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Die Vorladung zum Chef – Monate zuvor
ОглавлениеDieser Morgen kurz vor Ostern ist nicht gemacht für dolce far niente, fürs süße Nichtstun. Das Thermometer steht bei acht Grad über Null, doch es fühlt sich eisig an. Die Hoffnung auf einen lauen Frühlingstag erstarrt. Auf den Wiesen westlich vom Körber-Hof tragen die Jungen eifrig Holz und Gestrüpp heran. Das Osterfeuer soll hier lodern, weil am Hafen noch Land unter ist.
Gut, dass Timi schon für ein paar Stunden in die Kita gebracht werden kann. Lubina Kieschnick geht mit den Kindern täglich spazieren.
Wie ihr der Wind so entgegen bläst, kommt Rita der kühle Märztag in den Sinn, an dem Susan Hellmann ins Koma fiel. Es waren zwei aufregende Jahre. Und auch fruchtbringende. Ihren Roman: «2 Leben der Susan H.» hätte sie ohne diese Erfahrung niemals schreiben können. Das letzte Jahr war dann das wirklich gute für alle. In Rita ist Zuversicht, dass es so bleiben wird.
In ihrem Job hat sie ihr Auskommen und reichlich zu tun. Das Bücherschreiben leistet sie sich dennoch. Ihre Arbeit befruchtet das Hobby. »Hoffnung«, hat eine Leserin gesagt, »Hoffnung gibt mir Ihr Roman über die komatöse Susan, die – wiedergeboren - eine Wendung ihres Wesens genommen hat, zu sich selbst, zu einem sinnerfüllten Leben.«
Jens belächelt die Sache mit der Wiedergeburt bei Susans Schicksal, weil Wiedergeburt immer den Tod voraussetzt und zudem nicht vernünftig definiert sei.
Warum sollte sie die Rückkehr aus einer anderen Dimension des Lebens nicht als Wiedergeburt bezeichnen? Susans Horizont ist jetzt weiter als je zuvor, ihr Wesen sanfter, logischer, konsequenter.
Wer sagt gewiss, ob es noch ihr altes Wesen ist?
Im Haus ist es gemütlich warm. Jens arbeitet im oberen Stock am neuen Konzept für die touristische Vermarktung, und auf ihrem Laptop erscheint die Mail mit der Einladung zum Redaktions-Chef. Im Duktus eine Vorladung.
Der Tag hat so gut angefangen ... Sie weiß nicht, ob es Groll ist, was sie spürt.
Den Absprung vom Journalismus will sie nicht – noch nicht - obwohl ihr der herrische Ton wieder mal heftig an die Nieren geht.
Sie scrollt die Sätze der E-Mail nach oben und liest weiter. Eine junge Volontärin durchlaufe diverse Bereiche und soll nun auch das operative Geschäft im Umland kennen lernen.
Ich wette - ein Anhängsel des Chefs, mitgebracht aus den Hochburgen des Westadels, der Hautevolee, der Hautefinance, der Haute Couture? Hätte er sich für eine von hier persönlich ins Zeug gelegt?
Ungewöhnlich gereizt schließt sie die Datei und geht auf logout.
Für Volontärsbetreuung hat er schließlich gut bezahlte Festangestellte.
Schon hält sie den Hörer in der Hand, legt aber rasch wieder auf.
Mit einer Menge guten Willens und nach einer Phase des Nachdenkens kann sie sich zu dem Gespräch durchringen. Vielleicht sieht sie Mark dann wieder einmal. Inzwischen kann sie freier mit ihm umgehen, schließlich waren sie bis zum Zerwürfnis während Susans Koma einmal gute Kollegen.
Auch wenn es ihr widerstrebt, vor dem Westfalen die Befehlsempfängerin zu spielen, es gibt einen alten Grundsatz: Sage nie alles, was du weißt, aber zeige allen, was du kannst.
Vor der «Audienz» geht sie zur Kantine in der Hoffnung, dort auf ein paar Kollegen zu treffen. Freilich weiß sie, wie wenig Zeit für Pausen bleibt. Wie gewöhnlich wechselt man allgemeine Worte, wünscht sich nur Gutes und tut sich nicht weh. Mark sieht sie nicht. Später, als er im Mehrzweck-Büro aufkreuzt, das sie sich mit anderen Pauschalisten teilt, redet er beinahe wie früher. Das meiste weiß sie:
Mark wohnt inzwischen mit seiner Geliebten Inny im Haus In Lücke in Alt Zechau. Sie sehen einander kaum, einer geht wohl dem anderen aus dem Wege. Nach inneren Kämpfen brachte sie es irgendwann fertig, Mark nachzusehen, dass er Susans Zustand zwischen Leben und Tod beenden wollte. Verstehen kann sie es bis heute nicht. Marks Verhalten als Zwangslage zu begreifen, gelingt ihr besser. Irgendwann wollte sie mit ihm darüber reden. Beim bloßen Vorsatz ist es geblieben. Vielleicht, weil sie spürt, dass er mit Inny glücklicher ist. Seither haben zwei Menschen ihre Wiedergeburt in einem glücklicheren Leben erlebt. Auch in Susans Leben ist endlich echtes Glück gekommen..
Mark sitzt bei ihr. Sein ebenes Gesicht mit den hellblauen Augen unter exakt geschnittenem Haar lässt Rita die kleinen Scharmützel vergessen. Für menschliches Urteil ist der Ausgang entscheidend, nichts sonst.
»Audienz beim Chef also.« Marks Stimme klingt fremd, beinahe warnend. Einen Moment lang kann sie aus seinem Gesicht nichts erkennen. Selbst wenn das Lauern seiner Augen nur ihrer Einbildung geschuldet ist, muss sie jedem weiteren Wort zuvorkommen.
»Es ist eine dienstliche Vorladung. Marquardt ist nicht Hellmann.«
Es gibt viele Tage, an denen ihr zum Scherzen zumute ist. Heute ist es nur der Versuch, Mark das Gefühl von Vergeben erkennen zu lassen. In ihrem Inneren aber hat sie nie vergessen, wie Mark ihr damals deutliche Avancen gemacht hat. Irgendwie schaut er sie sofort um einiges verwegener an und genau so klingen seine Worte:
»Du kleines Miststück! Das ist so lange her …«
Für diesen Moment ist Rita froh, als kleines Miststück zu gelten. Das lenkt ihre Gedanken von dem Mann ab, den sie – zugegeben - einmal sehr mochte. Womöglich wäre es noch immer so, hätte sie nicht sein Bild des Erbarmungslosen überrannt. Ein Ausnahmezustand? Sie möchte es glauben. Susan war in ihrer Hinfälligkeit nicht mehr das, was er sich erträumt hatte.
Sie kann sehen, wie seine Nasenflügel aufblähen, wie seine Lippen ein Zittern unterdrücken und seine Fingerknöchel gegeneinander reiben. Würde sie ihn provozierten, käme es nicht zu jener Normalität, die sie anstrebt. Ihre Abreibung als Miststück hat sie weg. Was soll jetzt noch kommen?
»Wenn es um junge Frauen geht, weißt du doch bestens Bescheid. Was ist das für eine Volontärin, die der Chef…?«
»Ach, die kleine Randhal!« Sein überraschter Blick ist nicht zu übersehen. »Du verpasst da draußen eine Menge.« Seine alte Spielregel, den Tausendsassa zu mimen, funktioniert noch immer, das merkte sie jetzt. »Über die Randhal hält der Alte die Hände. Aber irgendetwas ist da am Laufen…«
In Marks Augen sieht sie kleine Funken, die sie nicht deuten kann. Begeisterung oder Warnung. Besser, wenn er schweigt. Die Begeisterung für junge Frauen sollte dem Schwerenöter endlich abhanden kommen, Inny zuliebe. Zudem soll es ja Mädchen geben, die die Chance ihrer Karriere mehr bedeuten als die Chance auf ein kurzes Abenteuer mit dem Schönling Mark Hellmann. Es wird sich zeigen, aus welchem Holz diese Tiombe ist.
Eines aber zeigt sich schon jetzt. Sie hat eine sensible Stelle berührt, das spürt sie, sobald sie Mark ansieht.
Eine halbe Stunde später wird ihr klar, was Mark gemeint haben könnte.
»Ich übertrage Ihnen die fachliche Anleitung«, sagt der Westfale.
»Wie soll das gehen? Mein Gebiet ist nicht diese Stadt.«
»Ihnen fällt schon etwas ein. Tiombe ist außerdem motorisiert. Sie ist eine gute Fahrerin. Großstadterprobt.«
Lapidare Argumente aus dem profanen Leben haben keine Chance bei Marquardt. Die Aufgabe ist ebenso schnell abgesteckt, dennoch wittert Rita, dass sie die Erwartung des Chefs überfordern könnte.
Interviewtechnik. Storytelling. Überschrift – Bildunterschrift – Vorspann. Auch - das Feature – Themen anschaulich zu machen, kann sie bei ihr lernen. Aber Nachrichtenauswahl oder das Redigieren und vieles andere wird im Verlagshaus gelehrt. Zuerst wird sie dem Mädchen die Grundlagen eines Porträts beibringen. Das gibt ihre momentane Arbeit her.
Als alles besprochen ist, bittet Marquardt die Sekretärin, das Mädchen zu rufen.
Tiombe Randhal ist eine exotische junge Frau, bei deren Anblick einem der Atem stockt. Sie ist das Abbild göttlicher Ungerechtigkeit, die der Schöpfer dem Rest der Frauen zumutet. Dieses Mädchen ist mit Schönheit überworfen. Ihre Haut glänzt kupfern und ihr Haar sieht nach Meisterschnitt aus. Rita schaut genau hin und muss zugeben: pure Anmut. Über alles andere kann sie sich noch kein Urteil erlauben.
Ist das Gesicht so starr vor Schönheit? Gewiss nicht. Froh über den Wechsel ist das junge Ding ganz bestimmt nicht.
Später im Wagen sieht sie die Sache wieder anders: Waren auch Marquardts Worte eine Warnung? Tiombe sei nicht nur reizvoll, sie sei auch sehr klug, mit großer Auffassungsgabe ausgestattet und sehr selbstsicher. Nur bisweilen verliere sie sich im Zorn, den man ihrer negriden Abstammung zuschreibe und deshalb auch hier wohlwollend übersehe. Zu alldem geselle sich aber eine ungewöhnliche Demut, sobald Tiombe spüre, einen guten Menschen enttäuscht oder gar verletzt zu haben.
Warnung oder Rechtfertigung?
C´est la vie: Rita hebt die Schultern und startet den Wagen. Wenigstens der Nachmittag braucht jetzt etwas Erfreuliches, wenn schon soviel Zeit unnütz dahin geflossen ist. Sie atmet tief durch und überträgt den Schub auf ihr rechtes Bein. Timi und Jens werden sie wieder aufmuntern.