Читать книгу Tage wie diese - Maureen Johnson - Страница 6
ОглавлениеKAPITEL EINS
Es war Heiligabend.
Genauer gesagt, es war der Nachmittag vor dem Heiligen Abend. Bevor ich dich jedoch ins pulsierende Herz des Geschehens mitnehme, will ich zunächst eine Sache klarstellen. Wenn ich sie erst später erwähne, lenkt sie dich erfahrungsgemäß so sehr ab, dass du dich auf nichts anderes mehr konzentrieren kannst.
Ich heiße Jubilee Dougal. Nimm dir einen Moment Zeit, um die Information zu verarbeiten.
Siehst du, wenn du sie erst einmal verinnerlicht hast, ist es ganz in Ordnung. Jetzt stell dir vor, du wärst schon mitten in dieser langen Geschichte (die ich dir gleich erzählen werde) und hättest es dann erst erfahren. »Übrigens, mein Name ist Jubilee.« Es hätte dich umgehauen.
Mir ist schon klar, dass Jubilee irgendwie nach Stripperin klingt. Vielleicht denkst du jetzt an eine dunkle Bar und eine Stange auf der Tanzfläche. Nein. Wenn du mich sehen könntest, würdest du auf der Stelle erkennen, dass ich keine Stripperin bin (glaube ich jedenfalls). Ich habe kurze schwarze Haare. Meistens trage ich eine Brille, den Rest der Zeit Kontaktlinsen. Ich bin sechzehn, singe im Chor und beteilige mich an Mathewettbewerben. Ich spiele Hockey, ein Sport, dem die schlangenartige, mit Babyöl eingeschmierte Anmut abgeht, die zum Handwerk einer Stripperin gehört. (Ich habe nichts gegen Stripperinnen, falls eine Stripperin das hier lesen sollte. Ich bin nur keine. Mein Hauptproblem, was Strippen betrifft, ist das Latex. Ich glaube, dass Latex schlecht für die Haut ist, weil sie darin nicht atmen kann.)
An Jubilee stört mich, dass es gar kein Name ist – es ist eher eine Art Party. Aber was für eine, weiß kein Mensch. Hast du schon mal gehört, dass jemand eine Jubilee-Party schmeißt? Und falls ja, würdest du hingehen? Ich jedenfalls nicht. Es klingt nach einer Veranstaltung, für die man ein großes aufblasbares Objekt mietet, Fähnchen aufhängt und einen komplizierten Müllentsorgungsplan ausarbeitet.
Oder nach einem großen Abend der Volksmusik.
Wie auch immer, mein Name spielt in dieser Geschichte eine wichtige Rolle und, wie gesagt, es war der Nachmittag von Heiligabend. Für mich war es einer dieser Tage, an denen man das Gefühl hat, dass das Leben … es gut mit einem meint. Die Abschlussprüfungen waren vorbei und wir hatten Ferien bis nach Neujahr. Ich war allein zu Hause und fühlte mich wohl und zufrieden. Ich hatte mich schon für den Abend umgezogen und trug die neuen Klamotten, für die ich gespart hatte – einen schwarzen Rock, Strumpfhosen, ein glitzerndes rotes T-Shirt und neue schwarze Stiefel. Ich trank ein Glas selbst zubereiteten Eierpunsch. Die Geschenke waren eingepackt und fertig zum Mitnehmen. Alles war bereit für die große Party: Um sechs Uhr sollte ich bei Noah sein – Noah Price, meinem Freund – zum Smörgåsbord der Familie Price.
Dieses jedes Jahr an Weihnachten stattfindende Smörgåsbord spielt eine große Rolle in unserer Beziehung. Weil wir bei dieser Gelegenheit zusammengekommen waren. Davor war Noah Price nur ein Stern an meinem Himmel gewesen … immer da, vertraut, strahlend und hoch über mir. Ich kannte ihn schon seit der vierten Klasse, aber ich kannte ihn so, wie man Leute aus dem Fernsehen kennt. Ich wusste, wie er hieß. Ich beobachtete ihn aus der Ferne. Na gut, ein bisschen näher dran war ich an Noah schon … aber irgendwie, im realen Leben und wenn es sich um dein eigenes handelt … dann kann eine Person noch weiter weg und noch unerreichbarer sein als ein echter Promi. Nähe bedeutet nicht automatisch Vertrautheit.
Ich hatte ihn immer schon gemocht, aber ich hatte mir nie vorgestellt, wie es wäre, ihn auf diese Art zu mögen. Ich hatte das einfach nie für möglich gehalten. Er war ein Jahr älter als ich und einen Kopf größer, hatte breite Schultern, strahlende Augen und dicke, kräftige Haare. Noah war einfach umwerfend – sportlich, gebildet und ein hohes Tier in der Schülermitverwaltung –, ein Typ, von dem man unwillkürlich annimmt, er würde sich ausschließlich mit Models treffen oder mit Spionen oder mit Leuten, nach denen Institute benannt werden.
Als Noah mich also im vorigen Jahr zum Smörgåsbord einlud, fielen mir vor lauter Aufregung und Verwirrung fast die Augen aus dem Kopf. Als ich die Einladung bekam, konnte ich drei Tage lang nicht mehr geradeaus laufen. Es wurde so schlimm, dass ich buchstäblich in meinem Zimmer laufen üben musste, bevor ich zu ihm gehen konnte. Ich hatte keine Ahnung, ob er mich eingeladen hatte, weil er mich mochte oder weil seine Mom ihn dazu gezwungen hatte (unsere Eltern kannten sich) oder weil er eine Wette verloren hatte. Meine Freundinnen waren genauso aufgeregt wie ich, sie schienen es nur besser verstehen zu können. Sie versicherten mir, dass er mich beim Mathewettbewerb beobachtet und über meine Versuche gelacht hatte, trigonometrische Witze zu machen, und dass er von mir gesprochen hatte.
Das Ganze war total verrückt … genauso unglaublich, als hätte ich herausgefunden, dass jemand ein Buch über mein Leben geschrieben hatte oder so etwas.
An dem Abend im letzten Jahr habe ich mich fast die ganze Zeit über sicherheitshalber in einer Ecke verschanzt und mich mit seiner Schwester unterhalten, die (obwohl ich sie wirklich gerne mag) nicht gerade besonders tiefsinnig ist. Auch wenn man ziemlich viel über Lieblingsmarken von Kapuzenshirts sagen kann, wenn es sein muss, irgendwann stößt die Unterhaltung eben doch an ihre Grenzen. Aber sie kann darüber reden wie ein Weltmeister. Elise hat sich wirklich Gedanken über das Thema gemacht.
Schließlich konnte ich mich loseisen, als Noahs Mom eine weitere Platte hereinbrachte, die Gelegenheit für die »Oh-Entschuldigung-aber-das-sieht-einfach-fantastisch-aus«-Ausrede. Ich hatte keine Ahnung, was auf der Platte war, bis ich es als eingelegten Fisch erkannte. Ich wich einen Schritt zurück, doch da sagte seine Mom auch schon: »Du musst unbedingt ein Stück davon probieren.«
Der Lemming gehorchte. Was eine gute Entscheidung war, weil ich merkte, dass Noah mich beobachtete. Er sagte: »Ich bin froh, dass du davon genommen hast.« Ich fragte, warum, weil ich dachte, es gehörte vielleicht zur Wette. (»Okay, ich lade sie ein, aber ihr schuldet mir zwanzig Mäuse, wenn ich sie dazu bringen kann, eingelegten Fisch zu essen.«)
Und er antwortete: »Weil ich auch davon probiert habe.«
Ich stand da und sah wahrscheinlich wie ein totaler Idiot aus, deshalb fügte er hinzu: »Und ich könnte dich nicht küssen, wenn du nichts davon gegessen hättest.«
Was ebenso unverschämt wie atemberaubend romantisch ist. Er hätte ja genauso gut nach oben gehen und sich die Zähne putzen können, aber er war geblieben und hatte mir neben der Fischplatte aufgelauert. Wir schlichen uns in die Garage und knutschten unter dem Regal mit den Elektrowerkzeugen. So hatte es angefangen.
Dieser besondere Heiligabend, von dem ich jetzt erzählen will, war also nicht irgendein Heiligabend: Es war unser einjähriges Jubiläum. Unglaublich, dass wir schon ein Jahr zusammen waren. Es war alles so schnell gegangen …
Noah hat immer unheimlich viel um die Ohren. Als er, winzig und zappelnd und rosa, auf die Welt kam, ließ er vermutlich nur rasch einen Fußabdruck machen, verließ das Krankenhaus auf schnellstem Wege und eilte zu einem Meeting. Als Oberstufenschüler, als Mitglied des Fußballteams und als Präsident des Schülerrates hatte er auch später so gut wie nie Zeit. Ich glaube, in dem einen Jahr, seit wir zusammen waren, hatten wir etwa ein Dutzend richtige Dates gehabt, bei denen Noah und ich allein irgendwohin gegangen waren. Eins pro Monat. Ansonsten gab es eine Menge Gelegenheiten, zu denen wir als Paar erschienen. Noah und Jubilee beim Schülerrat-Kuchenbasar! Noah und Jubilee bei der Fußballtombola! Noah und Jubilee beim Benefizessen, im Nachhilferaum, bei der Versammlung des Klassentreffen-Organisationkomitees …
Noah war das durchaus bewusst. Und obwohl der heutige Abend ein Familienfest war, zu dem viele Leute kommen würden, hatte er mir versprochen, dass wir Zeit nur für uns beide finden würden. Er hatte sie erkauft, indem er bei den Vorbereitungen half. Wir müssten nur zwei Stunden auf der Party verbringen, hatte er versprochen, dann könnten wir uns ins Hinterzimmer zurückziehen und unsere Geschenke austauschen und zusammen Wie der Grinch Weihnachten gestohlen hat ansehen. Er würde mich nach Hause fahren und wir würden irgendwo parken …
Und ausgerechnet da wurden meine Eltern verhaftet und all unsere Pläne waren im Eimer.
Kennst du das Flobie-Weihnachtsdorf? Das Flobie-Weihnachtsdorf gehört so sehr zu meinem Leben, dass ich einfach immer vermute, jeder müsste wissen, um was es sich handelt, aber vor Kurzem hat mir jemand gesagt, ich würde immer viel zu viel vermuten, deshalb erkläre ich es lieber noch mal.
Das Flobie-Weihnachtsdorf besteht aus Sammelfiguren aus Keramik, die man zu einer Stadt zusammenstellen kann. Meine Eltern sammeln sie schon seit meiner Geburt. Seit ich groß genug bin, auf eigenen Beinen zu stehen, habe ich die kleinen Straßen mit ihrem Kopfsteinpflaster immer wieder betrachtet. Wir haben alles – die Zuckerrohrbrücke, den verschneiten See, den Gummibärchenladen, die Pfefferkuchenbäckerei, die Bonbonallee. Die Stadt hat schon eine gewisse Größe. Um sie aufzubauen, haben meine Eltern extra einen Tisch gekauft, der von Thanksgiving bis Neujahr mitten in unserem Wohnzimmer steht. Damit alles richtig funktioniert, braucht man sieben Steckdosen. Um die Umwelt zu schonen, habe ich sie dazu bringen können, nachts alles auszustöpseln, aber es war ein Kampf.
Ich wurde nach dem Flobie-Weihnachtsdorf-Gebäude Nummer vier benannt: Jubilee Hall. Die Jubilee Hall ist das größte Gebäude von allen. In diesem Gebäude werden Geschenke hergestellt und verpackt. Es ist mit bunten Lichtern geschmückt und hat ein Fließband mit Geschenken darauf und davor stehen sich drehende kleine Elfen, die es be- und entladen. Jede der Elfen in der Jubilee Hall trägt ein auf die Hand geklebtes Geschenk – sodass sie aussehen wie eine Horde gefolterter Wesen, die dazu verdammt sind, dasselbe Geschenk immer wieder aufs Neue hochzuheben und abzustellen – bis in alle Ewigkeit oder bis der Motor kaputtgeht. Ich weiß noch, wie ich das als kleines Mädchen zu meiner Mutter gesagt habe, worauf sie nur erwiderte, ich hätte keine Ahnung, worum es dabei geht. Vielleicht stimmte das sogar. Bei diesem Thema waren wir eindeutig unterschiedlicher Meinung, vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass diese kleinen Bauwerke ihr so wichtig waren, dass sie ihren einzigen Sprössling danach benannt hat.
Flobie-Sammler neigen zu einer leichten Besessenheit. Es gibt Kongresse, etwa ein Dutzend ernsthafte Websites und vier Zeitschriften. Manche versuchen, ihre Leidenschaft durch die Behauptung zu rationalisieren, dass Flobie-Figuren eine Investition seien. Das ist insofern richtig, als sie tatsächlich eine Menge Geld kosten. Vor allem die nummerierten Stücke. Diese Teile kann man exklusiv nur an Heiligabend im Flobie-Ausstellungsraum kaufen. Wir wohnen in Richmond in Virginia, nur etwa fünfzig Meilen davon entfernt – und so laden meine Eltern jedes Jahr am Abend des Dreiundzwanzigsten Decken, Stühle und Essensvorräte ins Auto und machen sich auf den Weg, um sich anzustellen und zu warten.
Bisher hatte Flobie bei diesen Gelegenheiten immer hundert nummerierte Teile angeboten, erst voriges Jahr haben sie die Anzahl auf zehn heruntergefahren. Seitdem ist der Teufel los. Schon hundert Teile waren nicht annähernd genug, und als sich die Anzahl auf ein Zehntel reduzierte, begannen die Leute, mit Zähnen und Klauen darum zu kämpfen. Im letzten Jahr gab es ein Problem wegen der Plätze in der Schlange – ein Problem, das schnell zu einer Schlägerei wurde, als einige der Wartenden anfingen, sich gegenseitig mit zusammengerollten Flobie-Katalogen zu verprügeln, sich mit Keksdosen zu bewerfen, über fremde Liegestühle zu trampeln und lauwarmen Kakao über weihnachtsmannbemützte Köpfe zu kippen. Die Schlägerei war heftig und lächerlich genug, es in die lokalen Nachrichten zu schaffen. Die Firma Flobie sagte, es würden »Maßnahmen ergriffen«, damit sich so ein Vorfall nicht wiederholte, aber das glaubte kein Mensch. Diese Art von Publicity war einfach unbezahlbar.
Aber daran dachte ich nicht, als meine Eltern losfuhren, um sich für Sammelstück Nummer 68 anzustellen, das Elfenhotel. Und auch, als ich meinen Eierpunsch trank und die Zeit totschlug, bis ich mich auf den Weg zu Noah machen konnte, verschwendete ich noch keinen Gedanken daran. Obwohl mir auffiel, dass meine Eltern, anders als sonst, noch nicht nach Hause gekommen waren. Normalerweise kehrten sie um die Mittagszeit an Heiligabend von ihrem Flobie-Ausflug zurück und jetzt war es schon fast vier Uhr. Um etwas zu tun zu haben, lenkte ich mich mit weihnachtlichen Dingen ab. Noah konnte ich nicht anrufen … ich wusste, dass er mit Vorbereitungen für das Smörgåsbord zu tun hatte. Also dekorierte ich seine Geschenke mit ein paar extra Schleifen und Stechpalmenzweigen. Ich stöpselte alle Kabel für das Flobie-Weihnachtsdorf ein und setzte die Elfensklaven in Bewegung. Dann legte ich eine CD mit Weihnachtsliedern auf. Gerade wollte ich nach draußen gehen, um die Außenbeleuchtung anzumachen, als ich sah, wie Sam mit Riesenschritten auf unser Haus zukam.
Sam ist unser Anwalt – und wenn ich »unser Anwalt« sage, meine ich damit »unseren Nachbarn, der zufälligerweise ein überaus einflussreicher Anwalt in Washington, DC« ist. Sam ist genau der Richtige, wenn man einen Rechtsbeistand für einen großen Konzern sucht, jemanden, von dem man sich vertreten lassen will, wenn man auf eine Million Dollar Schadenersatz verklagt wird. Aber ein Kuscheltyp ist er nicht. Ich wollte ihn hereinbitten und ihm ein Glas von meinem köstlichen Eierpunsch anbieten, aber er fiel mir ins Wort.
»Ich habe schlechte Nachrichten«, sagte er und schob mich vor sich her ins Haus. »Im Flobie-Showroom hat es wieder eine Schlägerei gegeben. Drinnen. Nun komm schon.«
Ich dachte einen Moment lang ernsthaft, er würde mir gleich mitteilen, dass meine Eltern ums Leben gekommen waren. Er hatte diesen Tonfall drauf. Vor meinem inneren Auge sah ich Berge von Elfenhotels, die vom Fließband flogen und alle Anwesenden unter sich begruben. Ich hatte Fotos vom Elfenhotel gesehen – mit diesen scharfkantigen Zuckerstangensäulen, an denen man sich ganz leicht verletzen konnte. Und wenn es jemanden gab, der jemals durch ein Elfenhotel ums Leben kam, dann wären es meine Eltern.
»Sie sind in Gewahrsam genommen worden«, sagte er. »Sie sind im Gefängnis.«
»Wer ist im Gefängnis?«, fragte ich, weil ich nicht besonders schnell von Begriff bin und weil mir die Vorstellung, dass meine Eltern von einem fliegenden Elfenhotel getroffen worden waren, leichter fiel als die Vorstellung, dass man sie in Handschellen abgeführt hatte.
Sam sah mich nur an und wartete, dass der Groschen fiel.
Nach einem Moment des Schweigens erklärte er: »Als heute Morgen die Teile präsentiert wurden, kam es wieder zu einer Schlägerei. Es ging darum, wer wem in der Schlange einen Platz frei gehalten hatte. Deine Eltern waren daran nicht beteiligt, aber sie sind auch nicht weggegangen, als die Polizei sie dazu aufforderte. Man hat sie festgenommen. Fünf Leute sind eingebuchtet worden. Die Nachrichten sind voll davon.«
Ich spürte, dass meine Beine anfingen zu zittern, deshalb setzte ich mich aufs Sofa. »Warum haben sie nicht angerufen?«, wollte ich wissen.
»Nur ein Anruf«, sagte er. »Sie haben mich angerufen, weil sie dachten, ich könnte sie rausholen. Aber das kann ich nicht.«
»Wie meinen Sie das, Sie können es nicht?«
Die Vorstellung, dass Sam meine Eltern nicht aus dem Bezirksgefängnis herausholen konnte, war lächerlich. Als würde ein Pilot über Bordlautsprecher verkünden: »He, Leute. Mir ist gerade eingefallen, dass ich nicht besonders gut bei Landungen bin. Deshalb fliege ich einfach so lange im Kreis herum, bis jemand eine bessere Idee hat.«
»Ich habe alles versucht«, fuhr Sam fort, »aber der Richter will nicht nachgeben. Er hat diese Flobie-Vorfälle satt, also will er ein Exempel statuieren. Deine Eltern haben mich angewiesen, dich zum Bahnhof zu bringen. Ich habe nur eine Stunde Zeit, um fünf Uhr muss ich zum Weihnachtsliedersingen und Plätzchenessen zurück sein. Wie schnell kannst du packen?«
All das wurde in demselben rauen Ton vorgetragen, mit dem Sam wahrscheinlich einen Angeklagten einschüchtert, wenn er ihn dazu befragt, warum er blutüberströmt vom Tatort weggelaufen ist. Er schien nicht besonders glücklich darüber zu sein, dass man ihn an Heiligabend mit dieser Aufgabe betraut hatte. Trotzdem – ein Hauch von Oprah hätte der Situation gutgetan.
»Packen? Bahnhof? Was?«
»Du fährst nach Florida zu deinen Großeltern«, sagte er. »Ich konnte keinen Flug buchen – wegen des Schneesturms sind alle Flüge gestrichen.«
»Was für ein Schneesturm?«
»Jubilee«, sagte Sam sehr langsam, nachdem er wohl zu dem Schluss gekommen war, dass ich der unbedarfteste Mensch auf Erden sein musste, »uns steht der schlimmste Schneesturm seit fünfzig Jahren bevor!«
Irgendwie arbeitete mein Hirn nicht richtig – ich begriff immer noch nichts.
»Ich kann nicht wegfahren«, sagte ich. »Ich bin heute Abend bei Noah eingeladen. Und es ist Weihnachten. Was ist mit Weihnachten?«
Sam zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen, dass Weihnachten jetzt nicht in seinen Kompetenzbereich gehörte und dass selbst das Gesetz nichts daran ändern könnte.
»Aber … warum kann ich nicht einfach hierbleiben? Das ist doch bescheuert!«
»Deine Eltern wollen nicht, dass du über Weihnachten zwei Tage ganz allein bist.«
»Ich kann doch zu Noah gehen! Ich muss zu Noah gehen!«
»Hör mal«, sagte er, »es ist alles arrangiert. Wir können deine Eltern jetzt nicht erreichen. Ihre Verhandlung steht unmittelbar bevor. Ich habe deine Fahrkarte schon gekauft und ich habe nicht viel Zeit. Du wirst jetzt packen, Jubilee.«
Ich drehte mich um und blickte auf die erleuchtete kleine Szenerie neben mir. Sah die Schatten der armen Elfen, die in der Jubilee Hall arbeiteten, das warme Licht aus Mrs Muggins Konditorei, die langsame, aber fröhliche Fahrt des Elfenexpress über die kleinen Eisenbahngleise.
Und ich stellte die einzige Frage, die mir noch einfiel: »Aber … was ist mit dem Dorf?«