Читать книгу Tage wie diese - Maureen Johnson - Страница 11
ОглавлениеKAPITEL SECHS
Vielleicht bist du ja noch nie in einen zugefrorenen Fluss gefallen. Was dabei passiert, ist Folgendes:
1. Es ist kalt. So kalt, dass die Abteilung Temperaturempfindung und -regulierung in deinem Kopf sagt: »Damit kann ich nicht umgehen. Damit will ich nichts zu tun haben.« Das Schild MITTAGSPAUSE wird aufgestellt und die Verantwortung delegiert an
2. die Abteilung Schmerzempfindung und Umgang mit Schmerz, die dieses ganze Chaos von der Temperaturabteilung zugewiesen bekommt, ohne es zu verstehen. »Das fällt nicht in unseren Zuständigkeitsbereich«, sagt sie. Also werden aufs Geratewohl irgendwelche Knöpfe gedrückt, die einen mit seltsamen und unangenehmen Empfindungen versorgen, und man wird weitergeleitet an die
3. Abteilung für Verwirrung und Panik, wo immer jemand da ist, der das Telefon abhebt, sobald es klingelt. In dieser Abteilung ist man zumindest willens, in Aktion zu treten. In der Abteilung für Verwirrung und Panik werden liebend gern Knöpfe gedrückt.
Wegen all dieser Überlegungen, die in unseren Köpfen herumspukten, waren Stuart und ich für den Bruchteil einer Sekunde nicht in der Lage, irgendetwas zu tun. Als wir uns ein wenig erholt hatten, fing ich an zu begreifen, was passiert war. Die gute Nachricht war, dass das Wasser uns nur bis zur Brust reichte. Bei mir jedenfalls. Das Wasser war genau brusthoch. Bei Stuart reichte es bis zur Mitte seines Bauchs. Die schlechte Nachricht war, dass wir in einem Loch im Eis standen, und es ist schwer, aus einem Loch im Eis herauszukommen, wenn man vor Kälte wie gelähmt ist. Wir versuchten beide herauszuklettern, aber jedes Mal, wenn wir uns aufstützten, brach das Eis weiter auf.
Ganz automatisch hielten wir uns aneinander fest.
»Okay«, sagte Stuart zähneklappernd. »Es ist k-kalt. Und es sieht nicht gut aus.«
»Nicht? Echt nicht?«, kreischte ich. Aber ich hatte nicht genügend Luft in den Lungen, um zu kreischen, deshalb kam es nur als unheimliches kleines Zischen heraus.
»Wir m-müssen … es aufb-brechen.«
Die Idee war mir auch schon gekommen, aber es tat gut, sie laut ausgesprochen zu hören. Wir begannen, mit steifen, roboterartigen Armbewegungen auf das Eis zu schlagen, bis wir auf die dickere Kruste stießen. Das Wasser war hier etwas weniger tief, aber nicht viel.
»Ich schieb dich mit der Hand hoch«, sagte Stuart. »Stell dich drauf.«
Als ich versuchte, ein Bein zu bewegen, weigerte es sich standhaft. Meine Beine waren so gefühllos, dass sie einfach nicht mehr funktionieren wollten. Als ich es endlich geschafft hatte, waren Stuarts Hände zu kalt, um mich festzuhalten. Erst nach ein paar Versuchen stand ich wieder auf festem Boden.
Dort machte ich die wichtige Erfahrung, dass man auf dem Eis ausrutschen kann und es deshalb schwierig ist, das Gleichgewicht zu halten, erst recht, wenn die Hände in nassen Plastiktüten stecken. Schließlich griff ich nach unten und zog Stuart aus dem Wasser, bis er bäuchlings auf dem Eis lag.
Wir waren draußen. Aber draußen zu sein, fühlte sich seltsamerweise noch viel schlimmer an.
»Iss … nich … mehr … weit«, sagte Stuart. Man konnte ihn kaum verstehen. Meine Lungen fühlten sich ganz schwabbelig an. Stuart packte meine Hand und zerrte mich auf ein Haus oben auf der Anhöhe zu. Wenn er mich nicht gezogen hätte, allein hätte ich es nicht geschafft.
Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so froh gewesen, ein Haus zu sehen. Es war von einem schwachen, grünlichen Schimmer umgeben, durchsetzt von kleinen roten Punkten. Durch die unverschlossene Hintertür betraten wir das Paradies. Dabei war es keineswegs das schönste Haus, in dem ich je gewesen war – es war nur einfach ein Haus, in dem es warm war und durch das der Duft von gebratenem Truthahn und Plätzchen und Weihnachtsbaum zog.
Stuart zerrte mich weiter bis zu einer Tür, die in ein Badezimmer mit gläserner Duschkabine führte.
»Hier«, sagte er und schob mich hinein. »Nimm eine Dusche. Sofort. Erst lauwarm, dann warm, dann heiß.«
Die Tür wurde zugeknallt und ich hörte, wie er sich entfernte. Ich zog mich sofort nackt aus und stolperte, als ich das Wasser andrehte. Meine Klamotten waren entsetzlich schwer, vollgesogen mit Wasser und Schnee und Schlamm.
Ich blieb lange Zeit an die Wand gelehnt unter der Dusche stehen, während sich der kleine Raum mit Dampf füllte. Ein- oder zweimal veränderte sich die Wassertemperatur, wahrscheinlich, weil Stuart irgendwo anders im Haus ebenfalls duschte.
Ich drehte das Wasser erst ab, als es kalt wurde. Als ich in den dichten Dampf hinaustrat, sah ich, dass meine Sachen weg waren. Jemand hatte sie aus dem Badezimmer entfernt, ohne dass ich es gemerkt hatte. Stattdessen lagen zwei große Handtücher da, eine Jogginghose, ein Sweatshirt, Socken und Pantoffeln. Abgesehen von den Socken und Pantoffeln waren es Männerklamotten. Die Socken waren warm und rosafarben und die Pantoffeln weiße, kuschelige, sehr abgetragene Stiefel.
Ich griff nach dem am nächsten liegenden Teil, dem Sweatshirt, und hielt es vor meinen nackten Körper, obwohl ich jetzt ganz eindeutig allein im Bad war. Jemand war hereingekommen. Jemand hatte sich hier herumgetrieben, meine Anziehsachen mitgenommen und sie durch frische, trockene ersetzt. Hatte sich Stuart reingeschlichen, während ich duschte? Hatte er mich nackt gesehen? Konnte mir das in dieser Situation nicht eigentlich egal sein?
Rasch zog ich jedes einzelne Teil an, das man mir hingelegt hatte. Ich öffnete die Tür einen Spalt und spähte hinaus. Die Küche schien leer zu sein. Ich machte die Tür weiter auf und plötzlich tauchte aus dem Nichts eine Frau auf. Vom Alter her konnte es sich um eine Mom handeln, mit lockigen blonden Haaren, die aussahen, als hätte sie sie selbst gefärbt. Sie trug ein Sweatshirt mit zwei sich umarmenden Koalabären mit Nikolausmützen. Doch das Einzige, was mich wirklich interessierte, war der dampfende Becher, den sie mir hinhielt.
»Du armes Ding!«, sagte sie. Ihre Stimme war sehr laut, eine dieser Stimmen, die man über ganze Parkplätze hinweg hören kann. »Stuart ist oben, ich bin seine Mom.«
Ich nahm den Becher. Und wenn es heißes Gift gewesen wäre, ich hätte es trotzdem getrunken.
»Armes Ding«, wiederholte sie. »Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen dich schon wieder warm. Tut mir leid, dass ich nichts Passenderes für dich auftreiben konnte. Die Sachen gehören Stuart und waren das einzig Saubere, was ich gefunden habe. Ich habe deine Kleider in die Waschmaschine gesteckt, deine Schuhe und dein Mantel liegen zum Trocknen auf der Heizung. Wenn du jemanden anrufen möchtest, dann tu das bitte. Und mach dir keine Gedanken, wenn es ein Ferngespräch ist.«
So habe ich Stuarts Mom kennengelernt (»Nenn mich Debbie«). Ich kannte sie kaum zwanzig Sekunden und schon hatte sie meine Unterwäsche gesehen und mir die Klamotten ihres Sohnes angeboten. Sie setzte mich unverzüglich an den Küchentisch und fing an, eine endlose Folge von Platten, die mit Frischhaltefolie bedeckt waren, aus dem Kühlschrank zu holen.
»Wir hatten unser Weihnachtsessen, als Stuart bei der Arbeit war, aber ich habe reichlich gekocht. Wirklich reichlich! Lang zu!«
Es gab echt viel zu essen: Truthahn und Kartoffelpüree, Soße, Füllung, das ganze Programm. Sie stellte alles auf den Tisch, bestand darauf, mir den Teller vollzuhäufen, und stellte mir zusätzlich noch eine Tasse heiße Hühnerklößchensuppe hin. Mittlerweile war ich hungrig – wahrscheinlich hungriger, als ich je im Leben gewesen war.
Stuart kam herein. Genau wie ich war auch er warm angezogen. Er trug Schlafanzughosen aus Flanell und einen ausgebeulten Pullover mit Zopfmuster. Ich weiß nicht … vielleicht war es Dankbarkeit oder die generelle Freude darüber, am Leben zu sein, oder die Tatsache, dass er keine Tüte auf dem Kopf trug … aber irgendwie sah er gut aus. Und mein ganzer Ärger über ihn war verschwunden.
»Bereitest du alles für Julies Übernachtung vor?«, fragte seine Mom. »Und mach die Weihnachtsbaumbeleuchtung aus, damit sie sie nicht stört.«
»Es tut mir leid …«, sagte ich. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich mitten in ihren Weihnachtsabend hineingeplatzt war.
»Du musst dich nicht entschuldigen! Ich bin froh, dass du so vernünftig warst, hierherzukommen! Wir kümmern uns schon um dich. Achte darauf, dass sie genügend Decken hat, Stuart.«
»Sie wird genügend Decken haben«, versicherte er.
»Sie braucht jetzt schon eine. Sieh mal. Sie friert. Du auch. Setz dich hin.«
Sie lief ins Wohnzimmer. Stuart hob die Augenbrauen, als wollte er sagen: Das könnte noch ein Weilchen so weitergehen. Debbie kam mit zwei Fleecedecken zurück. Ich wurde in eine blaue gewickelt. Sie hüllte mich ein, als wäre ich ein Baby, und ich konnte kaum noch die Arme bewegen.
»Du brauchst noch mehr heiße Schokolade«, sagte sie. »Oder lieber Tee? Wir haben alle möglichen Sorten.«
»Es ist gut, Mom«, sagte Stuart.
»Noch Suppe? Iss die Suppe auf. Sie ist selbst gemacht und Hühnersuppe wirkt wie Penicillin. So wie ihr zwei gefroren habt …«
»Es ist gut, Mom.«
Debbie nahm meine halb leere Suppenschale, füllte sie bis zum Rand und stellte sie in die Mikrowelle.
»Zeig ihr, wo alles ist, Stuart. Wenn du in der Nacht etwas brauchst, nimm es dir einfach. Fühl dich wie zu Hause. Du bist jetzt eine von uns, Julie.«
Ich verstand durchaus, was sie meinte. Ich wunderte mich nur ein bisschen darüber, wie sie es ausgedrückt hatte.