doppelsehen auf. Das Doppelsehen war geringer, wenn er nur vor sich hin sah. Es war stärker beim Fixieren. Die Objekte hatten ihren natürlichen Charakter verloren. ›Die Fremdartigkeit alles dessen, was ich sah, war derartig, dass ich mich auf einen anderen Planeten versetzt glaubte‹. Er war ständig erstaunt und es schien ihm, als sei er zum ersten Mal auf der Welt. Er war nicht mehr der gleiche wie früher, er hatte sein Selbstbewusstsein verloren, manchmal war es ihm, als existierte er nicht. Zwischen seinen Sehstörungen und dem Zweifel an seiner Existenz bestand ein inniger Zusammenhang. Zeitweise fürchtete er, man könne ihn für verrückt halten oder er könne es werden. Daneben noch das Gefühl der Trunkenheit, der Angst und des Würgens. Dieses verfolgt ihn sogar im Traum. Die Träume sind überhaupt ängstlich und schreckhaft. Auch unter Tags überkam es ihn wie Alpdrücken. Ohrensausen bestand seit dem Beginn der Erkrankung. Manchmal hörte er eigenartige Geräusche im Kopf. Den Geschmack und den Geruch der Speisen erkannte er nicht. Er unterschied beim Berühren die Objekte nicht, wenn er die Augen geschlossen hielt. Er konnte in den ersten Monaten seinen Geist nicht auf bestimmte Gegenstände richten, konnte weder lesen noch schreiben. Später trat eine intellektuelle Übererregung auf. ›In diesem Zustand schrieb ich Journalartikel, welche für besser gehalten wurden als diejenigen, die ich vor meiner Erkrankung geschrieben hatte und trotzdem war ich schrecklich benommen und fühlte mich schwer gestört, als ich sie niederschrieb. Ich misstraute mir völlig, ich glaubte nichts zu wissen, und als ich erfuhr, dass meine Artikel geschätzt wurden, war ich darüber sehr erstaunt‹. Seine Niedergeschlagenheit war so, dass er sich von der ganzen Welt isolieren wollte. Er glaubte sich verachtet von allen. Er verwechselte Tatsachen häufig mit den Erinnerungen seiner Träume bei Dingen, die ihn sehr innig betrafen. Aber er bewahrte das exakteste und treueste Gedächtnis für alles das, was seine Krankheit anbetraf. Wollte er sich abends an die Ereignisse des Tages erinnern, so schien es ihm, als ob sich nichts ereignet hätte. Häufig traten unfreiwillige Ideenverbindungen und Erinnerungen auf. Wenn er diese sah oder jemanden sprechen hörte, fühlte er sich unwillkürlich in die Vergangenheit versetzt. Es waren dann seine Erinnerungen lebhaft. Er hielt sein Gedächtnis wie seine übrigen Fähigkeiten bald für gehemmt und vernichtet, bald für übererregt, ja sogar für gesteigert. Das Orientierungsvermögen war fast vollständig verloren. ›Ich betrachtete ohne zu sehen, alles rollte sich vor mir ab, ohne meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen‹. Seine Freunde, seine Familie wurden ihm gleichgültig, nur mit Anstrengung konnte er sich mit seinen kranken Kindern beschäftigen. Er war außerordentlich reizbar. Er hatte heftige unmotivierte Abneigungen gegen bestimmte Personen. Er konnte nichts mit Ruhe beurteilen. Er verspürte Antriebe, unpassende Worte auszusprechen. Wenn er nicht erregt war, war er vollkommen indifferent. Abends war er meist erregt. Und dann fühle er seine Fähigkeiten wirklich verdoppelt. Vorübergehend traten Störungen der Aussprache auf. ›Ich dachte ständig an meine Krankheit und ich glaube, dass während der ganzen Dauer meiner Krankheit keine Minute verstrichen ist, in der mein Geist sich nicht mit ihr beschäftigte‹. Außerhalb der Exaltation war er willenlos, energielos und ohne Initiative. ›Aber wenn es sich um meine Gesundheit handelte, fand ich meine Energie wieder‹. Die Empfindung, nicht zu sein, war so ausgesprochen, dass er sich scheute, irgendwo sein Bildnis zu sehen. Er war verzweifelt. Er konnte sich nicht geregelt betätigen. Er begann, ließ aber das Begonnene bald wieder im Stiche. Außerdem bestanden eine Reihe von körperlichen Beschwerden. Er hatte Benommenheitsgefühle, war empfindlich gegen die Witterung, hatte Verdauungsstörungen. Der Schlaf blieb schlecht. Unter dem Einfluss der Behandlung wurde er gebessert und 2 Jahre nach dem Beginn der Erkrankung gab er an, allmählich wieder eine genaue Kenntnis von der Außenwelt zu haben.«
Soweit dieser fast 150 Jahre alte Bericht, in dem sich über weite Passagen auch noch heute Patienten mit einer DDS wiedererkennen werden.
Für dieses Gefühl der Unwirklichkeit und Abgelöstheit wurde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts von dem französischen Psychiater Ludovic Dugas »Depersonalisation« als medizinischer Fachbegriff eingeführt (Dugas 1898). Dugas selbst entlehnte den Begriff der Depersonalisation den Tagebüchern des französisch-schweizerischen Schriftstellers und Philosophieprofessors Henri Frédéric Amiel (1882–1881). Amiel schrieb wie ein Besessener Tagebuch, 17.000 Seiten wurden nach seinem Tod gefunden. In der Übersetzung von Paul Schilder lautet eine seiner Selbstbeschreibungen so:
»Ich höre mein Herz schlagen, und mein Leben zieht vorüber. Es scheint mir, dass ich eine Statue geworden bin, an den Ufern des Flusses der Zeit […]. Ich fühle mich namenlos, unpersönlich, mein Blick ist starr, wie der eines Toten, mein Geist ist unbestimmt und auf alles gerichtet, auf das Nichts oder das Absolute; ich bin aufgehoben, es ist, wie wenn ich nicht wäre. Dieser Zustand ist weder Betrachtung noch Erstarrung, er ist weder schmerzhaft, noch freudig noch traurig; er ist außerhalb jedes besonderen Gefühls und jedes begrenzten Gedankens. […] Ich habe die Wesenlosigkeit eines Fluidums, eines Dampfes, einer Wolke und alles wandelt sich leicht in mir« (Schilder 1914, S. 156).
Letztendlich wurde die Depersonalisations-Derealisationsstörung bereits Ende des 19. Jahrhunderts definiert. Bis heute hat sich daran nichts mehr Entscheidendes geändert wie die englische Forschergruppe um Mauricio Sierra zeigen konnte (Sierra und Berrios 2001), indem sie 200 Fälle mit einer DDS, die seit 1898 bis in unsere Zeit in der medizinischen Literatur veröffentlicht wurden, miteinander verglichen. Seit 1898 hatte sich die klinische Beschreibung der DDS im Kern nicht geändert. Immer wieder fanden sich die drei Symptombereiche, emotionale Abgelöstheit, Derealisation und verändertes Körpererleben.
Im Folgenden wird noch auf zwei andere Krankheitsbegriffe eingegangen, die zwar heute im klinischen Sprachgebrauch nicht mehr verwendet werden, die jedoch sehr gut zwei Patientengruppen mit einer DDS beschreiben; nämlich die Entfremdungsdepression und das phobische Angst-Depersonalisationssyndrom.