Читать книгу Zwei Seelen der Tiombe van R. - Maxi Hill - Страница 9
Tee-ohm-bay
ОглавлениеEs ist Sonntag. Tiombe läuft unschlüssig von oben nach unten und zurück. Sie streicht durch die Räume, die verwaist und unverschlossen sind. An die offenen Türen im Haus ist sie gewöhnt. Gewisse Laute bei Nacht aber verwundern sie.
Letzte Woche, als die Freunde gegangen waren, war es ihr vorgekommen, als galten diese Töne nur ihren Ohren im oberen Stockwerk.
Ach, hätte sie jetzt wenigstens diesen netten Abend mit den fremden Freunden. Sie weiß nicht, ob sie Susan und Alexander nett findet. Zumindest waren sie nicht skeptisch und nicht neugierig, wie man gewöhnlich ist, wenn man ihr zum ersten Mal begegnet.
Noch nie zuvor haben Rita und Jens sie im Haus allein gelassen. Sie sind bei Ritas Eltern eingeladen und werden erst sehr spät zurück sein. Vielleicht Timi zuliebe sogar dort übernachten.
An diesem vielleicht scheiterte die Entscheidung, ob sie einfach so mitfahren sollte.
Berauschend ist es nicht, an einem Samstagabend allein in diesem grottenlangweiligem Nest zu hocken, Haus und Hof zu hüten und nichts als den Fernseher anzustarren. Vielleicht wäre sie doch bei Marquardt und seiner nervigen Frau besser aufgehoben gewesen. In der Stadt gibt es Diskotheken. Sie könnte auf eine Party oder einen Dance-Club gehen.
Fehlanzeige. Hier in dieser Einöde hat sie nichts davon, nicht einmal Freunde. Hat sie in Frankfurt Freunde? Sind es auch dort nicht pure Zweckgemeinschaften, denen sie angehört, weil sie alle denselben familiären Hintergrund haben?
Sie hockt tatenlos im Wohnzimmer auf der Couch. Abgeschoben. Unbeachtet.
Im Grunde wusste sie vorher, dieses Samstagsprogramm ist nichts für sie. Sie würde längst abschalten, wäre nicht dieser Thrill, dieses brennende Verlangen tief in ihr.
Tiombe die Glänzende, die Strahlende, so heißt sie in der Sprache ihrer Vorfahren mütterlicherseits. Keiner spricht ihren Namen korrekt, so wie Mutter ihn gesprochen hat - tee-ohm-bay.
Rita sagte einmal, genau so strahlend wie ihr Name sei ihr Wesen bisweilen. Aber eben nur bisweilen.
Was weiß Rita schon von ihr? Zuweilen lässt Ritas Anerkennung hoffen, auch wenn sie ungemein nüchtern ihre Schwächen analysiert. Wenn sie ihr beibringt, worin sie noch besser werden muss, ist es ihr, als spricht eine Mutter zu ihr. Rita ist jünger als ihre Mutter, aber sie hat ihre Vorzüge. Ihr Geschäft versteht sie, und sie kann überzeugen, wie sie seit Langem kein Mensch überzeugt hat. Bei Rita fühlt sie sich gleichwertig, sicher und wichtig. Sie lehrt sie, Macht über den eigenen Schweinehund zu bekommen, sich aber nie über andere zu erheben. Weil alles so gut funktioniert, glaubte sie, Gewohnheit mache alles leichter. Doch es wird nicht leichter, nicht, wenn sie sich so schmählich abgeschoben fühlt.
Tiombe krümmt ihren Leib. Der Schmerz ist nicht greifbar. Sie sinkt von der Couch auf das Parkett. So nah an den bloßen Dielen spürt sie hautnah eine Demütigung. Es war ihr Vater, das darf sie nie vergessen.
Jeder Gedanke daran weckt das Gefühl, auch von Rita und Jens abgeschoben zu sein. Unbändige Wut kocht in ihren Adern und sie schreit laut durch das fremde Haus:
»Da hätte ich auch in Frankfurt bleiben können!«
Sie kriecht auf Knien vorwärts, um sich eines der aufgestellten Kissen zu angeln, in das sie ihr Gesicht presst, die Laute, die kein Ende nehmen.
Irgendwann schnappt sie nach Luft und wirft das Kissen von sich. Sie setzt sich aufrecht und lehnt den Kopf an die Couch. Im Fernsehen läuft eine Show mit irgendwelchen Kandidaten, die sich vor aller Welt lächerlich machen. Sie drückt auf Aus und weiß, so, wie sie jetzt hier hockt, ist sie selbst nichts als lächerlich.
Ringsum herrscht tiefe Stille. Der Wunsch nach Mäßigung kommt einen kurzen Moment über sie. Nicht lange. Um diese Zeit greift der Thrill. Die Glieder sind starr, der Kopf mit Belanglosem voll. Nur das Lachen klingt in ihrer Erinnerung nach. Das Lachen von Rita und Jens.
Die kupferne Haut wird fahl, winzige Pusteln kräuseln sich zu Sandpapier. Sie streckt den Kopf in die Höhe. Es ist kein Zweifel dabei, keine Erklärung, keine Ausflüchte. In ihrem Hirn kratzt sie alles zusammen, was ihr wert ist. Es ist nicht viel. Nur ein Wunsch sticht heraus: Sich selbst zu spüren.
Wie ferngesteuert geht sie die Treppe nach oben und setzt sich auf das Lammfell vor dem Ledersessel mitten im Gästezimmer. Nur ein Moment, dann ist es so weit. In sich gesunken, hilflos wie ein Kind, läuft in ihrem viel zu schweren Kopf ein Film ab, wie es war und wie es hätte sein können?
Was ist Glück? Was ihr verdammtes Leben? Ein Leben, wo die Lüge süß und die Wahrheit bitter ist. Sie schmeckt die Angst, die Wut und den Selbsthass auf ihren Lippen. Wenn sie keiner liebt, was soll sie auf dieser Welt …
Der Höhenflug kommt unweigerlich. Und der Zwang.
Diese lähmende Furcht ist ein Teufelskreis, aus dem sie alleine nicht herausfindet. Wieder einmal. Sie fasst sich an die Brust, doch nicht ihr Herz schmerzt so grausam, ihre Seele brennt. Sie stiert gegen die Wand, die sich scheinbar hebt wie ein Nebel. Sie sieht eine Villa am Main. Und wie sie am Fenster steht, sehnsüchtig wartet, bis Mama zurückkommt. Ihretwegen. Wenigstens ihretwegen ...
Im Moment tiefer Zerstörung glaubt sie gläserne Mauern um sich herum und fürchtet, man könnte sie sehen, wie sie so dasitzt und heulend mit den Fäusten auf den Boden schlägt. Sie reißt das Plaid aus dem Sessel und wirft es gegen den Schrank, dahin zu gehen, zögert sie noch.
Die Schmerzen in ihrer Seele sind stark, stärker als alle Manöver sein können, die sie mal besser und mal schlechter von der Qual ablenken. Zitternd rutscht sie auf Knien voran und nimmt das fest verschnürte Kästchen heraus, das alles enthält, was sie jetzt braucht. Ihr Griff droht das feine Metall zu zerbrechen, doch Tiombe setzt die Klinge, als sei es das Normalste der Welt. Als der Schmerz ihre Sinne erreicht, gewinnt er die Oberhand über ihr inneres Chaos und bringt endlich Erleichterung. Blut tropft über die Hand zum Boden, warm und rot. Mit jedem Milliliter ihres Lebenssaftes, der in einem Tuch versickert, fühlt sie sich leichter. Erschöpft lehnt sie ihren Rücken an den Schrank.
Für kurze Zeit ist das Glücksgefühl unermesslich. Sie kennt es sehr genau. Sie hat darauf gewartet. Sie tut es oft, weil sie glaubt, nichts, was einen am Leben hält, kann krank sein. Die Augen werden hell. Freude über das, was sie sonst nicht tun kann, zieht die Besinnung nach sich: Später, wenn es vorbei ist, wird nichts als Traurigkeit sein und Sehnsucht.
Als die Energie in ihre Glieder zurückkehrt, macht sie der Ohnmacht Platz und der Wut, nichts im Leben halten zu können. Jetzt erst spürt sie die brennende Wunde an ihrem Arm wie wild pochen. Dieser Schmerz ist störend, nichts weiter.
An der Wand hängt ein Bild vom Körberhof mit einer glücklichen Familie zwischen blühenden Dahlien. Ein Bild des Glücks. Es reizt sie, dieses Bild zu beschmutzen. Warum soll sie allein voll Schmutz sein?
Tiombe erhebt sich. Das Bild bleibt unbefleckt. Im kleinen Badezimmer, das sie gottlob für sich alleine hat, ist der Verband Routine. Ihr Blick in den Spiegel lodert fremd, doch sie lacht gegen die Einsamkeit der alten Wände. Sie ist klug genug zu wissen, was sie von ihrem Ausbruch zu halten hat. Die Schuld an der Misere dieses Lebens zu erkennen, bedarf keiner Klugheit, doch die Kunst der Demaskierung beherrscht sie nicht. Nicht vor sich und nicht vor anderen.
Wann hat das angefangen? Wann gab sie diesem Zwang zum ersten Mal nach? Irgendwann ist immer das erste Mal. Sie erinnert sich noch genau an ihr Entsetzen, als sie das Ausmaß der Selbstverstümmelung nüchtern betrachtete. Schon beim zweiten Mal verlief alles nach Plan. Es ist so einfach, die Klinge zu führen. Es ist so schön, den Stolz zu empfinden, soviel Schmerz ertragen zu können, soviel Befriedigung zu erfahren, wenn das Blut fließt, warm und rot. Wenn nur die Freude nicht so schnell versiegen würde.
Das ewige Gefühl ist wieder da. All jene Menschen, denen sie verbunden sein will, lösen sich von ihr. Auch heute. Und sie sind ihr dennoch so nah, jeden Tag. Jeden verdammten Tag. Sie kann es nicht ertragen, ungeliebt zu sein. Wirre Ängste würgen ihren Stolz, zu dem sie nur zögernd zurückfinden wird.
Trotz der Schmerzen, die ihr massakrierter Arm noch bereitete, lächelte sie, als sie am Morgen die Küche betritt. Rita und Jens sitzen am Tisch. Sie sieht nicht leidend aus, das weiß sie. Sie ahnt nur, dieser Tag mit Rita würde wieder anstrengend werden. Anstrengung kann sie heute absolut nicht gebrauchen. Sie will sich etwas Muße gönnen, einfach genießen, jetzt, da der Thrill wieder Ruhe gibt.
Die frühen Sonnenstrahlen streichen über die Mauer des Innenhofes. Das Putzwerk wird spärlich von Ranken wilden Weines umwuchert. Zwischen den Scheiben der Küchenfenster spiegelte sich ihr Abbild, fad und verschwommen. Und doppelt. Dieses Januswesen kann sie nicht sehen, weil sie so nicht sein will.
Panik treibt sie zurück nach oben. Ihre Hände sind schuld. Sie konnten nicht ablassen vom Drang, es zu tun. So wie der Schaum mit dem Wasser durch den Abfluss rinnt, fließt die Idee in ihren Kopf zurück. Diese Idee reizt sie schon lange. Sie glaubt zu spüren, dass ihre Zeit vor einer Veränderung steht.
Wieder am Tisch bemerkt Tiombe die lauernden Blicke und sie versucht sich zu sammeln, auch wenn die Idee noch wie ein Feuer auf ihrer Seele brennt.
Die Blicke der beiden sind ahnend. Rückwärtsgerichtet – nicht voraus.
Sie ist nicht krank, nur trotzig, weil sie allein war, das war bedrückend genug.
Der Kaffee schmeckte heute herber als gewöhnlich und elektrisiert die Geschmacksnerven, das Indiz, dass sie fühlt, so, wie sie noch lieben kann und noch hassen. Oh ja, sie kann hassen.
In diesem Moment weiß sie nur nicht, was und wen sie am meisten hasst.