Читать книгу Tage wie diese - Maureen Johnson - Страница 8
ОглавлениеKAPITEL DREI
Als ich aus dem kalten Abteilvorraum, der wegen der offen stehenden Zugtür ganz zugeschneit war, nach draußen spähte, konnte ich gerade noch die Bahnarbeiter mit ihren Taschenlampen erkennen. Sie waren ein paar Waggons weit entfernt und so machte ich mich auf den Weg.
Die eisernen Stufen waren hoch und steil und vollständig mit gefrorenem Schnee bedeckt. Außerdem betrug der Abstand zwischen Zug und Erdboden mehr als einen Meter. Die Schneeflocken fielen auf meinen Kopf, als ich auf der untersten nassen Stufe saß und mich ganz vorsichtig abstieß. Ich landete auf allen vieren im etwa dreißig Zentimeter hohen Schnee, der meine Strumpfhose durchnässte, aber sonst war alles in Ordnung. Ich musste nicht weit gehen. Wir standen nur etwa sechs Meter von der Straße entfernt. Ich musste sie nur überqueren, unter einer Überführung hergehen und dann wäre ich da. Länger als ein oder zwei Minuten konnte es nicht dauern.
Ich war noch nie zu Fuß über eine sechsspurige Autobahn gelaufen. Das hatte sich bisher nie ergeben, und wenn doch, dann wäre es mir als keine besonders gute Idee vorgekommen. Aber es waren weit und breit keine Autos zu sehen. Ich hatte das Gefühl, am Ende der Welt zu sein, am Anfang eines ganz neuen Lebens, wo die alten Regeln nicht mehr galten. Wegen des heftigen Sturms und der Schneeflocken in meinen Augen dauerte es fünf Minuten, bis ich auf der anderen Seite war. Nachdem ich die Autobahn hinter mir gelassen hatte, musste ich einen weiteren Abschnitt überqueren. Es hätte Gras sein können oder Zement oder eine weitere Straße – jetzt war es einfach nur weiß und tief. Was auch immer es war, darunter befand sich ein Bordstein, über den ich stolperte. Ich war pitschnass, als ich schließlich an der Tür ankam.
Im Inneren des Waffelhauses war es warm. Mehr noch, es war derartig überheizt, dass die Fenster beschlagen waren und die großen weihnachtlichen Fensterbilder aus Plastik, die darauf klebten, sich wellten und ablösten. Sanfter weihnachtlicher Jazz ertönte aus den Lautsprechern, ungefähr so fröhlich wie ein allergischer Schub. Es roch hauptsächlich nach Fußbodenreiniger und altem Bratfett, aber es mischte sich auch etwas anderes, Verlockendes hinein. Vor nicht allzu langer Zeit waren hier Kartoffeln und Zwiebeln gebraten worden – und das roch lecker.
Gästemäßig sah es ziemlich bescheiden aus. Von ganz hinten aus der Küche hörte ich zwei Männerstimmen, durchsetzt von klatschenden Geräuschen und Gelächter. In der hintersten Ecke des Raums hockte eine Frau, eingehüllt in eine Wolke ihres eigenen Elends. Vor ihr stand ein abgegessener Teller, der mit Zigarettenkippen übersät war. Der einzig sichtbare Angestellte war ein Typ in meinem Alter, der an der Registrierkasse Wache hielt. Sein langes Waffelhaus-Uniformhemd hing über der Hose und unter der ins Gesicht gezogenen Schirmmütze quollen stachelige Haare hervor. Auf seinem Namensschild stand DON-KEUN. Er las in einem Comic, und als ich hereinkam, leuchteten seine Augen kurz auf.
»Hey«, sagte er. »Du siehst aus, als ob dir kalt wäre.«
Gut beobachtet. Als Antwort nickte ich nur.
Langeweile hatte an Don-Keun genagt. Man hörte es an seiner Stimme, man sah es an der Art und Weise, wie er schlapp über der Registrierkasse hing. »Heute Abend ist alles umsonst«, sagte er. »Du kannst bestellen, was immer du möchtest. Entweder beim Koch oder beim diensthabenden Geschäftsführer. Ich bin beides.«
»Danke«, sagte ich.
Gerade wollte er noch etwas hinzufügen, zuckte aber stattdessen peinlich berührt zusammen, als die klatschenden Geräusche im Hintergrund lauter wurden. Vor einem der Barhocker lag eine Zeitung auf dem Tresen und ein paar Kaffeetassen standen herum. Im Versuch, höflich zu sein, nahm ich auf einem Hocker in einiger Entfernung Platz. Kaum saß ich da, machte Don-Keun einen Satz auf mich zu.
»Äh, möchtest du nicht …«
Er unterbrach sich und trat einen Schritt zurück, als jemand aus Richtung der Toiletten kam. Es war ein etwa sechzigjähriger Mann mit sandfarbenem Haar, einem kleinen Bierbauch und Brille. Oh und er war in Silberfolie eingehüllt. Von Kopf bis Fuß. Er trug sogar einen kleinen Hut aus Silberfolie. Ganz wie es sich gehört.
Der Silberfolientyp setzte sich auf den Hocker vor der Zeitung und den Kaffeetassen und nickte mir einen Gruß zu, bevor ich mich überhaupt bewegen konnte.
»Wie geht es dir heute Abend?«, fragte er.
»Könnte besser sein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich wusste nicht, wo ich hingucken sollte – in sein Gesicht oder auf seinen megaglänzenden Silberkörper.
»Kein guter Abend, um draußen zu sein.«
»Stimmt«, sagte ich und konzentrierte meinen Blick auf seinen megaglänzenden Silberbauch. »Scheußlich.«
»Du musst nicht zufällig abgeschleppt werden?«
»Nur wenn Sie Züge abschleppen können.«
Er dachte einen Moment darüber nach. Es ist immer ein bisschen peinlich, wenn jemand nicht merkt, dass man einen Witz gemacht hat, und ernsthaft darüber nachdenkt, was man gesagt hat. Doppelt peinlich, wenn dieser Jemand in Silberfolie steckt.
»Zu groß«, entgegnete er schließlich und schüttelte den Kopf. »Unmöglich.«
Don-Keun schüttelte ebenfalls den Kopf und warf mir einem Weich-zurück-solange-es-geht/zu-spät-du-hängst-schon-drin-Blick zu.
Ich lächelte und tat so, als müsste ich mich dringend und intensiv mit der Speisekarte beschäftigen. Ich fand es passend, jetzt etwas zu bestellen. Ich ging sie immer wieder durch, als fiele es mir enorm schwer, mich zwischen einem Waffelsandwich und den Bratkartoffeln mit Käse zu entscheiden.
»Nimm einen Kaffee«, sagte Don-Keun und reichte mir eine Tasse. Der Kaffee schmeckte total verbrannt und roch scheußlich, aber es war wohl nicht der richtige Zeitpunkt, wählerisch zu sein. Ich glaube, Don-Keun hatte mir ohnehin nur seine Unterstützung anbieten wollen.
»Du sagtest, du bist mit dem Zug gekommen?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich und zeigte durch das Fenster nach draußen. Don-Keun und der Silberfolienmann sahen in die Richtung, aber der Sturm hatte an Stärke zugelegt. Von dem Zug war nichts mehr zu sehen.
»Nö«, wiederholte der Silberfolienmann. »Ein Zug ist unmöglich.«
Wie um seine Bemerkung zu unterstreichen, rückte er seine Silberfolienmanschetten zurecht.
»Hilft das?«, fragte ich und gab dem Drang nach, das Offensichtliche anzusprechen.
»Hilft was?«
»Dieses Zeug. Ist das so was Ähnliches wie das Zeug, das die Marathonläufer tragen, nachdem sie das Ziel erreicht haben?«
»Welches Zeug?«
»Die Silberfolie.«
»Welche Silberfolie?«, fragte er.
An diesem Punkt ließ ich Höflichkeit Höflichkeit sein und Don-Keun stehen, erhob mich und setzte mich ans Fenster. Der Schneesturm ließ die Scheibe zittern.
Weit von hier entfernt war das Smörgåsbord inzwischen in vollem Gang. Zu diesem Zeitpunkt würde das gesamte Essen bereitstehen: die riesigen Schinken, verschiedene Puter, Frikadellen, Kartoffeln in Sahne, Reispudding, Plätzchen, die vier Arten von eingelegtem Fisch …
Mit anderen Worten: Es war kein guter Zeitpunkt, Noah anzurufen. Aber er hatte mich gebeten, ihn anzurufen, wenn ich angekommen war. Weiter würde ich heute nicht kommen.
Also rief ich an, wurde aber sofort auf die Mailbox umgeleitet. Ich hatte mir nicht überlegt, was ich sagen oder wie ich meine Stimme klingen lassen könnte. Ich entschied mich für die Version »sehr komisch, haha« und hinterließ eine schnelle, wahrscheinlich unverständliche Nachricht, dass ich in einer fremden Stadt gelandet war, an einer Autobahn, in einem Waffelhaus, mit einem Mann in Silberfolie. Erst als ich schon aufgelegt hatte, wurde mir klar, dass er denken musste, ich hätte einen Witz gemacht – einen ziemlich schrägen Witz – und ihn angerufen, als er gerade bis zum Hals in Arbeit steckte. Die Nachricht würde ihn vermutlich eher verärgern.
Ich wollte gerade noch einmal anrufen und in einem ernsthafteren und traurigeren Tonfall klarstellen, dass es sich keineswegs um einen Witz handelte … als es einen heftigen Windstoß gab, die Eingangstür aufging und ein weiterer Mensch in unserer Mitte auftauchte. Er war groß und dünn und offensichtlich männlich. Viel mehr konnte man nicht sehen, denn sein Kopf, seine Hände und seine Füße steckten in nassen Plastiktüten. Das waren schon zwei Menschen, deren Kleidungsstücke aus Nichtkleidungsstücken bestanden.
Allmählich fing ich an, Gracetown nicht zu mögen.
»Ich habe an der Sunrise die Kontrolle über meinen Wagen verloren«, sagte der Typ in den Raum hinein. »Musste ihn stehen lassen.«
Don-Keun nickte verständnisvoll.
»Soll er abgeschleppt werden?«, fragte der Silberfolienmann.
»Nein, schon gut. Es schneit so heftig, ich weiß gar nicht, ob ich ihn überhaupt wiederfinden würde.«
Als er sich aus den Tüten geschält hatte, sah er aus wie ein ganz normaler Junge: feuchtes dunkles, lockiges Haar, ziemlich mager, Jeans, die ihm ein bisschen zu groß waren. Er schaute erst zum Tresen und dann zu mir hinüber.
»Darf ich mich hierher setzen?«, fragte er leise. Dabei machte er eine leichte Kopfbewegung in Richtung Silberfolienmann. Offenbar hatte er auch keine Lust auf diese Gesellschaft.
»Na klar«, sagte ich.
»Er ist harmlos«, sagte der Junge immer noch sehr leise. »Aber er redet ein bisschen viel. Ich musste mal eine halbe Stunde lang neben ihm sitzen. Er liebt Tassen. Er kann stundenlang über Tassen reden.«
»Trägt er immer Silberfolie?«
»Ohne würde ich ihn vermutlich nicht wiedererkennen. Übrigens, ich heiße Stuart.«
»Ich … ich heiße Julie.«
»Was hat dich hierher verschlagen?«, fragte er.
»Mein Zug«, sagte ich und zeigte in die Dunkelheit und in den Schnee. »Wir stecken hier fest.«
»Und wo wolltest du hin?«, fragte er.
»Nach Florida. Meine Großeltern besuchen. Meine Eltern sind im Gefängnis.«
Ich fand, es war einen Versuch wert, das Thema einfach mal ganz beiläufig im Gespräch zu erwähnen, und es kam genau die Reaktion, die ich schon halbwegs erwartet hatte. Stuart lachte.
»Bist du allein?«, fragte er.
»Ich habe einen Freund«, sagte ich.
Normalerweise bin ich nicht so blöd. Echt nicht. Ich war nur in Gedanken immer noch bei Noah und bei meiner idiotischen Nachricht.
In Stuarts Mundwinkeln zuckte es, als müsste er sich Mühe geben, nicht zu lachen. Er trommelte mit den Fingern eine kleine Melodie auf den Tisch und lächelte, wie um mir meine Verlegenheit zu nehmen. Es wäre besser gewesen, den Mund zu halten, aber ich konnte den peinlichen Versprecher einfach nicht auf sich beruhen lassen. Ich musste versuchen, es wiedergutzumachen.
»Ich habe das nur gesagt«, fing ich an, mir voll darüber im Klaren, dass ich vermintes Gesprächsgelände betrat und mich lieber schon mal in Fluchtposition bringen sollte, »weil ich ihn eigentlich anrufen müsste. Aber ich kriege kein Netz.«
Jawohl. Ich hatte Jebs Geschichte geklaut. Leider war es mir dabei jedoch völlig entgangen, dass mein Handy vor mir lag und die Netzanzeige auf dem Display deutlich sichtbar war. Stuart warf einen Blick darauf und sah dann mich an, sagte aber nichts.
Jetzt musste ich es ihm erst recht beweisen. Ich wollte ihm unbedingt zeigen, dass ich total normal war.
»Da war keins«, sagte ich. »Bis gerade eben.«
»Liegt sicher am Wetter«, sagte er wohlwollend.
»Wahrscheinlich. Ich versuch’s jetzt lieber mal ganz schnell.«
»Nimm dir so viel Zeit, wie du willst«, sagte er.
Na gut. Er saß schließlich nur hier, um sich nicht stundenlang mit dem Silberfolienmann über Tassen unterhalten zu müssen. Keiner von uns war für den Zeitplan des anderen verantwortlich. Wahrscheinlich war Stuart sogar froh, dass ich diesem Gespräch ein Ende machte. Während ich telefonierte, stand er auf und zog seinen Mantel aus. Darunter trug er eine Jacke mit dem Target-Logo und etwa ein Dutzend weitere Plastiktüten, die aus seinem Mantelfutter herausfielen. Völlig ungerührt hob er sie auf.
Als sich wieder nur Noahs Mailbox meldete, versuchte ich, meinen Frust zu verbergen, indem ich den Hals reckte, um aus dem Fenster zu gucken. Ich hatte keine Lust, vor Stuart eine neue jämmerliche Nachricht zu hinterlassen, und legte einfach auf.
Stuart zog die Schultern hoch – »Nichts?« – und setzte sich wieder hin.
»Sie sind mitten im Smörgåsbord«, sagte ich.
»Smörgåsbord?«
»Noahs Familie ist partiell schwedisch, deshalb veranstalten sie jedes Jahr an Heiligabend ein unglaubliches Smörgåsbord.«
Ich sah, wie sich seine Augenbrauen hoben, als ich »partiell« sagte. Ich benutze dieses Wort häufig. Es ist eins von Noahs Lieblingswörtern, das ich von ihm übernommen habe. Ich wünschte, ich könnte mir angewöhnen, es nicht vor anderen Leuten zu gebrauchen, weil es irgendwie unser Wort war. Außerdem war es nicht hilfreich, mit Ausdrücken wie »partiell schwedisch« um sich zu werfen, wenn man gerade dabei war, einen Fremden davon zu überzeugen, dass man noch alle Tassen im Schrank hat.
»Klar. Jeder liebt ein Smörgåsbord«, sagte er taktvoll.
Es wurde Zeit, das Thema zu wechseln.
»Target«, sagte ich und zeigte auf seine Jacke. Allerdings sprach ich es wie im Französischen aus, also »Tarscheh«, was auch nicht besonders witzig war.
»Korrekt«, sagte er. »Da kannst du mal sehen, wie ich mein Leben aufs Spiel gesetzt habe, nur um zur Arbeit zu kommen. Wenn man einen so wichtigen Job hat wie ich, muss man alle möglichen Risiken eingehen, weil unsere Gesellschaft sonst zusammenbricht. Der Typ da scheint wirklich dringend telefonieren zu wollen.«
Stuart deutete aus dem Fenster und ich drehte mich um. Jeb stand vor einer Telefonzelle, um die der Schnee etwa dreißig Zentimeter hoch lag, und versuchte, mit Gewalt die Tür zu öffnen.
»Der arme Jeb«, sagte ich. »Ich sollte ihm mein Handy leihen … jetzt, wo ich wieder ein Netz habe.«
»Das ist Jeb? Du hast recht … Moment mal, woher kennst du Jeb?«
»Er war auch im Zug. Er hat gesagt, dass er nach Gracetown fährt. Vielleicht will er den Rest der Strecke zu Fuß gehen oder so.«
»Es sieht so aus, als wollte er wirklich um jeden Preis telefonieren«, sagte Stuart und schob ein glibberiges Zuckerstangenfensterbild beiseite, um besser sehen zu können. »Warum nimmt er nicht sein Handy?«
»Es ist bei dem Unfall kaputtgegangen.«
»Unfall?«, wiederholte Stuart. »Ihr hattet … einen Zugunfall?«
»Wir sind im Schnee stecken geblieben.«
Gerade als Stuart drauf und dran war, das Thema Zugunfall zu vertiefen, ging die Tür auf und sie kamen hereingeschneit. Alle vierzehn, kreischend und quiekend und Schneeflocken hinter sich herziehend.
»Oh, mein Gott!«, sagte ich.