Читать книгу Die Festung im Moor - Matthias Scheele - Страница 4

Das Opfer

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Es war am Abend des ersten Frühlingstages im Jahre 312 als sie ihn vor die Tore der Festung schleiften. Sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gebunden und den Mund mit einem Knebel verschlossen, sodass kein einziges lasterhaftes Wort mehr über seine Lippen kam. Er hatte eines der schlimmsten Verbrechen begangen, dass es in den ungeschriebenen Gesetzen seines Stammes gab. Der Name des Getriebenen war Gunnrik. Er hatte die Götter gegen sich aufgebracht, indem er sie öffentlich verfluchte, lästerte und ihnen ihre Macht absprach. Deshalb mussten sie handeln. Die Götter zu erzürnen konnte großes Unheil über die Sippe bringen. Zwei kräftige Männer schleiften ihn hinter sich her. Gestandene Krieger, die ihrem Herrn, dem Fürsten der Sachsen, einem Mann mit Namen Valdr, treu ergeben waren. Begleitet wurden sie von drei weiteren Kriegern, mit großen, runden Schilden auf dem Rücken und einem Speer in der Hand. Auch der Fürst war mit dabei. Nicht nur, weil es das Recht in diesem Fall verlangte. Dieser Gang war für Fürst Valdr ein sehr schwerer, denn Gunnrik war sein Sohn. Und jetzt verlangten die Götter das größte Opfer, dass ein Vater imstande war zu geben. Sein Sohn musste sterben.


Die Sonne war bereits untergegangen und der Mond erhob sich im Osten, als sie ihr Ziel erreichten: einen Bohlenweg, der dort endete, wo das Moor begann. Arnulf, einer der Krieger, die den zum Tode verurteilten hierher gebracht hatten, holte mit einem kleinen Beil aus und zertrümmerte Gunnrik die Kniekehlen. Unter Schmerzen schreiend sank dieser in sich zusammen. Danach trat Bjorn vor. Er war ein ungemütlicher Zeitgenosse, stets auf Streit aus und ein Trunkenbold. Doch wenn es eines gab, was er respektierte und wogegen er sich niemals auflehnen würde, waren es die Götter. Solches wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Bjorn packte Gunnrik bei den Haaren, zog seinen Kopf nach hinten und hielt ihn mit einer Hand dort fest, während er mit der anderen ein langes Messer aus seinem Gürtel zog. Er setzte es Gunnrik an die Kehle und blickte zu Valdr. Dieser trat vor und nahm Bjorn das Messer aus der Hand.


Der Fürst blickte seinen Männern mit fester Entschlossenheit in die Augen.

>>Wir sind hier um meinen Sohn zu richten. Mein eigener Sohn, der sich so schändlich gegen die Götter auflehnte, weil er meinte, sie hätten etwas Persönliches gegen ihn.<<

Sein Blick wanderte zu Gunnrik, dem er nicht weniger entschlossen in die Augen sah. Es machte keinen Unterschied. Es durfte nicht ein Recht für die Männer und Frauen seines Stammes und eines für seine Familie geben.

>>Gunnrik, du hast Woden gegen dich und deine Sippe aufgebracht, die jüngsten Ereignisse beweisen dies.<< Valdr fiel es sichtlich schwer diese Worte zu sagen. Ganz gleich, was er getan hatte, Valdr liebte seinen Sohn.

Er musste an früher denken, an bessere Zeiten. Es kam ihm so vor, als hätte er Gunnrik erst gestern noch in seinen Armen gehalten, kurz nach seiner Geburt. Es war Jahre her, als Gunnriks Mutter an einem Lungenleiden gestorben war und jetzt sollte er auch noch einen seiner zwei Söhne verlieren.

>>Wieso konntest du nicht einfach mit mir reden? Jetzt ist es für all dies zu spät. Ich muss dich richten, um den Zorn der Götter von uns abzuwenden.<<

Weshalb sich Gunnrik so plötzlich gegen die Götter gestellt hatte, was in ihn gefahren war Woden, ihren obersten Gott zu verfluchen, das hatte Valdr niemals herausgefunden und Gunnrik hatte nie darüber gesprochen. Doch hatte es Konsequenzen nach sich gezogen. Etwa einen Monat, nachdem Gunnrik einen Pfahlgötzen Wodens im Sumpf niedergebrannt hatte, schlug ein Blitz in einen von Valdrs Getreidespeichern ein, der beinahe die Ernte eines halben Jahres vernichtet hätte. Dann, als ob dies nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hatte eine Sturmflut bei Fallward, einer kleinen Wurtensiedlung weiter westlich direkt an der Küste gelegen, in der auch Valdrs Bruder lebte, einige Felder überschwemmt und auch dort die Ernte größtenteils vernichtet.


Der Fürst wartete noch immer auf ein Zeichen der Götter, dass dieses Opfer nicht nötig war. Doch von Westen her zogen über der Nordsee bereits große, schwarze Wolken auf. Valdr wusste, dass Woden dieses Opfer verlangte. Er umfasste den Griff des Messers so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Unversehens holte er aus und mit einem lauten Schrei seelischen Schmerzes stieß er es seinem Sohn in die Kehle. Gunnriks Blut ergoss sich ins Moor und schließlich war es Bjorn, der mit einem beherzten Fußtritt Gunnriks Körper ins Moor stieß. Da das Opfer nicht sofort versank, halfen die Krieger, die dabei waren nach, indem sie ihn mit ihren Speeren so lange nach unten drückten, bis von Gunnriks Körper nichts mehr zu sehen war.


Valdr verpasste Bjorn eine deftige Ohrfeige, aber dann bemerkte er, dass die finsteren Wolken, die eben noch über der Nordsee gehangen hatten, begannen sich aufzulösen. Sie hatten Woden besänftigt. Als Sachsenfürst durfte er seine Familie nicht anders behandeln, als jene, über die er

Verantwortung übernommen hatte. Nicht zu handeln hätte Valdr als Schwäche ausgelegt werden können. Damit hätten seine Feinde leichtes Spiel gehabt ihn aus seiner Heimat zu vertreiben, ihn vielleicht sogar umbringen zu lassen. Auf ihn blickte eine lange Reihe von Ahnen herab, deren Ansehen er nicht durch Schwäche beschmutzen durfte, wenn auch er an der Macht bleiben wollte. Nun konnten sie nach Hause zurückkehren. Einem Ort namens Fabiranum, der von allen aber nur >>Die Festung im Moor<< genannt wurde. Einst war Fabiranum ein Handelsplatz der Römer mit Anbindung an eine breite Handelsstraße im Süden und einen Fluss, der von Westen her von der Nordsee aus bei Flut mit Schiffen befahren werden konnte. Im südlichen Teil der Stadt gab es einen befestigten Hafen mit Stapelplatz. Die Lage war günstig. Um die Stadt herum gab es viel Ackerland und ein paar vereinzelte Höfe. Fabiranum ähnelte eher einer kleinen Stadt, als einem der typischen römischen Heerlager. Es gab viele Wohnhäuser, Ställe, sogar einen kleinen Marktplatz in der Mitte. Aber sie war gut befestigt, mit hohen, begehbaren Palisaden, Wehrtürmen, mehreren Toren und einer großen, aber unterirdisch gelegenen Waffenkammer. Offenbar fürchtete sich Rom vor den >>Barbaren des Nordens<<. Innerhalb der Palisaden dieser kleinen Stadt gab es Platz für weit mehr als fünfhundert Menschen und Ställe für ebenso viele Pferde. Außerdem ein Stabsgebäude, ein Wohnhaus nur für den Kommandanten, dass Valdr nun bewohnte, ein Lazarett für die Kranken, einen riesigen Vorratsspeicher, noch viele weitere, kleinere Wohngebäude und ein großes Wasserbassin. Um die Stadt herum gab es mehrere Verteidigungsgräben. Vor mehr als zweihundert Jahren waren es Valdrs Vorfahren, die Chauken, die dafür gesorgt hatten, dass Fabiranum in Stammeshand fiel. Damals waren die Chauken noch Verbündete der Römer. Sie trieben Handel und einige Chauken hatten in der römischen Armee gekämpft. Dann kam es zum Bruch. Etwa im Jahre 90 n. Chr. hatten sich die Chauken mit den Stämmen der Cherusker, Sachsen, Friesen und Markomannen zusammengeschlossen und ein Bündnis gegen Rom geformt. Die Chauken waren es, die innerhalb der Stadt des Nachts die Wachen überwältigten und die Tore öffneten. Es war hoffnungslos für die Römer, die gnadenlos in der Unterzahl waren. Sie hatten keine Chance Fabiranum zu halten. Danach schlossen sich die Chauken dem Stammesverband der Sachsen an.

Voll gefüllte Vorratskammern, Waffenkammern, Rüstungen, Pferde, Gold, Kleidung, Getreide und sämtlicher Besitz der Römer Fabiranums fielen so den Chauken zu. Und der Reichtum der Stadt hatte sich seither nicht gemindert.


Die Götter hatten es stets gut gemeint mit Valdrs Familie. Seit zweihundert Jahren konnten sie diese Stellung halten. Seit zweihundert Jahren waren es Valdrs Vorfahren gewesen, die in Fabiranum die Macht innehatten und so die Götter wollten, würde diese Macht irgendwann an seinen zweiten Sohn Ulfmarr übergehen. Valdr selbst war bereits sehr alt. Er hatte mindestens fünfzig Winter gesehen, weißes, langes Haar, welches zu einem Zopf zusammengebunden war und einen Bart, der ihm bis zur Brust reichte. Ulfmarr, sein zweiter Sohn war vierundzwanzig Winter alt. Dazu hatte er noch zwei wunderschöne, von den Göttern mit gutem Aussehen gesegnete Töchter. Vighild und Gerdar. zweiundzwanzig und achtzehn Winter alt. Die eine mit blondem, glatten Haar beschenkt, die andere mit rötlichem Haar, welches leichte Wellen schlug. Valdrs Ziel war es stets gewesen seine Söhne zu rechtschaffenen Männern zu erziehen. Der Fürst hatte noch einen jüngeren Bruder. Sein Name war Arnodd. Er war das Oberhaupt der kleinen Wurtensiedlung Fallward, die sich zu Fuß etwa einen halben Tagesmarsch von hier entfernt befand und direkt an der Küste lag. Neben Fallward gab es noch andere kleine Siedlungen entlang der Nordseeküste. Im Falle eines Konflikts konnten schnell Kämpfer aus den anderen Siedlungen herbeigerufen werden und dank der Reichtümer Fabiranums sogar mit Rüstungen und Waffen versorgt werden, was ihnen einen enormen Vorteil gegenüber anderen Stämmen in dieser Region verschaffte.


Doch heute war ein dunkler Tag in Valdrs Leben. Einer seiner Söhne war tot und er vermochte nicht zu sagen, wer daran die Schuld trug. Gab es denn einen Schuldigen? War sein Sohn vielleicht einfach nur wahnsinnig geworden? Oder lag in den Worten Gunnriks, dass Woden ihn verraten hatte, doch ein Funken Wahrheit? Nun, wie dem auch sei. Noch in derselben Nacht stellte er sich an das Feuer seines Wohnhauses, legte sich die Klinge eines Messers in die Hand und schloss diese zu einer Faust, während er mit der anderen Hand das Messer langsam aus seiner Umklammerung zog.


Valdrs Blut tropfte ins Feuer. Entschlossen sah er hinein. >>Bei den Göttern, ich finde heraus, was meinen Sohn zu seiner Tat trieb. Nicht eher werde ich von dieser Welt gehen.<<

Die Festung im Moor

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