Читать книгу Zwei Seelen der Tiombe van R. - Maxi Hill - Страница 7
Impuls des Lebens
ОглавлениеDie Worte des Abends rücken am Morgen in ein besseres Licht. Zum ersten Mal gibt ihr jemand die Gewissheit, sie zu mögen, ohne familiären Hintergrund. Einfach so. Seit Langem hatte sie kein solches Gefühl mehr. Es beherrschte sie noch in der Nacht. Sie versuchte das Gefühl lange hinauszuzögern. In vollkommener Dunkelheit – und so sind alle Nächte hier in der Abgeschiedenheit – und allein im fremden Zimmer, war die Verzückung dann gestorben und sie hätte beinahe einen unverzeihlichen Fehler begangen. Sie war drauf und dran, nach dem Kästchen zu greifen, was sie seit Tagen zu vermeiden versucht, weil diese beiden Menschen ihr Denken und Fühlen verändern. Es war das nächtliche Geräusch in den unteren Räumen, das liebevolle Trösten, das leise Summen eines Kinderliedes, das sie vom Unweigerlichen abgehalten hat.
Ihr Körper streckt sich, ihre Muskeln spannen sich für Sekunden und lockern sich wieder. Dann schreitet sie dem Morgen entgegen, dem ganz normalen Morgen vor einem verdammt nervigen Tag im tiefsten Spreewald.
Vorsichtig öffnet sie die Küchentür und sieht es genau: Rita macht ein unglückliches Gesicht. Eine Spur zu euphorisch, wendet sie sich dem nett gedeckten Frühstückstisch zu.
»Ich habe einen Mordshunger.«
»Dann iss dich richtig satt. Wer weiß, wann wir die Zeit für die nächste Mahlzeit finden.«
»Wohin geht es heute?«
»Lübben«, sagt Rita und schiebt noch ein paar Sätze nach. Vor Jahren habe man die Ostflüchter in einer Serie bedacht, nun seien die Rückkehrer dran. Es gehe um eine junge Frau, die Tiombe zu interviewen habe.
Rita stellt die warmen Brötchen in die Mitte des Tisches und legt einen kleinen Merkzettel dazu, der Tiombe helfen soll, das Interview klug aufzubauen. Dann ruft sie nach nebenan:
»Der Kaffee ist fertig!«
Bis Jens sich mit Timi zu ihnen gesellt, nimmt Rita das Gespräch wieder auf, als habe sie es nie unterbrochen. »Lübben ist die Paul-Gerhardt-Stadt.« Dabei erscheint das gewisse Lächeln in Ritas Gesicht, das Tiombe immer sieht, wenn Rita versucht, ihr diese triste Gegend schmackhaft zu machen. Es gehört zu den Dingen, die sie so hinnimmt, wie sie sind, aber dieses Mal durchfährt sie ein anderes Gefühl. Ein vertrautes. Was weiß Rita? Sie kommt ihr zuvor:
»Paul Gerhardt? Gibt es mehrere davon?«
»Was heißt das, mehrere?«
Auf einmal glaubt Tiombe, nicht wirklich über das sprechen zu wollen, was ihr noch eben auf der Zunge brannte. Sie zieht ihre Schultern nach oben und schaut zu, wie Jens den Kleinen in sein Stühlchen hebt. Diese Ablenkung kommt ihr gerade recht, aber Rita lässt sie nicht zu.
»Paul Gerhardt ist überall bekannt. In vielen Städten gibt es Kirchengemeinden, Gotteshäuser, Diakonien. Sogar Schulen tragen seinen Namen. Er war neben Martin Luther der bedeutendste deutsche Kirchenliederdichter. Gut möglich, dass du seinen Namen schon einmal gehört hast.«
Warum sag’ ich es nicht. Es ist doch nichts dabei, denkt Tiombe. Aber zugleich weiß sie, wenn sie erst davon anfängt, wird sie auf etwas reduziert, was sie nicht will. Oder Rita würde - wie gestern Abend - erreichen, dass alles wie von selbst aus ihr heraussprudelt. Das darf es nicht noch einmal. Da gibt es dieses stumme Verbot, das sie sich selbst auferlegt hat und das sie längst bereut. Ihre Lippen öffnen sich, ganz ungewollt.
»Ich war ein paar Jahre in einem Jugendtreff. Der hieß Paul Gerhardt.«
»Jugendtreffs also auch? Sieh’ an. Wo war das?«
Warum zum Teufel muss sie dauernd reden. Vater hat recht. Wer leidige Dinge anspricht, muss leidigen Fragen gewachsen sein.
Ein profaner Jugendtreff - was ist das schon.
»In Frankfurt«, sagt sie. »Ich dachte der heißt so, weil der nicht weit vom Paul-Gerhardt-Ring liegt. Aber ehrlich, ich wusste nicht, dass das ein Pastor … ich meine, war der aus dem Spreewald?«
»Einige Jahre war er hier. So weit ich weiß, war er bekennender Lutheraner. Gerhardt soll es lieber gewesen sein, sich – wer weiß von wo - vertreiben zu lassen, als dass er von seinem Bekenntnis abließ. Vielleicht kam er von Frankfurt. Wenn du möchtest, besuchen wir ein paar Veranstaltungen. Die Stadt feiert ihn aufwändig.«
Während Rita womöglich selbst überlegt, worin das Feiern besteht, bringt es Tiombe nicht fertig, nein zu sagen. Sie schüttelt den Kopf, dass es staunend aussieht, bricht vom duftenden Brötchen ein Stück ab und schiebt es mit Bedacht in den Mund. Das wundervolle Brötchen interessiert sie jetzt ebenso, wie es Timi zu interessieren scheint.
Jens beobachtet die Szenerie am Frühstückstisch sichtlich amüsiert. Sehr aufmerksam wendet er sich dennoch seinem Kind zu und Rita schenkt er galant Kaffee nach. Ganz wie nebenbei huscht sein Blick freilich immer wieder zu ihr. Seine Augen sind dabei ebenso staunend, wie die von Timi, der sich an sie erst noch gewöhnen muss. Rita muss blind, taub und total gefühllos sein, wenn sie die Unruhe in Jens nicht spürt, denkt Tiombe bei sich, und weiß doch zugleich, dass sie nur für die Zeit am Tisch dieser Leute geduldet ist, die unproblematisch verläuft. Das war bisher immer so. Rita muss die Entscheidung einige Überwindung gekostet haben. Sie ist klug und sensibel, und sie weiß sehr wohl, dass es für keinen angenehm ist, Haus und Tisch mit einer wildfremden Person zu teilen, egal wie es diesmal ausgeht.
Nach einer halben Stunde bleibt sie auf der Schwelle vor der Haustür stehen und schaut auf Timi herab, der im warmen Overall im Hof herumstolziert. Sie widersteht der Versuchung, ihn bei der Hand zu nehmen und mit ihm zum Wagen zu laufen. Aus schrägem Winkel kann sie sehen, wie Rita und Jens sich zum Abschied küssen. Dieses Bild großer Zärtlichkeit löst eine sonderbare Verwirrung in ihr aus. Sie glaubt, auch einmal in ihrem Leben so geliebt worden zu sein, doch sie weiß es nicht genau. Hätte ihre Mutter sie so sehr geliebt, sie wäre jetzt nicht allein.
»Meinst du, du bist warm genug angezogen?«
Tiombe schaut an sich herab. Sie hat sich so gekleidet, wie sie sich wohlfühlt. Wohlgefühl ist bereits der halbe Tag.
»Mach dir keine Sorgen…« Du bist nicht meine Mutter, diese Worte verschluckt sie vorsichtshalber.
Sie mag Rita sehr, und den Jens mag sie inzwischen auch. Eigentlich ein Glücksfall, bei den beiden gelandet zu sein. Völlig unbeabsichtigt.
Diese morgendliche Erkenntnis macht ihr klar, wie närrisch sie sich noch vor drei Tagen benommen hat – beim Anblick des Dorfes, beim Betreten des Hofes. Und sogar gestern, wegen der seltsamen Schuhe, die Rita am Abend trug. Beinahe kann sie sich freuen, wieder all die Bequemlichkeiten zu erfahren, an die sie mit Strenge gewöhnt worden war und auf die sie einmal im Leben verzichten wollte. Was wäre dieser kleine Verzicht? Er wäre vergänglich, sobald sie es will. Der größere Verzicht indes ist endgültig. In ganz gewissen Stunden kommt die Erinnerung an ihre Mutter und wie sie stets sagte, sie wünsche, dass ihr Leben bald endgültig werde. Sie hasste das unstete Leben zwischen den Kontinenten. Tiombe war noch zu klein, um die Sehnsucht der Mutter nach einem Zuhause zu verstehen. Die Sehnsucht nach einer intakten Familie.
Hier in dem Hause, das sich Körberhof nennt, darf nun die Tochter die Wohltat einer solchen Familie erleben, zu der sie nicht gehört.
Sie bleibt, was sie ist. Und es bleibt dieser Teil von ihr, den ihr strenger Vater den paranoiden nennt, den sie von ihrer Mutter geerbt habe. So oft sie die Kraft dagegen aufzubringen versucht, dieser Teil in ihr ist für sie selbst nicht spürbar, also ist er auch durch sie nicht zum Schweigen zu bringen. Vaters Vorwurf aber klebt mit einer Penetranz an ihr, als tauge er nur dazu, ihre eigene Schwäche am Leben zu halten. Nur schwache Seelen können gebrochen werden. Will ihr eigener Vater sie klein und zerbrechlich sehen? Wollte er seine einst so starke Frau auch nur klein und zerbrechlich sehen?
Du wirst dich wundern, Just van Randhal. Wenn ich zurückkomme bin ich eine ganz andere.
Sie will einfach nicht glauben, dass ihr Vater sie liebt, dass er sie je geliebt hat, sie, den Bastard.
Tiombe ist nicht so vermessen zu glauben, diese Leute hier könnten sie lieben. Letztlich ist sie der Stachel im Fleisch ihrer Harmonie. Aber Rita hat es selbst so gewollt, und nüchtern betrachtet ist es auch logisch. Wie viel Zeit würde heute verloren gehen, ehe sie sich der gemeinsamen Arbeit vor Ort widmen könnten. Also ging es ihr nicht um sie, Tiombe Randhal. Es geht auch Rita Georgi nur um den eigenen Vorteil.
Zu dritt fahren sie ein Stück die Dorfstraße entlang und halten an einem unscheinbaren Klinkerhaus. Rita nimmt Timi aus der Sitzschale und geht zum Eingang, als von drinnen drei Kinder lärmend und mit ausgebreiteten Armen den Ankömmlingen entgegenlaufen. Rita umarmt jedes der Kinder und übergibt Timi dieser Frau, die lächelnd im Türrahmen steht, die Geste von Rita erwidernd, bevor sie die kleine Rasselbande vor sich her in die warmen Räume zurück schiebt.
Vielleicht ist es nur eine einzige Sekunde, die Tiombe mit einem fremden, aber sehr angenehmen Gefühl erfüllt. Sie lässt sie verstreichen, will an nichts denken und weiß doch genau, dass es Wehmut ist – lächerliche Wehmut. Diese Empfindung kommt mit solcher Intensität, dass es sie schüttelt und sie an das Kästchen denkt, das zu Hause liegt. Zu Hause – im Körberhof.
Rita steigt ein und fährt wortlos weiter, der Fernstraße entgegen. Tiombe ist es, als leide Rita gerade unter dem Abschied von ihrem Söhnchen. Warum nur? Dem geht es doch gut?
Noch bis vor einem Augenblick hat sie nur Sympathie für Rita empfunden. Jetzt ist es mehr als dass, und dennoch überspült ein alter Zorn die große Bewunderung. Tiombe neidet dem kleinen Timi diese fantastischen Eltern. Ihr hatte man ein Leben lang solche Eltern vorenthalten. Man hat sie hineingestoßen in ein Leben, das sie nicht will. Man hat ihr gestohlen, was sie liebte und ließ sie allein mit ihren Träumen und mit ihrer Sehnsucht nach einem beschützten Leben in Elternliebe und -bewunderung. Wer könnte ein Kind mehr bewundern, als die eigenen Eltern? Nichts dergleichen war ihr vergönnt.
Was sagte Rita noch gestern: »Du bist erwachsen und kannst deine eigenen Wege suchen. Wir haben keine Leibeigenschaft mehr.«
Tiombe lehnt sich zurück: Verlass dich drauf, so wahr ich Tiombe Randhal heiße!
Rita spürt Tiombes Abwesenheit. Noch hat der Dienst nicht begonnen und sie gönnt ihr die Besinnung auf den Tag. Des Nachts hat sie noch einmal über die Zeit mit ihr nachgedacht und sie ist sich sehr sicher. Sie mag das junge Ding und sie wird sich Mühe geben, ihr das Leben in der Fremde so angenehm wie möglich zu machen. Gleich heute, nach dem Recherchetermin, wird sie mit Tiombe diese Kirche besuchen, egal zu welcher Konfession sie gehört. Kirchen bekehren den Menschen zu mehr Menschlichkeit – ob für oder gegen den lieben Gott, das entscheiden allein die Bekehrten.
Nach dem Interview, das Tiombe ganz passabel gemeistert hat, laufen beide vom Marktplatz kommend dem hellen Turm der Kirche entgegen, der dem Schiff in brauner Backsteingotik reichlich Kontrast ist. Äußerlich schlicht und wenig grazil wirkt dieser Hallenbau. Vor dem großen Hauptportal auf übermannshohem Sockel steht das Denkmal. Erhaben - mit einem Buch in seiner Linken - in Bronze gegossen: Paul-Gerhard. Aus den geformten Klinkern, die den spätgotischen Spitzbogen des Hauptportals umkränzen, ragen sechs Köpfe erhabenen Sandsteins. Bekannte Kirchenmänner. Bach, Händel, Luther, Wichern, Melanchton.
Dazwischen die Zeile eines Liedtextes. Alles Ding währt seine Zeit, Gottes Lieb in Ewigkeit.
Die Frauen reden nicht mehr, weder über Himmel und die Welt, noch über Gott im Himmel, obschon jeder für sich das Gotteshaus demütig betritt.
In der kühlen Düsternis der Vorhalle überfällt Tiombe eine Art ungewohnter Ehrerbietung. Flüsternd nennt Rita ein paar Lieder, die Paul Gerhard geschrieben habe. Geh aus mein Herz … Fröhlich soll mein Herze springen. Ich bin ein Gast auf Erden.
Tiombe kennt nicht eines davon und sie ist auch nicht imstande, die Werke des Kirchenmannes oder sein Wirken zeitlich einzuordnen. Manchmal ärgert sie sich über ihr blasses Geschichtswissen, das sie nie im Leben kompensiert hat. Es gäbe zu viel nachzuholen. Wenngleich - vieles von dem, was sie lernen musste, wird in den Lehrstunden des Lebens kaum gebraucht. Religion gehört dazu und das kleine Latinum.
In Gedanken versunken atmet sie flach, den muffig trockenen Geruch von Holz und Weihrauch verdrängend. Auf leisen Sohlen schieben sich die Frauen im Laufgang vorwärts und Tiombe spürt eine Hand auf ihrer Schulter. Dieses Gefühl erhellt einen Herzschlag lang die Bedrückung, die sie umgibt, seit sie die düsteren Mauern betreten hat. Jetzt ist ihr, als ob sie jemand umarmt, der es gut mit ihr meint. Mama …? Oder ein Engel?
Es ist Rita. Sie schiebt ihr Gesicht nah an Tiombes Wange, und zieht mit den eigenen Blicken Tiombes Interesse in die Höhe, dem Kreuzgewölbe zu. Der weltliche Duft von Ritas Haut ist angenehm, aber irgendwie störte er diesen göttlichen Ort. Ohne ein Wort zu verlieren, bestaunen sie die Bleiglas-Scheiben in den Seitenschiffen. Bildnisse von Kirchenlieddichtern sind dort mit Liedversen versehen. Die Vormittagsonne trifft schräg auf die figuralen Motive, erhellt den Raum. Tiombe kann ihre Augen - mehr noch ihr Gefühl - nicht mehr abwenden, so schön und vollkommen erscheint alles im prächtigen Licht.
Nur das Licht wird immer schöner, je öfter es gebrochen wird.
Leicht betäubt wandert sie neben Rita einher bis zum Chorraum. Der Altar im prächtigen Kalkstein-Relief trägt Szenen aus Christi Leben. Rita flüstert, sie könne all das um sie herum nicht richtig deuten, deshalb rede sie nicht mehr. Alles Christliche sei daheim bei ihren Eltern kein Thema gewesen und wenn sie ehrlich mit sich sei, glaube auch sie noch immer wie ihr Vater: Wenn es einen Gott gäbe, würde der nicht zulassen, was auf der Welt geschieht.
Hoch über den Köpfen schwebt die reichlich verzierte Kanzel. So leicht löst Tiombe ihren Blick nicht wieder ab, zu fasziniert ist sie. Oder andächtig? Tastend schiebt Tiombe sich in eine der hölzernen Sitzreihen und legt ihre Hände auf das Bibelbrett, lehnt ihren Kopf so weit zurück, dass ihr Blick auf das Kreuzrippengewölbe fällt, das von mächtigen Säulen getragen wird. Ihr kommt ein Bild in ihren Sinn, das sie einmal woanders gesehen hat, ein Deckenfresko mit einer Wolke aus Engelsköpfen. Über allem schwebte der Erlöser, in wallende Gewänder gehüllt. Daneben öffnete sich der Himmel für den Blick auf Götter und Engel. Kleine Amoretten lümmelten am Rand einer blauweißen Wolke und Tiombe glaubte damals, es blinzelte ein Schelm zu ihr herunter. Heute – nach Ritas dringendem Rat - würde sie verstehen, was er von ihr erwartet hat: Versuche es endlich!
Ja, sie wird es versuchen. Bis jetzt hat sie so gelebt, wie man es von ihr erwartet hat. Wenn sie nicht ausbricht, wird sich nichts mehr ändern. Verstehen kann sie den Zustand ihres Gemüts an diesem Tag nicht.
Obwohl sie selbst nicht wirklich gläubig ist, hatte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit Schlösser und Kirchen zu bestaunen. Da gab es für ihren Vater kein Pardon.
Kaum merkt sie, dass Rita neben ihr flüstert, sie könne kein Verständnis für die materielle Notwendigkeit des Kirchenprunks aufbringen, aber wenn man sie als für Kunstwerke betrachte, brauche man kein materielles Verstehen. Tiombe nickt.
Tiefer Atem neben ihr lässt Rita aufblicken und sie sieht aus schrägem Blick, in welch ungewöhnlicher Andacht das Mädchen verharrt. Die Erhabenheit, die Tiombes ebenmäßigem Gesicht entspringt, ist nicht mehr da. Sie scheint selbstvergessen, der Welt entronnen, als öffne sie sich selig dem Heiland hoch über ihren Häuptern. Mit geschlossenen Augen sitzt sie in der Bank. Reglos. Ihre Züge sind entspannt.
Als Rita sich räkelt, knarrt das Holz der Bankreihe und das Bild vor ihr nimmt eine Wendung. Die Hingabe scheint zu täuschen. Verschämt suchen Tiombes Augen nach Rita, ihre Blicke treffen sich und verharren ungewöhnlich lange, ungewöhnlich forschend, bis das Mädchen seinen Kopf wieder zurücklehnt und die gefalteten Hände vom Gebetsbrett in seinen Schoß gleiten lässt.
Rita will jetzt nicht aufstehen. Sie würde Tiombes Andacht stören. Und weil sie es war, die die Idee mit der Kirche hatte, fügt sie sich und schließt ebenfalls die Augen. Von der Empore dringt ein scharrendes Geräusch herunter. Der Organist zieht die Register einer prächtigen Orgel, wie man ihresgleichen hier kaum findet. Eingepasst in das Kreuzrippengewölbe, das auf sechskantigen Strebepfeilern ruht, thront die gigantische Flötenfamilie in einer sich ruhenden Mächtigkeit auf der Empore. Der Organist lässt das tiefe, ziehende Pfeifen einer Fuge ertönen. Ein Übungsstück für den nächsten Gottesdienst. Der tausendfach gebrochene Widerhall betört selbst die Sinne einer Ungläubigen. Mehr noch. Ein Gefühl der Erbauung beherrscht jetzt auch Rita, bis Tiombe sich erhebt, sehr anmutig zur anderen Seite des Kirchenschiffes schreitet, um am Weltkugelleuchter eine Gedenk-Kerze anzuzünden. Ein letztes Mal schaut Rita zu den farbigen Fenstern zurück. Das Licht der Sonne hinter den bunten Scheiben nimmt immer kräftigere Töne an. Sie geht endlich und wartet draußen auf Tiombe.
Nicht lange.
»Verflucht. Ich bin tatsächlich nicht warm genug angezogen«, schimpft Tiombe und es hörte sich gar nicht mehr andächtig an. Sie tritt von einem Bein auf das andere, reibt ihre Hände und knetet die Arme bis zu den Ellenbogen. Ein Laut, wie ein kleiner Schrei. Doch sie erklärt ihn nicht, lächelt nur süß: »Die Sonne tut gut.«
Es ist Rita, als wolle Tiombe einen Schmerz nicht zugeben. Aber sie will sich nicht wundern. Tiombes rasante Art, von einem Zustand in einen anderen zu schlüpfen, wird ihr noch oft begegnen. Die Worte des Westfalen sollten wohl Warnung sein. Wenn Tiombe Vertrauen hätte, würde sie ihren Schmerz erklären.
Rita breitet die Arme aus, als wolle sie Tiombe umfassen und aufwärmen. Sie nimmt sie blitzschnell wieder zurück, weil Tiombe in kratzigem Ton fragt:
»Hat es dir gefallen in der Kirche?«
Was soll sie sagen? Von Andacht und Verehrung würde sie niemals sprechen können, nicht so jedenfalls, wie Tiombe es versteht.
»Wenn man bedenkt, dass sie von Menschen geschaffen wurde, kann man diese Art Kunst nicht hoch genug verehren. Sie bekehrt die Menschen auf ihre Weise, was man von der modernen Kunst weniger sagen kann.«
»Du meinst doch nicht, sie bekehrt dich?« prustet Tiombe, während sie den Weg um das alte Gemäuer laufen, dem Parkplatz entgegen.
»Natürlich meine ich mich. Kirchen öffnen ihre Tore doch nicht nur für die Gläubigen.«
»Was bewegt dich wirklich in einer Kirche?«
Das muss sie keinem sagen, auch Tiombe nicht. Sie lässt sich ihre Verwunderung nicht anmerken und wie stets zwingt sie sich zur Sachlichkeit.
»Tiefer Dank an die Schöpfer.« Obwohl sie das die so deutlich betont, bleibt
Tiombe stehen. Ihre schönen dunklen Augen verengen sich zu winzigen Schlitzen und die Lippen werden schmal, aber es löst sich ein Satz von den weichen Lippen: »Du Ungläubige. Damit scherzt man nicht.«
Sie steigen in Ritas Auto.
»Ich scherze nicht. Ich danke den Schöpfern dieser Kunstwerke, nicht dem allmächtigen Vater«, sagt sie ohne Schärfe. Später sieht sie ihren Fehler ein: »Ich tadele keinen Menschen, nur weil er an etwas glaubt. Die einen glauben an den Herrgott im Himmel, die anderen an den Menschen im Menschen. Entscheidend ist, wie eine Vision den Menschen prägt. Nur eines verzeihe ich der Kirche nicht. Das Versprechen auf ein besseres Leben nach dem Tod? Eine Wiedergeburt? Was soll ein materialistisch aufgeklärter Mensch davon halten?«
Freilich hätte Rita ihre Meinung klarer sagen können. Aber ist es immer angebracht? Bei dem Westfalen war sie mit ihrer objektiven Betrachtung schließlich in Ungnade gefallen:
Wer den Ostdeutschen das Recht abspricht, ihre Vision von der Gleichheit der Menschen zu verteidigen, der müsste den Christen den Gang zur Kirche mit gleicher Häme zollen. Die Kirche hat einst die Inquisition hervorgebracht. Verleugnen Christen deshalb ihren Glauben? Hier wie dort waren es Dilettanten, die eine Philosophie mit falschen Mitteln vertraten.
Tiombe ist die ganze Zeit still. In ihrem Kopf rotiert etwas, was sie nicht zu Ende denken kann. Jetzt räkelt sie sich und scheint endlich befreit vom Eindruck der Andacht zu sein. Beinahe euphorisch klingen ihre Worte:
»Wiedergeburt! Das wäre toll. Ob man sich aussuchen könnte, wer man im nächsten Leben sein möchte? Vielleicht hat Paul Gerhardt ja das mit seinem Lied gemeint: Ich bin ein Gast auf Erden.«
Tiombe lächelt, dass ihre Augen blitzen, dass ihr schöner Mund die perlweißen Zähne entblößt, was ihre kupferne Haut noch kupferner macht.
»Ich sagte es doch«, Ritas Schalk blitzt zu ihr herüber, »an dir ist ein Komödiant verlorengegangen.«
Der Motor springt an und Rita weiß, ab jetzt werden sie anders miteinander umgehen. Tiombe ist witzig und klug. Wer hat ihren Witz bloß in Ketten gelegt?