Читать книгу Tage wie diese - Maureen Johnson - Страница 10

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KAPITEL FÜNF

Wir nahmen eine kleine Seitenstraße, die vom Waffelhaus wegführte. Das Einzige, was man sehen konnte, waren die Ampeln, die alle paar Sekunden blinkten und einen gelben Lichtpfad durch die Dunkelheit schnitten. In diesem postapokalyptischen Szenario marschierten wir mitten auf der Straße und schwiegen mindestens eine Viertelstunde lang. Zum Reden brauchte man Kraft, die wir fürs Weitergehen brauchten, und den Mund aufmachen hieß, kalte Luft einzuatmen.

Jeder Schritt war mühsam. Der Schnee war so tief und pappig, dass es echt anstrengend war, den Fuß aus seinem eigenen Fußabdruck herauszuziehen. Und natürlich waren meine Beine so eiskalt, dass sie sich schon fast wieder warm anfühlten. Die Tüten auf dem Kopf und über den Händen halfen dagegen ganz gut. Als wir unser Marschtempo gefunden hatten, eröffnete Stuart das Gespräch.

»Wo ist deine Familie denn wirklich?«, fragte er.

»Im Gefängnis.«

»Ja, das erwähntest du vorhin schon. Aber ich meine wirklich …«

»Sie sind im Gefängnis«, sagte ich zum dritten Mal.

Ich versuchte, es glaubhaft klingen zu lassen. Er verstand es so weit, dass er die Frage nicht noch mal wiederholte, aber er brauchte einen Moment lang, um mit meiner Antwort fertig zu werden.

»Und warum?«, fragte er schließlich.

»Äh … sie sind in eine … in eine Schlägerei geraten.«

»Wie, als Demonstranten?«

»Als Einkäufer«, sagte ich. »Sie sind in eine Einkaufsschlägerei geraten.«

Wie angewurzelt blieb er stehen.

»Jetzt sag bloß nicht, dass sie in Charlotte bei der Flobie-Schlägerei waren.«

»Genau da«, sagte ich.

»Oh, mein Gott! Deine Eltern gehören zu den Flobie Five?«

»Den Flobie Five?«, wiederholte ich unsicher.

»Die Flobie Five waren heute das Thema im Laden. Ich glaube, jeder zweite Kunde hat davon gesprochen. Im Fernsehen haben sie in den Nachrichten den ganzen Tag Beiträge darüber gebracht …«

Nachrichten? Beiträge? Den ganzen Tag über? Na toll. Toll, toll, toll. Berühmte Eltern – genau das, wovon wohl jedes Mädchen träumt.

»Jeder liebt die Flobie Five«, sagte er. »Also jedenfalls eine Menge Leute. Oder zumindest die Leute, die es komisch finden.«

Aber dann musste er gemerkt haben, dass es für mich nicht ganz so komisch war und dass die Sache mit den Flobie Five der Grund dafür war, dass ich an Heiligabend mit Plastiktüten auf dem Kopf durch eine fremde Stadt lief.

»Dadurch bist du total cool«, sagte er und machte ein paar Sprünge, um vor mir herlaufen zu können. »CNN würde dich bestimmt gern interviewen. Die Flobie-Tochter! Aber keine Sorge – ich wimmle sie schon ab!«

Er machte eine große Show daraus, so zu tun, als würde er Reporter und schubsende Fotografen aufhalten – eine raffinierte Choreografie, die mich ein bisschen aufheiterte. Ich spielte sogar ein wenig mit, indem ich mir wie bei einem Blitzlichtgewitter die Hände vors Gesicht schlug. Das hielt uns eine Weile lang beschäftigt und lenkte uns von der Wirklichkeit ab.

»Es ist lächerlich«, sagte ich schließlich, nachdem ich bei dem Versuch, einem eingebildeten Paparazzo auszuweichen, fast hingefallen wäre. »Meine Eltern sind im Gefängnis. Wegen eines Weihnachtshäuschens aus Keramik.«

»Besser als wegen Drogendealerei«, erwiderte Stuart und ging wieder neben mir her. »Stimmt doch, oder?«

»Bist du immer so witzig?«

»Immer. Das ist eine Voraussetzung, wenn man bei Target arbeitet. Ich bin wie Captain Smiley.«

»Da wird sich deine Freundin aber freuen!«

Das hatte ich nur gesagt, damit er mich für klug und aufmerksam halten und sagen würde: »Woher weißt du, dass ich …?« Und dann würde ich sagen: »Ich hab das Foto in deiner Brieftasche gesehen.« Und dann würde er denken, ich wäre der reinste Sherlock Holmes und nicht mehr der Wirrkopf, für den er mich im Waffelhaus gehalten hatte. (Manchmal muss man auf so eine Gelegenheit, etwas wiedergutzumachen, eine Weile warten, aber es lohnt sich trotzdem.)

Stattdessen fuhr er nur kurz herum, starrte mich an, blinzelte und ging mit energischen Schritten weiter. Die lockere Atmosphäre war verflogen und sein Verhalten war auf einmal völlig nüchtern.

»Jetzt ist es nicht mehr weit. Aber wir müssen uns entscheiden. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wir gehen hier runter, dann dauert es bei unserem Tempo ungefähr noch fünfundvierzig Minuten. Oder wir nehmen die Abkürzung.«

»Die Abkürzung«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. »Ist doch klar.«

»Es ist sehr viel kürzer, weil diese Straße eine Menge Biegungen macht, während die Abkürzung schnurgerade ist. Ich würde mich für die Abkürzung entscheiden, wenn ich allein wäre, was ich bis vor einer halben Stunde ja noch war …«

»Abkürzung«, wiederholte ich.

Mitten in diesem Unwetter, während der Schnee und der Sturm mir die Haut vom Gesicht fetzten und mein Kopf und meine Hände in Plastiktüten steckten, verspürte ich keinerlei Notwendigkeit, weitere Informationen zu erhalten. Was auch immer mit dieser Abkürzung los war, schlimmer als jetzt konnte es kaum werden. Und wenn Stuart ohnehin vorgehabt hatte, diesen Weg einzuschlagen, gab es keinen Grund, warum er es nicht mit mir zusammen auch tun sollte.

»Okay«, sagte Stuart. »Die Abkürzung führt uns hinter diese Häuser dort. Und direkt dahinter wohne ich, knapp zweihundert Meter, schätze ich. So in etwa.«

Wir verließen den gelb blinkenden Weg und bogen in einen vollkommen dunklen Pfad zwischen ein paar Häusern ein. Während wir gingen, zog ich mein Handy aus der Tasche. Noah hatte nicht angerufen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber Stuart hatte es mitbekommen.

»Kein Anruf?«, fragte er.

»Noch nicht. Wahrscheinlich hat er noch zu tun.«

»Weiß er das mit deinen Eltern?«

»Er weiß Bescheid«, sagte ich. »Ich erzähle ihm alles.«

»Ist das andersrum genauso?«

»Wie andersrum?«

»Du hast gesagt, dass du ihm alles erzählst«, erwiderte er. »Du hast nicht gesagt, dass ihr euch alles erzählt.«

Was für eine Frage war das denn? »Na klar«, sagte ich rasch.

»Und wie ist er so, außer dass er partiell schwedisch ist?«

»Er ist sehr intelligent«, sagte ich. »Aber nicht unausstehlich intelligent, so wie jemand, der einem dauernd seinen Notendurchschnitt unter die Nase reibt oder immer wieder subtile Hinweise auf sein Ergebnis beim College-Eignungstest fallen lässt oder auf seinen Status in der Klasse oder so was. Ihm fällt es irgendwie in den Schoß. Er muss sich nicht sonderlich anstrengen, um gute Noten zu bekommen, und es interessiert ihn auch nicht sehr. Aber er bekommt immer gute Noten. Und er spielt Fußball. Und beteiligt sich an Mathewettbewerben. Er ist total beliebt.«

Ja, genau das habe ich gesagt. Ja, ich habe mich angehört wie ein Marktschreier. Und ja, Stuart hatte wieder diesen verschmitzten Ich-versuche-dich-nicht-auszulachen-Ausdruck im Gesicht. Aber wie hätte ich seine Frage denn sonst beantworten können? Jeder, den ich kannte, kannte Noah. Jeder wusste, wie er war und wofür er stand. Ich musste das sonst nie erklären.

»Gute Zusammenfassung«, sagte Stuart und hörte sich nicht besonders beeindruckt hat. »Aber wie ist er?« Oh Gott. Dieses Gespräch schien kein Ende zu nehmen.

»Er ist … so wie ich gerade gesagt habe.«

»Ich meine sein Wesen. Ist er ein heimlicher Dichter oder so was in der Art? Tanzt er in seinem Zimmer herum, wenn er glaubt, dass ihn niemand sieht? Ist er komisch, so wie du? Was macht sein Wesen aus?«

Stuart machte mich ganz wirr im Kopf mit diesem Wesen-Zeug. Obwohl, er hatte auch gefragt, ob Noah so komisch wäre wie ich. Das fand ich ziemlich nett. Und die Antwort war Nein. Noah war alles Mögliche, aber komisch war er nicht. Er schien sich häufig über mich zu amüsieren, aber wie du vielleicht inzwischen gemerkt hast, kann ich manchmal einfach nicht aufhören zu reden. Bei solchen Gelegenheiten sah er einfach nur genervt aus.

»Intensiv«, sagte ich. »Sein Wesen ist intensiv.«

»Gut intensiv?«

»Wäre ich sonst mit ihm zusammen? Ist es noch weit?«

Dieses Mal verstand Stuart den Wink und hielt den Mund. Schweigend gingen wir weiter, bis um uns herum nur noch leere Landschaft mit ein paar Bäumen war. In weiter Ferne konnte ich oben auf einer Anhöhe weitere Häuser stehen sehen. Und ein schwaches Flackern von Weihnachtsbeleuchtung. Der Schnee fiel so dicht, dass alles ganz verschwommen aussah. Es hätte wunderschön sein können, wenn es nicht so beißend kalt gewesen wäre. Meine Hände waren so eisig, dass sie sich fast schon wieder heiß anfühlten. Und meine Beine würden nicht mehr lange mitmachen.

Stuart streckte den Arm aus und bedeutete mir, stehen zu bleiben.

»Okay«, sagte er. »Ich muss dir was erklären. Wir müssen einen kleinen Bach überqueren. Er ist zugefroren. Ich habe gesehen, wie Leute darauf Schlittschuh gelaufen sind.«

»Wie tief ist der Bach denn?«

»Nicht sehr tief. Vielleicht ein Meter fünfzig.«

»Und wo ist er?«

»Irgendwo genau vor uns«, sagte er.

Ich blickte über den leeren Horizont. Irgendwo da vor uns lag ein kleiner Wasserlauf, versteckt unter der Schneedecke.

»Wir könnten zurückgehen«, sagte er.

»Du hättest dich auf jeden Fall für diese Strecke entschieden?«, fragte ich.

»Ja, aber du musst mir nichts beweisen.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte ich und versuchte, mich sicherer anzuhören, als ich war. »Können wir nicht einfach weitergehen?«

»Na gut.«

Und genau das taten wir. Dass wir uns auf dem Bach befanden, merkte man daran, dass der Schnee etwas weniger hoch lag und dass es unter unseren Füßen nicht mehr knirschte und der Boden nicht mehr sicher und fest war, sondern etwas rutschig wurde. Das war der Moment, als Stuart wieder anfing zu sprechen.

»Die Typen da im Waffelhaus haben echt Glück. Das wird der beste Abend ihres Lebens«, sagte er.

Es lag etwas Herausforderndes in seiner Stimme, so als wollte er, dass ich den Köder schluckte. Was ich besser nicht getan hätte. Aber ich tat es natürlich doch.

»Ach Gott«, sagte ich. »Warum sind Männer bloß immer so simpel?«

»Wieso simpel?«, wiederholte er, warf mir einen Seitenblick zu und rutschte dabei aus.

»Weil du es als Glück bezeichnest.«

»Dass sie … im Waffelhaus festhängen zusammen mit einem Dutzend Cheerleadern?«

»Wo nehmt ihr nur diese Arroganz her?«, sage ich, vielleicht etwas schärfer als beabsichtigt. »Glaubt ihr wirklich, dass Mädchen auf euch fliegen, nur weil keine anderen Männer in der Nähe sind? Dass wir auf der Jagd sind nach einsamen Überlebenden und sie mit einer Orgie belohnen?«

»Stimmt das etwa nicht?«, fragte er.

Diese Bemerkung schien mir keine Antwort wert zu sein.

»Aber was ist denn falsch an Cheerleadern?«, fragte er und hörte sich sehr zufrieden an, dass er mich so auf die Palme gebracht hatte. »Ich sag ja nicht, dass ich ausschließlich auf Cheerleader stehe. Ich hab nur keine Vorurteile ihnen gegenüber.«

»Das sind keine Vorurteile«, sagte ich bestimmt.

»Nein? Was ist es dann?«

»Es ist das, was dahintersteht«, entgegnete ich. »Mädchen am Spielfeldrand, in kurzen Röcken, ausgewählt nach ihrem Aussehen, die den Jungs sagen, dass sie großartig sind.«

»Ich weiß nicht«, sagte er spöttisch. »Gruppen von Leuten verurteilen, die man nicht kennt, ihnen Dinge unterstellen, über ihr Aussehen reden … das hört sich ganz nach Vorurteilen an, aber …«

»Ich habe keine Vorurteile!«, fuhr ich ihn an und war nicht mehr in der Lage, meine Reaktionen zu kontrollieren. Es war so schrecklich dunkel. Der Himmel über uns war grau-rosa und verhangen. Um uns herum sah man nur die Umrisse der dürren nackten Bäume, wie dünne Hände, die aus der Erde herausragten. Vor uns nur endloses Weiß und Schneegestöber, dazu das einsame Heulen des Sturms und die Umrisse der Häuser.

»Hör mal«, sagte Stuart, der sich weigerte, dieses nervtötende Spiel aufzugeben, »woher willst du wissen, dass sie in ihrer Freizeit nicht als Rotkreuzsanitäter arbeiten? Oder Katzen retten oder Essenstafeln für Arme organisieren oder …«

»Weil sie das nicht tun«, sagte ich und überholte ihn. Ich rutschte aus, fiel aber nicht hin. »In ihrer Freizeit gehen sie zum Enthaaren.«

»Das kannst du doch gar nicht wissen«, rief er von hinten.

»Noah müsste ich das nicht erklären«, sagte ich. »Er wüsste es von allein.«

»Weißt du«, sagte Stuart beiläufig, »so wundervoll, wie dir dieser Noah vorkommt – ich finde ihn bislang nicht so wahnsinnig beeindruckend.«

Jetzt reichte es mir. Ich drehte mich um und marschierte mit großen, festen Schritten den Weg zurück, den wir gekommen waren.

»Wo willst du hin?«, fragte er. »Ach, komm schon …«

Er gab sich Mühe, es nicht nach einer großen Sache klingen zu lassen, aber ich hatte schlicht und einfach genug. Ich trat fest auf, um nicht ins Straucheln zu geraten.

»Der Weg zurück ist viel zu weit!«, rief er und beeilte sich, mit mir Schritt zu halten. »Tu’s nicht. Bitte.«

»Tut mir leid«, sagte ich, als ob es mir eigentlich ziemlich gleichgültig wäre. »Ich finde es einfach besser, wenn ich …«

Dann gab es ein Geräusch. Ein neues Geräusch zwischen dem Heulen und dem Rauschen und dem Knirschen von Eis und Schnee. Ein Geräusch, das sich anhörte wie ein knackendes Holzscheit im Feuer. Welche Ironie! Wir blieben wie angewurzelt stehen. Stuart sah mich beunruhigt an.

»Bleib ganz still steh…

Und dann brach der Boden unter uns weg.

Tage wie diese

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