Читать книгу Zwei Seelen der Tiombe van R. - Maxi Hill - Страница 8
Heimisch?
ОглавлениеBei dem Interview der jungen Frau, die trotz besseren Verdienstes von Stuttgart zurück in den Spreewald gekommen war, weil sie Heimweh hatte nach der Vertrautheit, nach dem ganz normalem Leben und nach wirklichen Freunden, konnte Rita Tiombes Ungeschicktheit noch abfedern. Nichts als Unkenntnis. Aber welche? Die über das einfachen Leben oder die über wahre Freunde? Das hat sie genau gespürt, irgendwo dazwischen liegt bei Tiombe das Defizit. Vielleicht nur Unverständnis für Probleme, die für Tiombe keine sind?
Ihr Eingreifen in die Fragetaktik hat bei der jungen Frau nicht den Anschein einer Korrektur erweckt. Später bei Tiombes Artikel wollte Rita gar nicht erst in Versuchung kommen, ihm ihren Stempel aufzudrücken. Nun ist er aber geschrieben und Rita kann nicht zufrieden sein. Zum ersten Mal seit Jahren kommt ihr der erste Redaktionsleiter ihres Lebens in den Sinn, Nils Hegau, und wie der ihre Artikel stets bis zur Unkenntlichkeit redigiert und drastisch gekürzt hat. Ihm hatte sie damals unterstellt, er wolle sie nur klein halten und unbedeutend. Irgendwie spürt sie, Tiombe könne ebensolchen Blödsinn denken. Warum sollte sie Tiombe klein und unbedeutend halten wollen. Vor wem?
Erst sprechen sie über die zu ungenaue Überschrift und den Vorspann, der kaum Lust zum Weiterlesen macht.
»Was, wann wo, wer, warum«, wiederholt Rita geduldig. »Das Wer kannst du dann an den Anfang rücken, wenn der Mensch deiner Reportage weithin bekannt ist.«
»Die Reihenfolge spielt doch wohl keine Rolle«, wehrt sich Tiombe.
»Nein?« Rita zwingt sich ein Lächeln ab. »Ist es für dich etwa unwichtig, ob «Geld ohne Ende» oder «am Ende ohne Geld»?«
Heute gleicht Ritas Geduld mit Tiombe einem Ritt durch die Galaxie. Ein solcher allerdings währe erfrischender. Es ist eine Tortur, die Logik und die Kürze in einen Guss zu bringen. Im Moment lässt Rita die Auswahl des Bildes noch völlig außer Acht.
Inzwischen sprechen sie über einzelne Sätze, und Tiombe stöhnt bei jeder Erklärung, obwohl die das Grundprinzip vom ersten Tage an bis zum Erbrechen durchgekaut haben.
»Ein guter Artikel soll das Thema erschöpfen, nicht den Leser. Was heißt das?
Ein Höchstmaß an Informationen mit einem Mindestmaß an Wörtern.«
Aus dem wundervollen Gesicht spricht nichts als Skepsis und der Wunsch, Rita möge um Gottes Willen nur bald still sein und ihrer Hausarbeit nachgehen.
Es ist nicht zu übersehen, Tiombe leidet an sich selbst und an dem Gefühl, nicht genug Beachtung zu finden. In diesem Trotz erkennt Rita sie kaum wieder. Sie nimmt bei jedem Hinweis ein bisschen mehr von einem fremden Wesen an, das in sie schlüpft, sobald sie nicht gelobt wird. Dieses Fremde stört ihren Geist, ihren Körper, ja sogar ihre Sprache. Ein kleiner Zorn verfinstert das Gesicht, das nichts als die eigene Ohnmacht spiegelt. Tiombes sichtbare Wandlung ärgert Rita und fasziniert sie zugleich. Sie wird dennoch nicht zulassen, dass ihr Schützling eine Arbeit abliefert, die der Westfale in Grund und Boden schmettern könnte, wenn er wollte.
Wie konnte sie vermuten, dass ein so junger Mensch sich so rasant ändern kann; dass nach dem amüsanten Geplauder des Tages, schon am Abend ein so übler Zug ihren Blick trübt. Wo ist der Engel geblieben, der in stiller Andacht und Güte in der Kirche eine Kerze anzündete. Wo ist die in sich gekehrte Seele, die duldsam einem Menschen zuhörte, die nun unduldsam an dessen Geschichte arbeitet.
Rita ist ebenso erschöpft wie Tiombe:
»Mehr Zeit hab ich jetzt nicht«, Rita hält mit Mühe den Ton zurück, der der Sache angemessen wäre. »Ändere das wie besprochen und dann komm nach unten, wir feiern heute ein wenig. Zwei Freunde kommen zu Besuch und das Wetter ist noch so schön, vielleicht können wir sogar auf der Terrasse sitzen.«
Tiombe lehnt sich zurück, als wolle sie sagen: du kannst mich mal. Stattdessen sagt sie in merkwürdigen Ton:
»Ich glaube, ich hätte dir doch mehr von mir erzählen sollen.«
Die gelangweilt gesprochenen Worte passen nicht zu dem lauernden Blick. Zugleich hält sie es nicht für nötig, Rita auch nur einen Deut ihrer Andeutung zu verraten. Kann es sein, sie glaubt, wenn man mehr von ihr wüsste, würde man sich diese Konsequenz nicht trauen? Es hilft nichts. Auch Tiombe hängt im dichten Netz fremder Spielregeln. Die Branche duldet keine Nachlässigkeit.
Das Essen nehmen sie gemeinsam noch drinnen ein. Tiombe erscheint mit strahlendem Gesicht, heller Leinenhose und einem dezent gemusterten Kasak, langärmelig, so wie sich Tiombe stets kleidet.
Vielleicht, denkt Rita, ist sie aus einem Kulturkreis, wo das Entblößen der Arme als unschicklich gilt?
Sehr artig begrüßt das Mädchen erst Susan und dann Susans Freund Alexander. Deren Besuch hat Rita angekündigt. Susans Augen sind sofort geblendet vom Antlitz der dunklen Schönheit. Alexander scheint ungerührt. Anders als Jens, der ihr anerkennend zuzwinkert und dabei ebenso strahlt wie Tiombe selbst. Dass der Besuch des Abends die beiden sind, über die Rita das Buch «2 Leben der Susan H.» geschrieben hat, freut Tiombe offenbar. Sie war begeistert von der Geschichte, und sichtlich gerührt.
Bevor sie sich zu Tisch setzen sagt Rita ganz leise:
»Es ist warm hier drinnen, und auf Etikette musst du nicht achten. Du darfst ruhig ein kurzes T-Shirt tragen.«
Tiombe lächelt süß, befreit sich aber keineswegs vom duftigen Stoff, der viele Nuancen ihrer braunen Haut in sich vermischt. Erst als sie gewiss ist, dass ihr alle zuhören, flüstert sie, als sage sie es nur zu Rita:
»Ich dachte immer, du weißt so viel. Für Menschen dunkler Hautfarbe ist jeder sichtbare Zentimeter Haut ein Stück Minderwertigkeit.«
Ein Stechen durchzieht Ritas Schädel. Wieder einmal zermartert sie sich ihr Hirn, warum sie so wenig sensibel ist. Und dann fällt er ihr ein, Tiombes Satz vom Bastard, den sie nicht hartnäckig genug hinterfragt hat.
Von diesem Augenblick an, wo man reihum die Schönheit zu loben beginnt, die hierzulande als rassig gilt, erblüht Tiombes Anmut und Eleganz, und sie wird sehr schnell zum Mittelpunkt des Abends.
Eifersüchtig verfolgt Rita jedes Lächeln, das dem jungen Mund entflieht. Jeder Blick von Jens ist wie ein scharfer Schnitt, und seine Bereitschaft auf Tiombe einzugehen, ist der schmerzende Dorn im Fleisch ihrer Liebe. Wenn sie bedenkt, wie die Begrüßung am Abend verlaufen ist, kommt sie sich hausbacken vor und überflüssig. Tiombe hat die Gäste herzlich begrüßt, keine Frage, nur ihre Umarmung von Jens dauerte für Ritas Geschmack eine Ewigkeit.
»Lasst uns noch ein Weilchen nach draußen gehen«, bittet Rita, »so lange uns die lästigen Mücken noch in Ruhe lassen.«
Für Tiombe sind Mücken ein Graus, das hat sie selbst gesagt, und vielleicht, so hofft Rita, verzichtet sie ab jetzt auf ihr Theater und bleibt der Gesellschaft fern. Ein wenig unschlüssig steht sie auch da, doch dann geht sie nach oben, ohne sich von irgendjemand zu verabschieden.
Als sie wieder erscheint – in hautengen schwarzen Seidenhosen und einem knallengen Shirt, trägt sie ein Tuch über die Schulter geschlungen, wie Rita es von ihr noch nicht kennt. Sie trägt es mit sehr viel Anmut, mit Würde beinahe, und mit noch mehr Stolz. Den Charme ihres vollkommenen Körpers verbirgt das Tuch nicht. Es umhüllt ihn nur spannend, wie das Papier eines edlen Geschenks. Jetzt trägt sie silberne Ohrringe mit einer winzigen weißen Perle verziert, die ihrer dunklen Haut fantastisch stehen. Rita ist wie gelähmt, während Jens mit leichter Zunge zu plaudern beginnt, als habe er nicht das geringste Gespür für so viel Schönheit so dicht an seiner Seite. Tiombe rückt ganz dich an Jens heran, so dicht, dass noch Rita an seiner Seite ihren Duft aufsaugt.
Wenn sie mit Jens spricht, muss er sie ansehen, wegdrehen wäre unhöflich.
Und er will sie ansehen, er ist ein Mann und er scheint gelähmt zu sein von dem Bild, das er sieht. Was Tiombe will, ist Rita klar, nur weiß sie nicht, ob Jens es ebenso klar ist. Er fühlt sich geschmeichelt und ist unfähig, das Kribbeln als Schwäche zu begreifen.
»Ich meine, wir sollten einmal auf eure Liebe anstoßen«, sagt Rita zu Susan und Alexander; sehr laut, sehr bestimmend. »Passt nur auf, dass sie nicht an Unsinnigkeiten zerbricht.«
»Wir passen schon auf. Noch ist bei uns nichts zur Gewohnheit geworden«, lächelt Susan, während Alexander sein Glas gerade an Jens’ Glas klirren lässt, meint er wie nebenbei zu Rita:
»Wenn Du nicht gewesen wärst, wer weiß, wo wir jetzt wären.«
Tiombes Augen verengen sich, um sofort an Weite zu gewinnen.
»Ach! Hat sie Euch auch … ich meine … hat sie Sie auch von den süßen Abwegen geholt?«
»Nein, süß waren sie nicht. Abwege waren es schon«, erwidert Susan. Und dann geschieht etwas, was keiner gewollt hat. Es sollte ein entspannter Abend werden, doch Susan erzählt von ihrer Zeit im Koma und wie sie ihre Wiedergeburt erlebt hat.
»Wiedergeburt«, lächelt Tiombe, und es sieht aus, als belustige sie die Sichtweise.
»Es war wohl so, in doppelter Hinsicht. Ich war nicht nur lange Zeit im Schwebezustand zwischen Leben und Tod. Mit dem Erwachen ist ein Bewusstsein in mich gekommen, das ich nie kannte.«
Das Knistern der Rattanmöbel ist verstummt und Rita bemerkt kleine Pusteln auf Tiombes Wangen. Ungewöhnlich lauscht sie auf jedes Wort, mit dem Susan ihre heikle Lage beschreibt.
»Es musste da einen Schalter gegeben haben, der umgelegt wird, wenn dein Bewusstsein andere Wege geht. Nicht nur die Regionen des Körpers, auch die Quellen deiner Wünsche, deiner Vorstellungen, deiner Bewertungen lagen im Eis des Lebens. Erst mit der Angst zu sterben, weil keiner mein Wachsein erkannte, sind mir die Fehlstände meines Wesens bewusst geworden.«
»Fehlstände?«, wirft Tiombe ein, doch es hört sich nicht mehr so beklommen an. Interessiert. Fasziniert.
Susan macht eine Bewegung, als gebe sie innerlich nach, als wolle sie nicht antworten, aber könne nicht kneifen. Früher hätte sie gekniffen, das weiß Rita.
»Ich war viele Jahre zu selbstverliebt, um zu erkennen, wer ein guter und wer ein weniger guter Mensch ist. Alles, was besser war als ich, habe ich für unwichtig erklärt und es selbst auch geglaubt. Rita inbegriffen. Aber wenn du auf dem Sterbebett liegst und den letzten Segen erwartest, siehst du dich plötzlich selbst in dem Licht, das du bis dahin geworfen hast. Ich denke, so geht es auch denen, die an Reinkarnation glauben. Sie wollen nicht mehr sie selbst sein …«
Rita denkt an die Zeit von Susans Schwebezustand zwischen Leben und Tod. Sie selbst hat gekämpft, ohne zu wissen, ob für Susan, ob gegen Mark, oder ob ihr nur das nächste Buch so sehr am Herzen lag, dass sie für eine ungewisse Zeit ihr eigenes Leben völlig auf den Kopf gestellt hat.
Warum verliert sie sich bisweilen in einer Aufgabe - wie jetzt mit Tiombe …?
Wie lange war sie jetzt unaufmerksam? Sie hört das Knistern des Korbgeflechts, das letzte Klingen der fast leeren Gläser und die Stimme von Susan, die sagt: »Es war wie immer sehr schön bei euch.«
Der nächste Morgen in seinen Abläufen gehört nicht zu ihren stillen Übereinkünften, die es seit Langem zwischen Rita und Jens gibt. Dieser Morgen ist sein Ritual. Nach einer Liebesnacht - und wenn sie es will, dann ist Jens nur allzu gerne bereit, bis an seine Grenzen zu gehen - steht er als erster auf. Besonders frohen Mutes versorgt er zuerst den Kleinen, kocht dann Kaffee und holt die Brötchentüte vom Zaun, die inzwischen ein junger Mann aus dem Dorf vom Bäcker aus dem Nachbarort holt – jeden Morgen frisch aus dem Ofen. Das war früher der Service, den Jens für die Alten im Dorf ins Leben gerufen hat, weil die meisten nicht so mobil waren, um sich im Supermarkt der Stadt versorgen zu können. Inzwischen bevorzugen viele junge und hinzugezogene Alt Zechauer nicht nur den bequemen Griff zur Tüte an der Gartenpforte, es ist vor allem die gute Qualität nach altem Rezept, der Duft nach Hefe und Milch. Sogar Tiombe will nur diese Brötchen, sogar jetzt noch, seit sie weiß, dass das Rezept aus dem alten Regime herübergerettet worden ist. Für das, was sie den Osten nennt, kennt sie nichts als Negativworte: Unrechtsstaat. Blinder Gehorsam. Stasi. Parteihörigkeit. Duckmäuserei. Diktatur übelster Sorte.
Worte wie: Arbeit für jeden, kostenlose Arztbesuche, erschwingliche Kultur, die kennt sie nicht. Nicht einmal das gelebte Ritual, gleich zu sein und zusammen zu gehören, das allgegenwärtig war, bedeutet ihr etwas.
Bei Jens und Rita auf dem Körberhof gibt es eigene, von allen Zeiten ledige Rituale, die sie lieben und die sie pflegen, auch wenn sie nicht darüber reden. Es sind die kleinen Momente des Glücks, die sie sich gegenseitig bescheren, an denen jeder für sich mit anderer Intensität hängt.
Rita steigt die Treppe hinauf und schaut durch den offenen Spalt in Tiombes Zimmer. Sie schläft noch und atmet ruhig wie ein Kind. Einen viel zu langen Moment steht sie nur da, schaut auf das schlafende Wesen und es ist ihr, als müsse sie über die samtene Wange streichen.
Ein nackter Arm ragt unter der Decke hervor und hängt schlaff vom Bettrand herunter. Sie will ihn behutsam nehmen und zurück unter die Decke schieben, als sie erschrickt und einen hastigen Schritt zurück geht, weg von diesem Bett, raus aus dem Zimmer, die Treppe hinunter.
Zu Jens sagt sie, sie wolle Tiombe noch schlafen lassen. Wer weiß, wann sie endlich das Licht ausgemacht habe. Von den Verletzungen am Arm sagt sie nichts. Darüber muss sie selbst erst einen klaren Gedanken fassen.
Mit jedem Tag, mit dem es gelungen war, Tiombes Lust am Beruft zu nähren, ihr Können zu feilen, ihre Taktik zu schleifen, wuchs das gute Gefühl für das Mädchen. Die wenigen Momente von ausgeprägter Selbstliebe schob sie hinweg. Vom ersten Moment an wollte sie ihr helfen, wo immer sie Hilfe brauchte. Diese Hilfe aber, die Tiombe scheinbar braucht, gilt für Rita seit diesem Morgen als die schwerste überhaupt. Es ist nicht schwer, die Verletzung an Tiombes Arm zu deuten.