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Dazwischen

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Denn wie könnte man einen Roman schreiben, wenn die Basis aller Kreativität bedroht ist, die Freiheit der Sprache und der Phantasie? Nicht meine persönliche Freiheit. Ich habe mit meinem Verleger gesprochen und weiß, daß eine vorauseilende Selbstzensur im Sinne des Zeitgeists auch bei künftigen Veröffentlichungen nicht von mir erwartet wird; ein Verlag sei ja geradezu die Inkarnation der Meinungsfreiheit. Was sind das für Zeiten, wo man für diesen Satz, der noch vor zehn Jahren eine Selbstverständlichkeit gewesen wäre, dankbar ist? Ich weiß von Schriftstellern wie von Journalisten – von Wissenschaftlern ganz zu schweigen –,[9] die kaum noch oder nur in entsprechend redigierter Form publizieren können.

Wenn die Freiheit bedroht ist, kann es nichts Wichtigeres geben, als für sie einzutreten. Aber Sie können sich doch frei äußern, erwidert man hier gern, wenn man die Bedrohung herunterspielen möchte. Ja, das kann ich in der Tat. Und indem ich mich äußere, tue ich es vielleicht auch für all diejenigen, die es nicht mehr können. Der Verweis auf die formaljuristisch garantierte Meinungsfreiheit in unserem Land klingt ihnen wie eine Verhöhnung, weil sie für ihre Ausübung der Meinungsfreiheit zwar nicht vom Gesetzgeber, wohl aber von ihrem beruflichen oder privaten Umfeld mit Mobbing, Aufkündigung der Zusammenarbeit oder sozialer Ächtung abgestraft wurden.

Dem gegenüber steht eine überwiegende Mehrheit, die eigentlich nicht schweigen müßte. Welche Folgen Opportunismus haben kann, weiß man als Deutscher; Schweigen aus Bequemlichkeit sollte hierzulande keine Option mehr sein. Kritik dessen, was eine lautstarke Minderheit zur Mehrheitsmeinung machen will, gehört zum kleinen Einmaleins des Demokraten – ich habe es durch meine Eltern, die Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg erlebt haben, von klein auf eingeschärft bekommen.

Nie wollte ich mich als politisch engagierten Schriftsteller begreifen, weil ich den Platz des Schriftstellers nicht an der Seite dieser oder jener Partei sehe, sondern im Raum dazwischen. Hier kreuzen sich die Radien kontroverser Positionen, hier hält man sich als freier Geist bevorzugt auf. Von den Schnittpunkten dieser Linien hat man, nicht nur als Schriftsteller, den besten Überblick und ist doch gleichzeitig auf Distanz zu sämtlichen weltanschaulichen Lagern. Mit Odo Marquard ist es der Ort, der am weitesten von allen absoluten Positionen und damit vom Pathos entfernt ist; der Ort der Ironie und der Skepsis, mitunter auch der Inkonsequenz und der »Abweichungen von sich selbst« im Sinne einer »Gewaltenteilung« von ansonsten potentiell übermächtigen Überzeugungen.[10] Ebendieses Dazwischen wird zur Zeit von allen Seiten bedrängt; indem wir es verteidigen, verteidigen wir die Freiheit.

Das Dazwischen ist der Ort des wilden Denkens. Mit Levi-Strauss und der ganzheitlichen Weltsicht der Naturvölker hat das nichts zu tun. Mit esoterischem Querdenkertum erst recht nicht. Wildes Denken heißt gelebte Dialektik, heißt Widerständigkeit gegen alles, was als Gesinnung zu Gefolgschaft nötigen will. Es akzeptiert keinerlei Vorgaben und Grenzen, hingegen jede bestechende Formulierung oder Gedankenvolte, auch wenn sie der eigenen Position zuwiderläuft. Wer wild denkt, ist Kosmopolit in der Welt der Meinungen und Haltungen, der Überzeugungen und Doktrinen. Haltungslos ist er deshalb nicht, im Gegenteil, zu Zeiten hat er mehr als eine Haltung. Auch zwischen den weltanschaulichen Fronten einer gespaltenen Gesellschaft bleibt er ein Reisender und hält so die Transferwege des intellektuellen Austauschs frei und offen.

Geschichte wiederholt sich, aber sie wiederholt sich nicht eins zu eins. Wir alle haben jede Menge zu verlieren, auch in der Literatur geht es bereits ans Eingemachte. Es geht an die Texte selbst, es geht an den Kanon, es geht an das, was wir künftig in welcher Wortwahl und Grammatik noch schreiben dürfen und wer es aufgrund seines Geschlechts, seiner Hautfarbe, seiner Herkunft, seiner sexuellen Orientierung nicht mehr darf. Die Freiheit der Phantasie, die Freiheit des Gedankens und der Sprache ist durch Maßregelungen aller Art bedroht. Nicht von ungefähr hat sich der internationale PEN schon 2020 in einer Pressemeldung dagegen verwahrt:

Wir verteidigen die Phantasie. […] Wir glauben, dass die Vorstellungskraft sich in jede menschliche Erfahrung einfühlen kann. Beschränkungen nach Zeit, Ort oder Herkunft lehnen wir ab. […] Die Literatur übertritt alle wirklichen und eingebildeten Grenzen. Ihr Reich ist stets universell.[11]

Wer hätte noch vor wenigen Jahren ahnen können, daß sich der PEN auch einmal in der westlichen Welt für die Freiheit des Wortes einsetzen muß? Wer, daß es wieder Bücherverbrennungen gibt, vorerst nur im Netz,[12] die sogar von Journalisten gerechtfertigt werden? Wer, daß der Börsenverein des deutschen Buchhandels auf der Frankfurter Buchmesse 2021 Podiumsdiskussionen zum Thema »Ist die Kunstfreiheit in Gefahr?« ausrichten würde – und damit nicht auf Zustände in China oder in der Türkei aufmerksam machen will?

Die Literaturbranche ist die Herzkammer der Demokratie. Wenn die gesetzlich verbriefte Kunst- und Meinungsfreiheit durch freiwillig eingeführte Compliance-Richtlinien, etwa zur identitätspolitischen Quotierung von Themen, konterkariert wird, wird sie auch in allen anderen Bereichen der Gesellschaft de facto nicht mehr einschränkungslos gewährt werden. Nicht nur das Zuhören müssen wir in Deutschland wieder neu lernen, sondern auch das wilde Denken.

Mein Abschied von Deutschland

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