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Realsatire

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»Die Deutschen bestehn aus Leidenschaft und politischem Defekt. […] Deutschlands Geschichte heißt: Spaltung. Scheelsucht; Hemmnis; Hass.« So der große Kritiker der Weimarer Republik, Alfred Kerr.[5]

Nun ist die Spaltung der Gesellschaft ein Phänomen, das man derzeit überall in der westlichen Welt beobachtet; die Gründe für die Polarisierung in der Weimarer Republik waren andere als heute. Dennoch, ist es vielleicht auch unser Nationalcharakter, der uns in periodischen Abständen aufeinander losgehen läßt? Und ist es mit Blick auf unsere Geschichte also ganz normal, was wir derzeit als Disruption und Parzellierung erleben?

Die zunehmenden Forderungen der politischen Korrektheit an unsre Sprache beschäftigen mich seit Jahren. Als Schriftsteller, der die deutsche Sprache nicht nur liebt, sondern ihrer mitsamt allem Wildwuchs ungeharkt und ungejätet bedarf, um daraus etwas Literarisches zu gestalten, sah ich mich immer öfter gezwungen, sie gegen Diskreditierungs- wie Vereinnahmungsversuche weltanschaulicher Eiferer in Schutz zu nehmen. Anfangs noch voller Hoffnung: Aufgewachsen in den linksgrünen Biotopen der Siebzigerjahre, in denen alles mit allen ausdiskutiert wurde, fühle ich mich der Idee einer permanenten Aufklärung verpflichtet und bin überzeugt, daß jeder These jederzeit von jedem widersprochen werden kann, sogar sollte, um den dialektischen Prozeß der Erkenntnis voranzutreiben. Auch was den zunehmenden Haltungsdogmatismus der letzten Jahre betrifft, war ich lange der Meinung, daß nur jeder gut gelaunt gegenhalten müsse, bis auch diesmal alles mit allen geklärt und zum Kompromiß gebracht sein würde, durch den sich demokratische Gesellschaften seit je beglaubigen. Von heute aus betrachtet, mag diese Einschätzung naiv erscheinen.

Irgendwann hat mich nichts mehr überraschen können – nicht die These, daß die Musik der Deutschen Klassik rassistisch ist;[6] nicht die, daß zwei plus zwei nicht unbedingt vier ergibt, wenn man Diversität wirklich ernst nimmt;[7] nicht die, daß es reicht, sich als Frau zu fühlen, um auch eine zu sein, selbst mit sämtlichen Geschlechtsmerkmalen eines Mannes – und daß Frauen nicht unbedingt Frauen sind, sondern »menstruierende Personen«, weil man mit der Bezeichnung »Frau« Frauen beleidigt, die sich nicht als Frau fühlen wollen.

Worüber man früher als Satire gelacht hätte, wurde Realsatire.[8] Zum Lachen war mir dabei immer weniger zumute, eine kulturelle Revolution ist kein Spaß, und nichts Geringeres erleben wir derzeit: Eine vergleichsweise kleine Gruppe, die sich als Elite versteht, ist angetreten, uns im Zeichen der Wokeness das Sprechen, das Denken und den Umgang miteinander neu beizubringen und, um ihr moralisierendes Narrativ durchzusetzen, auch unsre Vergangenheit neu zu bewerten beziehungsweise gleich zu übermalen, vom Sockel zu stürzen oder umzuformulieren.

Wokeness, das ist Ausweitung der Political Correctness auf alle Lebensbereiche. Ihre Protagonisten sind auch hierzulande extrem umtriebig und finden immer neue Anlässe, um unseren Alltag mit ihrer Terminologie zu besetzen und neu zu strukturieren. Was anfangs wie die Selbstbeschäftigung universitärer Eliten anmutete, entpuppte sich mehr und mehr als eine mit jakobinischem Eifer betriebene Selbstzerstörung unsrer intellektuellen Republik.

Längst habe ich einen Gutteil meines Optimismus verloren, daß sich die Errungenschaften der Aufklärung durch beharrliche Widerrede gegen die Absurditäten einer grassierenden Gegenaufklärung verteidigen lassen. Längst frage ich mich, ob der Vormarsch derer, die bei jeder Gelegenheit Haltung zeigen oder, sofern es keine Gelegenheit gibt, kurzerhand Gelegenheit schaffen, noch zu stoppen ist. Hat nicht alles, was wir sagen, denken, tun, seine Unschuld verloren, ist zum Erkennungszeichen einer Ideologie hochstilisiert und gleichzeitig entwertet worden? Stehen wir aufgrund solcher, vor kurzem hätte man noch gedacht, Kleinigkeiten nicht alle längst in irgendeinem weltanschaulichen Lager, selbst gegen unseren Willen, und unter permanenter Beobachtung, wenn nicht Generalverdacht: ehemals »mündige Bürger«, jetzt beigepreßte Söldner dieser oder jener Kleingeisterei, die, jede auf ihre absolutistische Weise, den liberalen Westen sukzessive rückabwickelt zum Flickenteppich identitätspolitisch befestigter Duodez-Fürstentümer?

Die Alternative, vor der wir täglich aufs neue stehen, ist: mitmachen und uns dieser oder jener Haltung anschließen – oder, trotz allem, erst mal selber denken, unabhängig denken. Auch wenn man dabei verläßlich schlechte Laune bekommt und immer wieder Angst, daß sich der ganze Irrsinn demnächst in einem großen Knall entlädt. Sofern wir zu den Straßenschlachten, wie sie zwischen den verfeindeten Lagern und mit Vertretern der Staatsgewalt geführt werden, die Gesinnungsschlachten auf den Datenstraßen der sozialen Netzwerke rechnen, hören wir schon, wie der Boden bebt, auf dem wir stehen.

Mein Abschied von Deutschland

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