Читать книгу Zwei Leben der Susan H. - Maxi Hill - Страница 4
KOMA
ОглавлениеEin Hauch von weißer Seide umspielt ihren Körper, fließt durch den Raum, wallt und schwebt und steigt und fällt ... Nimmt ihr die Sicht ... Entblößt ihre Schönheit ... Sie fliegt und träumt und träumt dass sie fliegt … und spürt erst jetzt: Es ist Nebel ...
Wo ist sie? Wer ist sie? Sie ist es. Namenlos, aber sie ist …
Im Dunst des Tages das seltsame Bett. Ein böser Geist sticht spitz auf sie ein. Er reißt und zerrt und will ihr ans Leben. Sie wehrt sich, will sich erheben. Keinen Zentimeter. Ihre Hände sind gebunden. Sie schreit, doch niemand kommt zur Hilfe.
Der Widerhall ihrer Rufe dringt durch einen dicken Wattebausch. Die Angst lässt sie wahnsinnig werden, aber für Wahnsinn ist sie zu müde … zu müde … zu müde.
Ihr Körper tut weh. Der Rücken ist heiß und brennt.
Sie ist auf der Reise durch Traum und Wachen in einer Welt zwischen Leben und Tod.
Ein Schreck durchfährt sie. Der Schwarze Mann aus ihrer Kinderzeit geistert durch den Nebel. Sie kann vor Angst kaum atmen, spürt etwas Festes in ihrem Hals, auf ihrem Leib. Es drückt sie auf das Laken.
Doch dann: Ein zarter Duft. Sie atmet auf. Es ist nicht der schwarze Mann. Es sind nicht die bösen Geister. Sie kann nichts erkennen, aber sie kennt diesen Duft. Gott sei Dank …Es wird Hilfe geben.
Ihr Herz klopft lauter, sie atmet schneller. Als ihre Kraft schwindet, lässt sie sich fallen und schwebt in wallendem Nebel dem hellen Licht entgegen …
Die Journalistin Rita Georgi empfindet ihr Defizit an Klarheit beschämend. Die Situation von Susan Hellmann nennt man Wachkoma. Sie muss mehr darüber erfahren. Ganz allgemein. Aber vielleicht auch für sich selbst.
Seit der Sache um Susan weiß Rita mehr denn je, der Sinn des Lebens steckt in den kleinen Dingen. Etwas zu schmecken, zu riechen, einen geliebten Menschen zu berühren. Schöne Musik zu hören, ein gutes Buch zu lesen. Mit Freunden einen guten Tropfen trinken. Das alles kann Susan nicht. Vielleicht nie mehr. Also ist der Sinn des Lebens für Susan Hellmann vorbei?
Der Klinik-Lift setzt härter auf als normal. In der Vorhalle riecht es nach Desinfektion und Medikamenten, nach Mullbinden und langsam verwesenden Blumen. Sie kennt die Berichte über komatöse Menschen aus Zeitungen und Fernsehen. Alle waren sie bitter. Aber das hier, das kriecht quälend durch alle Poren bis in jede Faser ihres Körpers.
Susan liegt an Schläuche gekettet in einem sonderbaren Bett. Ein Sondomat pumpt rhythmisch die Nährlösung durch einen der Schläuche in den Magen. Ihr Blick ist starr zur Decke gerichtet. Die krampfhaft nach innen verdrehten Hände, die eingewinkelten Arme, das alles sieht nach unsäglichen Schmerzen aus. Was da in den Kissen liegt ist alles andere als Susan Hellmann. Alles andere als lieblich. Ihr Haar verschwitzt. Ihre Haut gläsern, durchscheinend. Das Fleisch aufgedunsen. Die Züge im jungen Gesicht zur Fratze verzerrt.
Für einen Moment ist sie fassungslos. Es fühlt sich an, als sickern ihre Gedanken nur träge durch eine zähe Masse …
Je länger sie untätig dasteht, spürt sie tiefes Bedauern um all das, was sie über Susan nicht weiß. Hat sie einmal mit ihr über die Dinge des Lebens geredet? Was weiß sie von diesem Etwas, das da zwischen den Kissen liegt, mit Schläuchen verklebt, das nicht lebt und nicht tot ist, das nicht schläft und doch nicht wach ist.
»Infauste Prognose …«, bricht Rita das Schweigen im Raum und wendet sich der pflegenden Schwester zu, »was bedeutet das?«
Die Frau unterbricht ihr Handgriffe nicht, redet gedämpft mit Rita.
»Die Prognose von Wachkomapatienten ist denkbar schlecht. Wenn die Sauerstoffversorgung im Gehirn unterbrochen war …?« Sie dreht ihr Gesicht von Susan weg und flüstert. »Sie wird keine Freude mehr am Leben haben «
Vom Gang dringen Laute durch die Tür, dann ist die Stille auf der Station wieder hergestellt. Unheimliche Stille.
Praktisch sieht es so aus, als würde das Schweigen auch diesen Raum wieder beherrschen. Doch dann sagt die Frau, Rita dürfe mit der Patientin reden, sie vorsichtig berühren, ihr etwas vorsingen, lachen …
Mit einem Mal erfasst Rita dieselbe Starre, in der Susan sich befindet, weil sie weiß, es wird nichts von alldem gehen. Es wird Wochen dauern bis sie nur halbwegs den schwebenden Zustand zwischen Leben und Tod akzeptieren kann. Sie widersteht der Versuchung stehen zu bleiben wo sie steht und nur gebannt auf das fremde Wesen zu blicken. Schon die Berührung der Hand, die steif und willenlos auf der Decke liegt, erzeugt eine sonderbare Verwirrung in Rita. Ist es ein Gefühl von Abscheu? Ist es Mitleid? Ist es ein Schuldgefühl?
Ritas Augen durchmessen den sterilen Raum. Kaum einer weiß, ob Susan ihn je wieder verlassen kann. Die Kurven auf einem der Monitore zeigen den Herzschlag an. Rita weiß nicht, ob es normal schlägt. Sie weiß nur, hier liegt keine leere Hülle. Susan Hellmann ist lebendig. Ihr Herz schlägt. Ihre Lunge zieht Luft. Sie lebt. Sie kann nicht allein essen und trinken. Sie kann nicht laufen, ihre Muskeln nicht bewegen. Susan Hellmann hat eine zweite Dimension des Lebens angenommen. Das Tor zum Bewusstsein ist zugeschlagen, aber es ist noch immer Leben? Unser Bewusstsein ist ein Geschenk, das den Wert des Lebens vervielfacht. Verliert der Mensch das Privileg, Mensch zu sein, wenn das Bewusstsein andere Wege geht?
Der zarte Duft ist ganz nah. Jemand berührt ihre Hand. Sanfter und bedachter, als diese bösen Geister.
Susans Herz klopft heftig und sie ringt nach Luft. Noch ein Schatten kommt durch den Nebel. Ein weißer. Er spricht zu den anderen und dreht an dem zirpenden Gerät. Und wieder dieses grausige Piepen und das schlürfende Ziehen von Luft. Warum kann sie keinen Muskel rühren? Warum kann sie nicht schlucken? Es sind die harten Dinger in ihrem Hals. Sieht das denn keiner …?
Die Worte der drei Schatten dringen nicht mehr bis zu ihr. Sie schwebt in ihrem weißen Nebelkleid einer Wolke entgegen. Da unten sieht sie das Grün vom Luch, das Rot vom Dach des kleinen Hauses … Dieses Haus …! Was ist mit ihr geschehen? Sie muss sich erinnern …