Читать книгу Tage wie diese - Maureen Johnson - Страница 12
ОглавлениеKAPITEL SIEBEN
Nachdem Debbie weg war, schlangen Stuart und ich eine Zeit lang schweigend unser Essen hinunter. Allerdings hatte ich das Gefühl, als wäre Debbie gar nicht weg – ich hatte sie jedenfalls nicht weggehen hören. Ich glaube, Stuart teilte dieses Gefühl, weil er sich immer wieder umdrehte.
»Diese Suppe schmeckt wahnsinnig gut«, sagte ich, weil es sich nach der passenden Bemerkung für den Lauscher an der Wand anhörte. »So eine gute hab ich noch nie gegessen. Es muss an den Klößchen liegen …«
»Du bist sicher keine Jüdin, daran wird es liegen«, sagte er, stand auf und schloss die Küchentür. »Es sind Matzebällchen.«
»Du bist Jude?«
Stuart hob einen Finger, um anzudeuten, dass ich warten sollte. Er rüttelte ein bisschen an der Tür, worauf man ein paar schnelle, knarrende Schritte hörte, als ob jemand leise die Treppe hinaufliefe.
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich dachte, da wäre jemand. Müssen wohl Mäuse gewesen sein. Ja, meine Mom ist jüdisch, also bin ich es genau genommen auch. Aber Weihnachten feiert sie trotzdem. Ich glaube, sie macht es, weil sie dazugehören möchte. Aber sie übertreibt es ein bisschen.«
Die gesamte Küche war weihnachtlich geschmückt. Die Handtücher, die Haube über dem Toaster, die Kühlschrankmagneten, die Vorhänge, die Tischdecke, die Salzstreuer … je genauer ich hinsah, desto weihnachtlicher wurde es.
»Hast du beim Reinkommen die falschen elektrischen Stechpalmen gesehen?«, fragte Stuart. »So wird unser Haus es nie auf die Titelseite von Southern Jew schaffen.«
»Und warum …?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Weil andere Leute es auch so machen«, sagte er, nahm sich noch eine Scheibe Truthahn, klappte sie zusammen und stopfte sie in den Mund. »Besonders in dieser Gegend. Es gibt nicht gerade eine blühende jüdische Gemeinde hier. Beim Hebräischunterricht waren immer nur ich und noch ein anderes Mädchen.«
»Deine Freundin?«
Ein Ausdruck huschte über sein Gesicht, ein rasches Stirnrunzeln und ein Zucken des Mundes – es wirkte wie ein unterdrücktes Lachen.
»Dass wir nur zu zweit waren, heißt doch nicht, dass wir auch ein Paar sein müssen«, sagte er. »So als ob jemand sagt: ›Okay, ihr seid beide Juden! Dann tanzt!‹ Nein, sie ist nicht meine Freundin.«
»Tut mir leid«, sagte ich rasch. Das war schon das zweite Mal, dass ich seine Freundin erwähnte – und versuchte, mit meiner Beobachtungsgabe anzugeben –, und wieder ging er nicht darauf ein. Das war’s dann wohl. Ich würde ihn nicht mehr darauf ansprechen. Offensichtlich wollte er nicht über sie reden. Was ich ein bisschen seltsam fand – ich hielt ihn eigentlich für einen Typen, der am liebsten sieben Stunden am Stück nur von seiner Freundin erzählte. Jedenfalls wirkte er so.
»Schon okay.« Er nahm sich noch mehr Truthahn und sah aus, als hätte er bereits vergessen, wie blöd ich manchmal sein konnte. »Ich glaube, den Leuten gefällt es, dass wir hier wohnen. Als würden wir die Nachbarschaft irgendwie aufwerten. Es gibt im Ort einen Spielplatz, eine funktionierende Recyclinganlage und zwei jüdische Familien.«
»Aber seltsam ist es schon, oder?«, fragte ich und nahm den Schneemannsalzstreuer in die Hand. »Diese ganze Weihnachtsdekoration?«
»Vielleicht. Aber eigentlich ist es einfach nur ein Feiertag. Das ist alles so künstlich, dass es schon wieder okay ist. Meine Mom feiert einfach gern, egal, was es ist. Unsere Verwandten finden es merkwürdig, dass wir einen Weihnachtsbaum haben, aber Weihnachtsbäume sind doch hübsch. Und mit Religion haben sie gar nichts zu tun.«
»Stimmt«, sagte ich. »Was meint dein Dad dazu?«
»Keine Ahnung. Er wohnt nicht hier.«
Stuart schien das nicht viel auszumachen. Er trommelte wieder eine kleine Melodie auf dem Tisch, als wolle er das Thema beiseiteschieben, und stand auf.
»Ich bereite mal alles für die Nacht vor«, sagte er. »Bin gleich wieder da.«
Ich stand auch auf und sah mich um. Es gab zwei Weihnachtsbäume: einen kleinen am weihnachtlich geschmückten Fenster und einen riesigen – bestimmt fast zweieinhalb Meter hoch – in der Ecke. Unter dem Gewicht all der selbst gebastelten Anhänger, der vielen Lichterketten und der mindestens zehn Schachteln Lametta hingen seine Zweige bis fast auf den Boden.
Im Wohnzimmer stand ein Klavier mit jeder Menge aufgeklappter Notenhefte, einige davon mit Kommentaren versehen. Ich spiele kein Instrument, deshalb kommt Musik mir immer kompliziert vor – aber das hier wirkte noch komplizierter. Irgendjemand schien richtig Ahnung zu haben. Dieses Klavier war mehr als ein Möbelstück.
Was mir aber am meisten auffiel, war etwas, das oben auf dem Klavier stand. Es war viel kleiner, in technischer Hinsicht viel weniger aufwendig als unseres, aber trotz allem war es ein Flobie-Weihnachtsdorf, das von einer kleinen Girlande eingerahmt wurde.
»Das muss dir bekannt vorkommen«, sagte Stuart, der mit einem Haufen Decken und Kissen beladen die Treppe herunterkam und alles aufs Sofa warf.
Allerdings. Sie hatten fünf Teile – das Merry Men Café, den Bonbonladen, Franks Party-Fachgeschäft, die Elfateria und die Eisdiele.
»Ich nehme mal an, dass ihr mehr habt als wir«, sagte er.
»Wir haben sechsundfünfzig Teile.«
Er stieß einen anerkennenden Pfiff aus, streckte die Hand aus und knipste die Beleuchtung an. Anders als bei uns gab es kein ausgeklügeltes System, mit dem man alle Teile auf einmal beleuchten konnte. Er musste das Licht bei jedem Gebäude einzeln einschalten.
»Meine Mom glaubt, dass sie etwas wert sind«, sagte er. »Sie behandelt sie, als wären sie richtig kostbar.«
»Das glaubt jeder«, sagte ich verständnisvoll.
Ich betrachtete die Teile mit fachkundigem Auge. Normalerweise reibe ich es nicht jedem unter die Nase, aber aus naheliegenden Gründen weiß ich wirklich eine ganze Menge über das Flobie-Weihnachtsdorf. Bei einem Verkaufsgespräch könnte ich mich durchaus behaupten.
»Also«, sagte ich und zeigte auf das Merry Men Café, »das hier ist tatsächlich etwas wert. Siehst du die Ziegelsteine und die grünen Fensterrahmen? Das ist noch eins aus der ersten Auflage. Danach haben sie die Fensterrahmen schwarz gemacht.«
Ich hob das Haus vorsichtig hoch und betrachtete es von unten.
»Es ist nicht nummeriert«, sagte ich nach einem prüfenden Blick auf die Unterseite. »Aber trotzdem … jedes Teil aus einer Erstauflage, bei dem man den Unterschied zu den späteren Auflagen sieht, ist gut. Und vor fünf Jahren haben sie die Produktion des Merry Men Cafés eingestellt, das macht es noch ein bisschen wertvoller. Dieses hier könnte um die vierhundert Dollar bringen, allerdings sieht es so aus, als wäre der Schornstein abgebrochen und wieder angeklebt worden.«
»Oh ja. Das war meine Schwester.«
»Du hast eine Schwester?«
»Rachel«, sagte Stuart. »Sie ist fünf. Keine Sorge, du wirst sie noch kennenlernen. Und du kennst dich ja echt gut aus.«
»Ist ja wohl kein Wunder.«
Er knipste die Lichter alle wieder aus.
»Wer spielt hier Klavier?«, fragte ich.
»Ich. Das ist das, was ich kann. Jeder kann doch irgendwas besonders gut.«
Stuart verzog das Gesicht zu einer albernen Grimasse und ich musste lachen.
»Gib’s bloß nicht auf«, sagte ich. »Colleges lieben Studenten mit musikalischen Fähigkeiten.«
Oh Mann, ich hörte mich an wie … wie jemand, der bestimmte Dinge nur tut, weil er glaubt, es wäre gut fürs College. Ich war schockiert, als ich merkte, dass es ein Noah-Zitat war. Bisher war mir noch nie aufgefallen, wie unerträglich es klang.
»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin einfach müde.«
Er ging darüber hinweg, als bräuchte es weder eine Erklärung noch eine Entschuldigung.
»Mütter auch«, sagte er. »Und Nachbarn. Ich bin hier so eine Art Vorführaffe. Glücklicherweise spiele ich aber sehr gern, deshalb ist es okay. Also … die Decken und die Kissen hier sind für dich und …«
»Vielen Dank«, sagte ich. »Wunderbar. Es ist wirklich nett von euch, dass ich hier sein darf.«
»Wie gesagt, überhaupt kein Problem.«
Er drehte sich um und ging, blieb aber mitten auf der Treppe stehen.
»Hey«, sagte er, »tut mir leid, dass ich ein bisschen fies gewesen bin, als wir unterwegs waren. Es war nur, weil …«
»Der Schneesturm«, sagte ich. »Ich weiß. Es war kalt und wir waren gereizt. Mach dir keine Gedanken. Mir tut es auch leid. Und danke noch mal.«
Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, aber dann nickte er nur und ging weiter die Treppe hinauf. Ich hörte, wie er oben ankam und dann wieder ein paar Stufen hinunterging. Er spähte durchs Treppengeländer.
»Fröhliche Weihnachten«, sagte er und verschwand.
Das haute mich um. Mir kamen die Tränen. Ich vermisste meine Familie. Ich vermisste Noah. Ich vermisste mein Zuhause. Diese Leute hatten alles getan, was sie konnten, aber sie waren nicht meine Familie. Stuart war nicht mein Freund. Ich lag lange Zeit da, wälzte mich auf dem Sofa herum, hörte irgendwo oben einen Hund schnarchen (jedenfalls dachte ich, es wäre ein Hund) und beobachtete auf der sehr laut tickenden Uhr, wie zwei Stunden verstrichen.
Dann hielt ich es nicht mehr aus.
Mein Handy steckte in meiner Manteltasche, also machte ich mich auf die Suche nach meinen Sachen. Ich fand sie in der Waschküche. Der Mantel hing über einem Heizkörper. Offensichtlich hatte das Bad im kalten Wasser meinem Handy nicht gefallen. Das Display war schwarz. Kein Wunder, dass ich nichts von ihm gehört hatte.
Auf der Anrichte in der Küche stand ein Telefon. Ich schlich hin, nahm den Hörer ab und wählte Noahs Nummer. Es klingelte vier Mal, ehe er sich meldete. Er klang völlig verschlafen. Seine Stimme hörte sich tief und müde an.
»Ich bin’s«, flüsterte ich.
»Lee?«, krächzte er. »Wie spät ist es?«
»Drei Uhr nachts«, sagte ich. »Du hast nicht zurückgerufen.«
Er gab ein paar Schnieflaute von sich, als er versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
»Tut mir leid. Ich hatte so viel um die Ohren. Du weißt schon, meine Mom und das Smörgåsbord. Können wir morgen reden? Ich rufe dich an, sobald wir mit dem Geschenkeauspacken fertig sind.«
Ich verstummte. Ich hatte den schlimmsten Sturm des Jahres durchgestanden – den schlimmsten seit fünfzig Jahren, um genau zu sein –, ich war in einen zugefrorenen Bach gefallen, meine Eltern waren inhaftiert worden … und er hatte immer noch keine Zeit, mit mir zu sprechen?
Andererseits – er hatte einen langen Abend hinter sich und es erschien mir nicht besonders sinnvoll, ihm meine Geschichte aufzudrängen, wenn er so verschlafen war. Es ist schwer, Mitgefühl an den Tag zu legen, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird, und Mitgefühl war genau das, was ich jetzt von ihm wollte.
»Na klar«, sagte ich. »Bis morgen.«
Ich kuschelte mich wieder in mein Nest aus Decken und Kissen. Sie verströmten einen kräftigen, unvertrauten Geruch. Nicht unangenehm – nur ein starkes Waschmittel, dessen Duft ich nicht kannte.
Manchmal verstand ich Noah einfach nicht. Manchmal kam es mir so vor, als gehörte es zu seinem Plan, dass ich seine Freundin war – als gäbe es auf einem zukünftigen Bewerbungsformular eine Checkliste und einer der Punkte, die man ankreuzen musste, lautete: »Haben Sie eine einigermaßen intelligente Freundin, die Ihre Ziele teilt und akzeptiert, dass Ihre Zeit fürs Privatleben begrenzt ist? Eine, die Ihnen zuhört, wenn Sie stundenlang über Ihre Erfolge sprechen?«
Nein. Das waren Gedanken, die auf Angst und Kälte zurückzuführen waren. Und darauf, dass ich mich in einem fremden Haus befand und nicht bei meiner Familie. Es war der Stress, weil meine Eltern bei einer Schlägerei um Keramikhäuschen verhaftet worden waren. Ich brauchte nur ein bisschen Schlaf, dann würde mein Verstand wieder funktionieren.
Ich machte die Augen zu und spürte, wie die Welt im wirbelnden Schnee versank. Mir wurde kurz schwindelig und ein bisschen übel und dann fiel ich in einen tiefen, tiefen Schlaf und träumte von Waffelsandwiches und Cheerleadern, die auf den Tischen Spagat machten.