Читать книгу Zwei Seelen der Tiombe van R. - Maxi Hill - Страница 6
Tiombe van Randhal
Оглавление»Du solltest jetzt fahren«, sagt Jens. Leicht haben sie sich ihre Entscheidung nicht gemacht. Ein solcher Schritt ist gut zu überlegen. Beider gehören sie zu der Sorte Menschen, die ihre Arbeit quasi im Hause erledigen, nie wirklich Abstand finden. Mit einer Fremden wird das alles nicht leichter. Zum Glück ist Tiombe Randhal eine vom Fach.
Es ist kurz vor zwei Uhr am Mittag und Rita hat versprochen, gegen zwei Uhr dazusein.
Das Osterfest hat sein Tribut gefordert. Zum ersten Mal waren sie mit Timi auf die Insel Rügen gefahren, um die Eltern von Jens zu besuchen. Jetzt, wo das alte Schilfdach-Haus inmitten des Dorfes zum Museum geworden ist, mögen die beiden Alten nicht mehr in Alt Zechau übernachten. Nicht einmal die Gästezimmer im Körberhof lassen sie gelten.
Jens hat Timi aus der Kita geholt und nun schläft der Kleine. Es gibt keinen Grund mehr für Rita, noch länger zu zögern. Er zwinkert ihr zu. Ein unbekümmerter, fröhlicher Mensch, denkt sie und zieht die Wagentür zu. Auffallend gut aussehend, dazu sportlich und vielseitig wie kaum jemand in diesem Dorf, wie keiner unter ihren besten Freunden. Was hatte sie bloß für ein Glück. Er hätte auch sagen können: Mit der kleinen Mara war ihr Leben schon ein anderes geworden. Was soll ein erwachsener Mensch ihnen an Einschränkungen aufbürden.
Rita und Jens hatten es sich vor Jahren gegenseitig schwer gemacht, bis sie dahinter kamen, einander zu achten und zu lieben. Danach hatten sie eine unheimlich verliebte Zeit. Beide dachten, es könne nicht ewig so weiter gehen.
Ihre Verliebtheit ist noch immer Programm, obgleich ihre Stunden höchster körperlicher Lust langsam abnehmen; diametral zum ansteigen Lebensalter ihres Söhnchens Timi. Das liegt vielleicht an den offenen Türen im ganzen Haus. Feischliche Liebe ist nicht lautlos.
Die offenen Türen hatte keiner von beiden anzusprechen gewagt, als ihre Entscheidung für einen jungen Hausgast auf Zeit fiel. Ihre kleinen Zweifel verbot sie sich. Diese Tiombe ist sehr reizvoll für die Augen eines Mannes, da kann sie selbst für Jens nicht die Hand ins Feuer legen.
Die Atmosphäre ist noch immer gespannt, als Tiombe mit ihrem Koffer in den Wagen gestiegen ist. Nicht einmal Ritas wohlmeinende Geste, sie möge vorn Platz nehmen, weil es sich so angenehmer plaudern lässt, löst die Züge in Tiombes Gesicht. Man könnte meinen, sie fühlt sich auf dem Wege zum Schafott.
»Du hast richtig Glück«, sagt Rita. Der Blick des Mädchens ist unklar. Ablehnend? Staunend? Respektlos, wie ihre Worte:
»Ich glaube nicht daran, dass sich Menschen verbünden, um einen Bastard wie mich glücklich zu machen.«
Sie hat die Schrecklichkeit wohl gehört, geht aber nicht darauf ein. Die Jugend ist heute unberechenbar. Provokant und wenig dankbar. Der Unterschied zwischen Dankbarkeit und Undank ist, dass sich Dankbarkeit in Grenzen hält, denkt Rita. Aber das wird sie dem halben Kind nicht sagen. Was sie betrifft, erwartet sie keine Dankbarkeit. Sie hat einen pragmatischen Grund, die Bürde eines Untermieters auf sich zu nehmen. Und der ist legitim. Aber sie wird einen Teufel tun, über diesen Grund zu reden.
»Ich meine, eine wesentliche Voraussetzung für ein Volontariat ist - zumeist jedenfalls - ein abgeschlossenes Studium. Du kommst vom Gymnasium. Das ist schon ein Glücksfall. Wo willst du denn danach studieren?«
»Berlin.«
»Die freie Journalistenschule?«
»Egal. Hauptsache studieren.«
»Weder Journalist noch Redakteur sind geschützte Berufsbezeichnungen. Und es gibt auch keine geregelte Berufsausbildung. Die einen machen es so, und die anderen so. Du hast eben das Glück, es so zu machen, wie du es offenbar willst. Aber stell dir das Volontariat nicht als Ausbildung vor. De facto bist du jetzt Jungredakteur …«, Rita lächelt, um die Schärfe, die in ihr steckt und gegen die sie nicht ankommt, aus der Stimme zu nehmen, »…mit ein bisschen Narrenfreiheit vielleicht, mit größerer Fehlertoleranz. Aber Jungredakteur.«
»Und warum bin ich dann … ich meine, warum musst du mich ausbilden.«
»Ich bilde dich nicht aus. Du bist von Anfang an in das Netzwerk des Verlages eingebunden. Du wirst weiterhin alle Bereiche durchlaufen. Lass dir diese Chance nicht entgehen. Du wirst so viel leichter entscheiden können, in welcher Richtung du studieren willst. Allerdings kommen auf einen Studienplatz bis zu eintausend Bewerber.«
Tiombe zuckt mit der Schulter, als schnippe sie das Problem leichtfertig hinweg, bis sie ihren Irrtum erkennt.
»Was heißt denn: in welcher Richtung? Ich will Journalismus studieren. Nichts weiter.«
»Heute ist eine spezielle Ausbildung von großem Vorteil. Ein fachlich versierter Journalist wird den Anforderungen besser gerecht. Er hat auch bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Keine Frage. In den meisten Verlagen gibt es `ne Menge Freie - aus der Wirtschaft, der Politik, sogar der Medizin - die auf Journalismus umsattelten. Deren Fachkompetenz ist unschlagbar. Mark Hellmann zum Beispiel ist ausgebildeter Fotograf. Er hat im dualen System seinen Abschluss gemacht, um nebenbei Geld zu verdienen. Jetzt arbeitet er wie jeder andere Redakteur auch. Das richtige Schreiben gehört ohnehin zum Allgemeinwissen. Es muss nur geschliffen werden und auf das Medium abgestimmt. Aber das lernt man von denen die es können besser als in jeder Schule.«
Tiombe lehnt sich demonstrativ nach hinten: »Aha. Nun weiß ich `s ja.«
Die Pause fällt unmerklich länger aus als normal, bis Rita weiter spricht: »Die Zeit im Verlag wird dir helfen herauszufinden, welcher Neigung du entsprichst. Du hast noch Zeit, über deine Spezialisierung nachzudenken. Das ist der Vorteil, den ich Glück nannte.«
Normalerweise hätte Rita jeden anderen Menschen seine Grillen ausleben lassen, bei Tiombe geht es nicht. Entweder sie finden sich so zusammen, dass sie eine Zeit lang unter einem Dach leben können, oder einer von ihnen muss täglich zwei Stunden mehr Arbeitszeit opfern. Sie, um zum Verlag zu fahren, Tiombe, um zu Ritas Haupteinsatzgebiet hier im Spreewald zu kommen. Ein Mehr an Zeit wird sie ihrer Familie nicht zumuten.
Bei ihrem ersten gemeinsamen Arbeitstag im Verlag hat sie dummerweise eine Regel gebrochen, was ihr von Minute zu Minute immer bewusster wird. Sie hat dem Mädchen das Du angeboten, weil sie doch für einige Zeit in ihrem Hause wohnen wird. Es siezt sich so schlecht am Küchentisch.
Vielleicht aber war gerade das der Anlass für Tiombe gewesen, über ihre familiären Dinge zu reden. Nicht gerade ausführlich; es war auch so schon bedrückend genug. Rita weiß jetzt, dass Tiombe über Ostern zu Hause bei ihrem Vater war, und sie weiß, dass sie nur noch den Vater hat. Zwischen den Worten und in ihren Gesten konnte Rita erkennen, dass sie ihren Vater nicht sonderlich liebt.
Die Stadt liegt schon lange hinter ihnen und Rita denkt über das Gespräch nach, das sie mit Tiombe geführt hat. Es war ihr vorgekommen, als sei es kein so angespanntes gewesen wie dieses.
»Hast du zu deiner Mutter noch regelmäßig Kontakt?«, fragt sie irgendwann.
»Er lässt es nicht zu«, kommt kurz. Zu kurz.
Rita wirft ihren Kopf herum, muss sich disziplinieren und auf den fließenden Verkehr achten. Dennoch wird ihr sofort klar, warum das Mädchen seine Fröhlichkeit hinter dieser griesgrämigen Maske verbirgt. Und sie kann sehr fröhlich sein, das hat Rita schon im Verlag kennen gelernt. Wahrscheinlich war es kein schönes Osterfest für das Mädchen. Falls sie ihren Vater wirklich nicht liebt, dann gewiss nicht. Wenn Rita doch nur einen Schimmer davon gehabt hätte.
»Wenn du reden willst, wir haben vierzig Minuten Fahrzeit vor uns.«
»Ich habe nicht das Bedürfnis über meinen Vater zu reden, falls du das meinst.« Endlich lächelt sie so engelsgleich, dass Rita alle Bedenken über Bord werfen könnte, lägen nicht Tiombes Hände verkrampft in ihrem Schoß, färbten sich nicht die Knöchel hell und nehme der Stoff ihrer Jacke nicht schon tiefe Knitterfalten an.
»Darf ich?« Tiombe greift nach dem Knopf des Radios und Rita weiß, dass damit jede Unterhaltung stirbt. Wenn überhaupt, dann sprechen sie ab jetzt über irgendein Lied, das man dort abspielt, oder über einen dieser hirnlosen Straßen-Kommentare, wie sie von den letzten Tagen vor Ostern noch in ihrer Erinnerung sind:
»Was halten Sie vom Fasten?«
»Was gefällt Ihnen am Frühling?«
»Glauben Sie an die Wiedergeburt von Jesus Christus?«
Ohne ihre Stimme zu heben, beginnt sie zu erzählen, was ihr gerade einfällt. Zuerst dreht das Mädchen das Radio leiser, dann ganz aus. Auf geheimnisvolle Weise bessert sich Tiombes Laune. Sie lachen und scherzen über die komische Sage, die Rita über den Spreewald eingefallen ist, über die Ochsen des Teufels, die ihm nicht gehorchten und das Land mit dem Pflug schrecklich zerfurchten, dass fortan das Wasser der Spree in Tausenden Fließen verzweigt durch die Wälder und Auen floss. Ab Burg zählt Rita die kleinen Brücken, unter denen fast unbemerkt Wasseradern verlaufen. Achtzehn allein zwischen Burg und Byhleguhre.
Nie zuvor ist ein Mensch so rasant aus bitterer Griesgrämigkeit zu einem liebevollen, freundlichen Wesen mutiert, das sehr rücksichtsvoll nach diesem und jenem fragt, dessen Augen funkeln und dessen schneeweiße Zähne blitzen, so oft es sie anschaut.
Als sie den Körberhof erreichen wechselt der Film. Rita und Jens haben ein Ritual vorbereitet. Sie begrüßen ihren Gast mit Brot und Salz, wie es üblich ist. Dann zeigen sie Tiombe das Gästezimmer im oberen Stock. Aus dem strahlenden Gesicht flieht nach und nach jeder Glanz.
Rita erinnert sich wie es war, als sie für drei Jahre in ein Internat musste. Nicht, dass sie allzu sehr an ihren Eltern gehangen hätte. Nein. Es war die ungewohnte Fremde, die sie für ein paar Stunden depressiv machte.
Sie nimmt Tiombe bei den Schultern und schiebt sie behutsam vor sich her:
»Na komm. Mach dich frisch. Gegen achtzehn Uhr essen wir«, Rita hebt die Schultern, »Timi muss früh zu Bett.«
»Mach ich«, flötet Tiombe, als sei sie noch immer gut gelaunt. Aber Rita sieht das verzerrte Gesicht und sie spürt genau, wie missmutig das Mädchen alles macht, was es sieht. Sie sagt nichts, ihre Augen spiegeln etwas Abneigung und etwas von Wut. Wogegen, das erkennt Rita nicht. Für eine verwirrende Minute ist sie davon überzeugt, Tiombe könnte nicht die sein, die ihr beschrieben wurde. Was, wenn sie eine von denen ist, die aus dem Verlag abgeschoben wurde, weil sie unbequem ist. Aufsässig. Reaktionär? Ist es ein Fehler, das junge Ding mit in ihr Haus zu holen? Es ist vielleicht nicht logisch, wie sie denkt, aber seit ein paar Tagen ist ihre viel gepriesene Logik Stück für Stück abhanden gekommen. Irgendwie hat alles mit Tiombe zu tun und irgendwie auch nicht. Tiombe ist schon seit einiger Zeit im Verlag, und manch einer lobt ihre Offenheit, ihre klaren Worte. Auch ihren Frohsinn. Und sofern das kein Speichellecken für Marquardt ist, sollte es ihr recht sein.
Noch immer grübelt sie, warum ihr die Verantwortung für Tiombe übertragen wurde. Wenn auch auf Zeit. Dahinter kann genau genommen jeder stecken, der ihr den autarken Job weitab vom Verlag nicht gönnt. Wie viele Neider gibt es wohl?
Einen ihrer Denkfehler macht sie schnell aus: Tiombe ist aus fremder kultureller Herkunft. Also wird sie nicht aus einer privilegierten Schicht stammen. Geht das mit dem Satz vom Bastard zusammen? Aber Tiombe kennt Marquard, den alle den Westfalen nennen. Wenn auch erst seit sie hier ist. So hat sie es zumindest gesagt. Mehrfach. Wenn es eine Seilschaft mit der Hautevolee geben würde, Mark hätte sie gewittert und ihr längst eine Wink gegeben. War seine Andeutung ein Wink, der auf den Westfalen hinweisen könnte? Warum hofiert der so erhabene Chef ein so junges Ding?
Keine Ressentiments, bitte. So sagt es der Westfale stets. Und sie gibt ihm Recht. Bisweilen können auch Chefs einmal für kleine Lichter die großen Gönner sein. Wenn sie erst einmal anfängt, einen unlauteren Zweck hinter ihrem Auftrag zu suchen, wird sie bald die Lust verlieren.
Freilich ist sie nicht sicher, ob ein anderer Kollege die Aufgabe abgelehnt hat. Sie ist ja weit weg. Immerhin hat Marquardt sie wissen lassen, wie er Tiombe beurteilt. Das allein ist ein sicheres Pfand. Dieser Westfale gibt sich keine Blöße. Und sein Fehlurteil wäre eine.
Ritas Sorge trifft auch nicht Tiombe. Wenn sie über etwas nachdenkt, dann ist es die Ausnahme, die man Tiombe gewährt. Erst das Volontariat, dann das Hochschulstudium. Wäre Tiombes Weg nicht ohnehin der bessere? Damit gäbe man dem jungen Menschen eine echte Chance, sich für das richtige Studium zu entscheiden. Mag sein, man denkt so. Vielleicht aber sind es doch Auswirkungen irgendeines Klüngels?
Das geht sie nichts an. Sie hat einen Auftrag zu erfüllen und dazu steht sie. Basta.
Warum erschrickt sie plötzlich vor ihrem eigenen Wort: Basta?
Am vierten Tag ist etwas wie Normalität im Körberhof eingezogen, der jetzt vier Menschen ein Zuhause gibt. Die Wohnräume liegen im Erdgeschoss. Oben haben Jens und Rita jeder seinen Arbeitsraum. Das obere Gästezimmer mit kleinem Bad und einer winzigen Dachkammer zeigt nach Süden. Ein Dachfenster zeigt zum Hof. Rita hat mit Jens vereinbart, was sie an diesem Abend zu tun gedenkt.
Tiombes Geruch liegt neuerdings hier unterm Dach. Sie hatte die Freiheit, das Zimmer nach ihrer Vorstellung zu ordnen. Die Vorhänge sind zur Hälfte zugezogen, obwohl vom Süden her kein fremder Blick möglich ist. Nur der Friedhof liegt hinter den Kiefern in zweihundert Metern Entfernung. Kein Laut dringt von unten herauf. Wahrscheinlich spielt Jens noch ein Weilchen mit Timi, bis er letztendlich ins Bett gehört.
Freilich hat sie Jens’ Augen gesehen. Klar muss er begeistert sein. Für ihn ist Tiombe der Engel in Person, freundlich, sanft und seltsam dankbar. Sogar Timi hat sofort einen Draht zu ihr gefunden, wenngleich er verdutzt über ihre braunen Arme strich, um die Farbe abzuwischen, von der er wahrscheinlich glaubt, Tiombe habe sie aufgemalt.
Rita sitzt wartend im Besuchersessel und schließt für einen entspannenden Moment die Augen. Ihr Körper wird weich und warm, ihre Züge gefällig mild. Eigentlich kann sie zufrieden sein, doch so zu denken, wagt sie nicht oft in den letzten Jahren. Zufriedenheit macht träge.
In ihrer eigenbefohlenen Ruhe spürt sie den leichten Luftzug über die Dielen fliegen. Tiombe öffnete die Tür. Nicht gerade zaghaft aber doch mit Respekt. Rita gibt sich einen Ruck, steht auf, geht ihr drei Schritte entgegen und öffnet ihre Arme. Zuerst ist es, als will sich das Mädchen der Umarmung hingeben. Doch dann ist sie stocksteif, auch in den Worten:
»Hat dir heute schon jemand gesagt, wie gut du aussiehst?«
»Nein, nicht wirklich.«
»Das wird auch keiner tun.«
Nun hat sie so lange in kribbeliger Ungeduld auf diesen Moment gewartet, wo sie mit Tiombe ungestört sprechen kann, dass sie es nicht fertig bringt, sie zurechtzuweisen. Vorerst schaut sie selbst dahin, wohin das Mädchen schaut und muss zugeben: Ihre alten Treter mit den abgewetzten Riemchen geben keinen guten Fuß.
»Sind Kleider für dich so wichtig? « fragt sie mit scheinbar unbekümmerter Miene. »Sie sind doch beliebig austauschbar.« Rita kann spüren, wie sich die jungen Schultern krümmen, wie die frohmutige Haltung schlaffer wird. Und sie hört, wie die weichen Lippen murmeln: »Ja. Entschuldige.«
Tiombe ist nicht unsensibel, und wie es nun scheint, sogar traurig, dass sie mal wieder nicht die richtigen Worte gefunden hat. »Es ist nur … es sieht zu komisch aus.«
Rita hat keine Ahnung, ob Tiombe nur ihre Schuhe belächelt, die sie längst hätte austauschen sollen, oder ob sich bei Tiombe alles um Äußerlichkeit dreht. Was ihre Erscheinung betrifft, ist sie sehr selbstsicher. Und treffsicher in modischen Dingen sie allemal, das muss Rita neidlos zugeben. Weniger sicher steht es wohl um die inneren Werte.
»Ich hatte vor, mit dir über die Abläufe hier bei uns und über dein Volontariat zu reden.«
Noch während sie spricht, fällt ihr ein, was Tiombe am Nachmittag gesagt hatte. Irgendetwas über die Achtung, die sie von Menschen erwartet. Aber wie sie es sagte, meinte sie Beachtung.
Noch darf sie nicht näher nachfragen, die Zeit, wo sie nur Scheu zu spüren glaubte – die wie Abscheu wirkte – ist keine drei Tage her. Sie muss alles unterlassen, was ihrem Verhältnis mehr schadet. Rita deutet auf den Sessel neben ihr. Ob der Versuch gelingt, ihr Gesicht locker zu halten, weiß sie nicht.
»Wie fühlst du dich?«
»Wie immer.«
»Also fühlst du dich immer ungut?« Tiombes Staunen entgeht ihr nicht. Sie ringt mit sich, und spricht doch geradeheraus.
»Nein. Es ist nur … Es ist alles so weit weg hier.«
Es sollte wohl beiläufig klingen, aber es klang irgendwie gereizt. Sie hat weit weg ungewöhnlich betont.
»Was bedeuten schon Entfernungen. Die ganze Welt ist ein Dorf. Heute kommt man doch sehr rasch überall hin.«
Rita hat das Gefühl, Tiombe geht es, wie es ihr selbst einmal ging. Ihr fehlte die Stadt und ihr fehlten ihre Freunde. Aber sie war freiwillig hierher gekommen. Vielleicht trifft das für Tiombe gar nicht zu. Vielleicht war es eine Flucht vor irgendwem, genau wie damals bei ihr. Und nun, wo die Fremde noch fremder wird, schlägt sie über die Stränge.
»Ich wollte ja weit weg von zu Hause. Aber …?«
Und dann erzählt sie stockend, dass es bei Marquardt auch nicht eben schön war. Dass es Spannungen gab, die seine Frau nicht hinnehmen wollte. Deshalb sei sie auf Ritas Angebot eingegangen. Nur deshalb.
Hat Marquardt Ritas Entscheidung heraufbeschworen, weil er sie kennt?
Sie sehen sich an und Rita ahnt, da ist noch mehr, als nur Marquardt. Eine Wunde vielleicht, die noch blutet und die so leicht nicht zu heilen sein wird. Sie bedient sich ihrer Stimme, wie sie sich zuweilen ihrer Texte bedient, um sanft nach der Ursache eines Übels zu suchen.
»Du solltest dir über alles, was man von dir verlangt, vorher klar werden. Du bist erwachsen, soweit ich das beurteilen kann.«
»Erwachsen heißt noch lange nicht, allem gewachsen zu sein.«
»Und welchen Namen trägt dieses allem?«
Vielleicht ist es nur eine Sekunde, die Tiombe zögert, aber diese Sekunde braucht sie offenbar. Rita ist nicht so vermessen zu glauben, sie wird wirklich ihr Herz ausschütten, aber eine kleine Regung in ihrem Gesicht gibt es und die lässt darauf schließen, dass sie durchaus Momente von Eigenbetrachtung zeigt.
Rita fällt es schwer, sich zu einem Lächeln durchzuringen. Noch weiß sie nicht, ob die Anstrengung, die sie in Tiombe zu investieren gedenkt, einmal Früchte tragen kann, Früchte, die nicht ihr, die vor allem Tiombe selber schmecken. Der Blick in des Mädchens Augen reicht aus, versöhnlich zu sein. So wie sie Tiombes Hände nimmt, öffnen sich deren Lippen:
»Ich bin kein Kind mehr … Aber mein Vater bestimmt noch immer über mich. Grundsätzlich.«
So rasch hat Rita nicht mit Worten gerechnet, dieser Art schon gar nicht.
»Eltern meinen es meistens gut.«
»Eltern lieben ihre Kinder auch. Er liebt mich nicht und ich liebe ihn nicht.«
Es ist, als schlagen Flämmchen aus einer alten Glut. Ähnliche Worte hätte sie früher auch benutzt. Heute weiß sie, sie waren nicht gerecht. Ein Leben in Liebe und Eintracht wünscht sich ein jeder – vielleicht auch Tiombe. Bisweilen hat Rita gespürt, dieses Mädchen, das jedermann Aufmerksamkeit erweckt, braucht selbst sehr viel davon. Ungewöhnlich viel. Es gibt keinen Gang, den sie gehen, wo man dem Mädchen nicht hinterher schaut. Es gibt keinen Mund, der ihre Anmut nicht lobt. Für den Moment kann Rita ein bisschen Neid nicht verwinden. Zu viel an Schönheit in ihrem Haus, die selbst Jens zu ungewohnten Worten verleitet?
So, wie sie aussieht, stünden ihr ganzandere Wege offen.
Männergedanken. Aber ein solcher von Jens? Kopf oder Körper?
Die Köpfe sind jene Teile, die dem männlichen Körper bisweilen im Wege stehen. Das hat sie in einem Roman geschrieben und es war einer bestimmten Erfahrung geschuldet. Aber es war eine Erfahrung mit einem ganz anderen Menschen.
Tiombes Körper vibriert. Vielleicht begreift sie, wie unklug es war, so mit Rita zu reden. Und was sie dazu bewogen hat, weiß sie vermutlich noch weniger.
»Es tut mit Leid, Rita.« Das Mädchen schaut zu Boiden, womöglich auf die Galoschen an ihren Füßen. »Ich bin manchmal ungeschickt.«
Rita hat längst gespürt, wie gut Tiombes Ehrlichkeit über ihr modische Verirrung tat. Die leisen Schwingungen zwischen ihnen setzen in Gang, wofür die Zeit noch gar nicht gekommen ist. Sie drückt das Mädchen behutsam an sich, lässt es aber sofort wieder los.
»Das ist es nicht. Du warst ehrlich, wenn auch ungeschickt.«
Tiombe hält Ritas Blick stand. Beinahe aufsässig. Ob sie in ihrer Jugend die Botschaft verstanden hat, bleibt offen. Sie protestiert nicht, das ist ein gutes Zeichen, nur ihre Stimme bebt noch ein kleinwenig:
»Ist schon okay, Rita. Ich freue mich, erst einmal von Marquardt weg zu sein.«
Ritas will von Marquardt nichts hören. Längst begreift sie, dass er Tiombe abgeschoben hat, weil sie nervt. Die Pauschalistin weit weg vom Verlag passte ihm gut in den Kram.
»Erzähl mir lieber von dir«, haucht sie mit großer Vorsicht. Tiombe streicht mit einer Hand ihr Vorderhaar hinter das Ohr und wartet auf irgendeine Eingebung. Sie kommt nicht.
»Was es von mir zu erzählen gibt, weißt du bereits. Mehr gibt es nicht…«
»Irgendetwas gibt es immer. Nichts Bestimmtes. Nur, um als Gast auf dem Körberhof nicht ewig fremd zu bleiben.«
»Ich bin ein Meter fünfundsechzig, achtundvierzig Kilo und seit Geburt weiblich. Ich kann schwimmen, rauche nicht und in punkto Dorfleben bin ich strohdumm.«
»Und ein Komödiant ist auch an dir verloren gegangen.«
Rita hat Tiombes Augen lange beobachtet. Da liegt etwas im Argen. Die meisten Menschen wissen nicht genau, was in ihnen steckt – was sie bedrückt. Tiombe kann es ähnlich gehen. Sie wartet, und Tiombe wird unruhig:
»Ich bin nicht zum Beichten geboren. Wäre ich christlich, würde es mir vielleicht gelingen, aber so …«
Nach ihrer Konfession zu fragen ziemt sich nicht, Rita bleibt allgemein:
»Wo Bedrückung ist, steckt immer auch ein Quäntchen…«, Schuld sagt Rita nicht mehr, doch genau dieses Wort nutzt Tiombe blitzschnell, um sie zu unterbrechen. Es klingt ruppig, anders jedenfalls, als man es jetzt erwarten konnte. »Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein, sagte der Herr.«
Aus Tiombes Augen blitzt etwas wie Hass. Ist in dieser jungen Seele etwas Dunkles, etwas sehr Dunkles vielleicht, etwas Undurchsichtiges? Sie senkt ihre Stimme und zwingt sich zur Ruhe:
»Das sagte der Herr, an den du nicht glaubst. Und was meint Tiombe Randhal?«
»Lieber Gott, was sind das für Fragen?«
»Der liebe Gott würde das niemals fragen. Er würde erwarten, dass du ihm ewig dankbar bist. Ich dagegen frage nur: Willst du mir etwas …«, Rita macht eine längere Pause. Bewusst. Doch umso eindringlicher fährt sie fort: » …von dir und deinem Vater erzählen, oder willst du es nicht?«
Das mit dem Vater ist gewagt, aber es scheint sich zu bestätigen, was sie herausgehört hat. Tiombe hat Mühe, ihre Verwunderung zu verbergen, doch es ist auch deutlich, wie geschmeidig sie wird.
»Bist du Hellseher?« Beinahe lächelt ihr Mund.
»Nein. Aber wer dem Fremden helfen will, muss seine Sprache verstehen. Deine ungesagten Worte sind beredter als du glaubst.«
»Das glaube ich nicht. Ich hoffe nur, dass du mich besser verstehst als Marquardt.«
»Dann erzähl mir etwas, was ich verstehen kann.«
Der Trotz in Tiombe ist noch nicht völlig verraucht, doch ihre Sprache wird sanfter. Erst recht, als Rita mit weicher Stimme versicherte, dass sie nur freimütig reden soll, oder gar nicht. Sie will sie um nichts auf der Welt bedrängen. Es dauert, und Rita will schon aufgeben, doch Tiombe besinnt sich anders.
»Ich war schon immer anders, als ich sein sollte. Ein Bastard eben. Schon als Kind habe ich mir nur ganz einfache Sachen gewünscht - Gesundheit, satt zu essen, ein Fahrrad unterm Hintern, ein schönes Himmelbett. Das meiste davon hatte ich …« Sie stockt, doch Rita lässt ihr Zeit, bis sie gesteht. »Mehr als das. Viel zu viel.«
Sie zieht ein Zellstoff aus der Tasche und zelebriert eine Geste, die überflüssig ist. »Gut. Die Gesundheit ist gelogen. Ich wünschte mir oft, krank zu sein, um beachtet zu werden. Meine Mutter hatte nicht viel Zeit für mich, hatte nicht einmal Zeit für sich … Aber wenn ich krank war, nahm sie sich Zeit.«
Den Schuldigen dafür zu benennen, vermeidet sie, das ist der Punkt.
»Und später?«
»Später war ich einmal sehr krank und Mutter wäre daran fast verzweifelt.«
Tiombes Blick wandert durch den Raum, aus dem kleinen Fenster, hinauf in das Stückchen Himmel, das es freigibt. Ihr Atem geht ruhig.
»Und noch später«, traut Rita sich, die Gedanken des Mädchens zurückzuholen.
»Später sind andere Wünsche geboren. Ein liebendes Elternhaus, das für mich da ist. Vertrauen und Gerechtigkeit«, schiebt sie allzu rasch nach. Auf eine vage Art glaubt Rita, etwas in Tiombe zu erkennen. Eine Bitternis? Eine Kränkung? Etwas Unerfülltes.
»Was hat sich für dich nicht erfüllt?«
Tiombe wirft ihren Körper herum, als streife sie die lästige Frage ab. Aber sie besinnt sich auch diesmal schneller als erwatet:
»Habe ich eine Familie, die mich liebt?«, die Stimme wird cholerisch. »Haben wir vielleicht Gerechtigkeit? Nicht einmal Vertrauen. Man weiß nie, wer neben einem steht, Freund oder Feind.«
Vertrauen also? Rita schaut sehr lange in feuchte, fiebrige Augen. Wie oft hat sie aus Kinderaugen Tränen weggeküsst, wie oft hat sie ihre Hand auf eine kleine, heiße Stirn gelegt und geflüstert: Mama ist bei dir. Und jedes Mal war die Mama froh, diese Augenblicke erleben zu dürfen. Doch da sitzt nicht ihr Kind. Da sitzt ein fremdes Wesen, das sich nicht unter die Haut schauen lässt, das sich vor jedem und allem schützen möchte. Obwohl nach außen hin alles von ihr abzuprallen scheint, ist sie im Herzen sehr verletzlich.
»Du bist wie die Reinkarnation einer Schildkröte«, sagt Rita leise und hat wohl nichts bedacht, außer ihrer eigenen Unfähigkeit, unter Tiombes Panzer zu gelangen.
Ein Zucken geht durch Tiombe. Doch dann lacht sie laut, beinahe hysterisch laut. Es gibt keinen Zweifel, sie hat einen Grund, etwas zu überspielen. Damit erklärt sich am leichtesten Tiombes Phase an Überdrehtheit, die oberflächlich gesehen als lebenslustig gedeutet werden kann. Inzwischen weiß Rita, Tiombe würde wahrscheinlich bei jeder Anschuldigung lachend weinen, aber sie würde nie verraten, wie es in ihr drin aussieht.
Lächelnd legt sie ihre Hand auf Tiombes Arm und lauscht ins Nichts. Sie genießt die Berührung, die nicht immer geeignet ist, Zugang zu einem Menschen zu finden. Tiombe atmete bleischwer.
»Es fällt dir schwer, über dein Leben zu reden. Gilt das auch für deine Gefühle?« Sie legt jetzt Wert auf Vertraulichkeit, die sich langsam auf Tiombe zu übertragen scheint. Wahrscheinlich ist es quälender Zweifel, der das Blut durch die jungen Adern treibt. Für einen Moment regt sich nichts, kein Muskel, keine Wimper. Nur schwerer Atem strömt aus der jungen Brust. Nach vielen Zügen beginnt Tiombe wieder zu reden, ohne Scheu, ohne Selbstanklage, ohne Schamgefühl, als hätte ein Engel ihre Zunge gelockert.
»Ich bin die Schmach meines Vaters. Nur darum bin ich hier, wo mich keiner kennt – wo ihn keiner kennt. Hier muss er sich nicht schämen für mich.«
»Kein Vater schämt sich für sein Kind.«
»Ich bin ein Bastard. Das Abbild der Frau, die ihn verlassen hat. Die ihrem Befehlshaber den Befehl verweigerte und die ihr Kind im Stich ließ. Ich weiß, Mutter hätte mich nie … Er war es … Er wollte es so.«
Sie hält inne, aber Rita ermuntert sie nicht. Der nüchterne Raum taucht ab im Dunkel des Abends mit der Gewissheit auf einen hellen, klaren Morgen. Unbewusst streicht Ritas Hand über Tiombes Arm. Sie verharrt, wie die Hand einer Mutter an der Stirn ihres fiebernden Kindes. In Tiombes Augen sammelt sich der Glanz einer reinen Seele, ein Glanz, den sie Tiombes Unschuld zugestehen möchte. Das schöne Gesicht vor ihren Augen verschwimmt, bis sich die kindlich suchende Hand fest um Ritas krallt, der junge Kopf sich anschmiegt. Diese Umklammerung spendet ihr Trost. Liebe. Hoffnung. Zuneigung. Vertrauen?
Wie konnte sie erwarten, dass dieser Abend etwas bringt, was sie nie wollte. Tiombe tut ihr leid. Was das Mädchen einst liebte, hatte man ihr genommen. Die Mutter. Man hat ihr den Menschen genommen, der sie zu lieben glaubte, was doch nur ein verdammter Irrtum war. Mit ihrer Mutter hat sie verloren, was sie ein Leben lang lieben wollte.
Vielleicht trägt sie nun selbst dazu bei, die Harmonie ihres Lebens zu zerstören, weil sie dem Vater alle Schuld gibt. Sieht sie die Zeit gekommen, wo sie zurückschlagen möchte?
»Herrgott. Du bist erwachsen und kannst deine eigenen Wege suchen. Wir haben keine Leibeigenschaft und wir schreiben nicht 1220, wir schreiben 2012!«
Tiombes Kehlkopf zuckt. Sie schluckt ein paar Mal den salzigen Geschmack ihrer Tränen herunter, die sie nicht losgelassen hat. Dann verharrt sie reglos; Es ist jetzt unheimlich still. Nur ein seidenes Knicken löste sich von Zeit zu Zeit aus den blassen Tapeten, die die alten Wände verjüngen. Rita wartet geduldig, doch Tiombe rührt sich nicht mehr. Ihr Atem geht ruhiger als zuvor.
Das Knistern der Tapete verliert sich und Rita hat den Wunsch, sich zurückzunehmen für diesen Tag. Zeit sich etwas zu überlegen. Genau betrachtet steckt hinter Tiombes Leben ein kleines Türchen zu einem ungewöhnlichen Schicksal, das es mal wieder zu erforschen und aufzuschreiben lohnt. Hassen wird sie sich für ihren eigennützigen Gedanken nicht. Die Neugier gehört zu ihr, zu ihrem Beruf wie zu ihrer Passion. Neugier ist der einzige Weg, Wunder aufzuspüren. Und heute muss man als Romanautor schon mit einem Wunder aufwarten, wenn man gelesen werden möchte.