Читать книгу Zwei Leben der Susan H. - Maxi Hill - Страница 5
Susan Hellmann
Оглавление»Etwas Besseres als den Tod finden wir überall …«, liest Susan Hellmann mit einem Ton in ihrer Stimme, von dem sie lange nicht wusste, dass sie zu einem solchen überhaupt fähig ist. Sie klappt das Märchenbuch zu, streicht einem der Kinder über das Haar und sagt mit Bestimmtheit: »Und wenn ihr jetzt alle ganz schnell einschlaft, lesen wir am Nachmittag, was den Stadtmusikanten auf ihrem Weg nach Bremen noch alles passiert ist.«
Freilich weiß sie, dass sie am Nachmittag nicht mehr hier sein muss. Lubina ist am Nachmittag dran. Die Kinder haben die kleine Mogelei nicht bemerkt. Zwei von ihnen ziehen gehorsam die Decken bis über die Ohren, zwei tuscheln: Sie wüssten ja längst, dass die Räuber kämen.
Nur Mara reckt ihrer Mama den kleinen Mund für ein Schlaf-Gut-Küsschen entgegen.
Wie schön die Ruhe ist, denkt Susan. Bisweilen geht es in diesen Räumen laut zu. Manchmal dröhnt ihr der Kopf, wenn sie nach fünf Stunden endlich dieses Haus verlässt. Aber sie ist jetzt nicht mehr so unglücklich, seit sie diese Aufgabe hat, die auch noch bezahlt wird. Ohne diese Kinder würden die Tage noch immer viel zu lang sein, das Warten auf den ewig abwesenden Mark zu nervig und die Spiele mit Mara bald eintönig.
Sie ist noch so jung und schon viel zu oft allein. Wenn sie allein sagt, dann meint sie mit Mara und deren ganz normalen kindlichen Ansprüchen. Ohne Mara gliche das Alleinsein der Besinnung auf sich selbst, auf die eigenen Ansprüche; bedeutete es Freiheit. Sie ist nicht mehr frei, und seit einiger Zeit fühlt es sich auch so an, als sei sie gefangen im goldenen Käfig.
Sie hatte sich lange gegen Marks Pläne gesträubt, hierher in dieses verhasste Spreewald-Nest Alt Zechau zu ziehen. Schon der Namensteil Alt hat bei ihr die Alarmglocken schrillen lassen, beinahe die ganze lange Phase des Baugeschehens hindurch. Irgendwann brachte sie die Energie nicht mehr auf, Mark zur Einsicht zu bewegen; eine Hilfe war sie ihm in ihrem Groll nicht.
Freilich ist der Spreewald reizvoll. Für eine Woche. Nicht fürs ganze Leben. Jetzt fühlt sie sich dazu verurteilt, von Mark, der einst vorgab, sie unheimlich zu lieben. Unheimlich wird ihr zuweilen, wenn sie darüber grübelt, was sie sich von einem Leben mit Mark erhofft hat. Nach Liebe sieht sein selbstherrlicher Alleingang jedenfalls nicht aus. Sie brauchte Mark mehr als er sie, und irgendwann begann sie seinen Schwüren zu glauben: Bei der Auswahl des Baulandes in diesem Dorf sei niemals die Nähe zu Rita Georgi bedeutend gewesen. Mark schwört noch immer, dieses Stückchen Land nahe am Luch habe ihm einen Kitzel beschert. Diesem Brachland inmitten des Ortes hatten die alten Wenden den Namen In Lücke gegeben und sie hatten sich offenbar geschworen, es niemals zu bebauen, weil es dafür einen Grund gab, den man kollektiv verschwieg. Noch heute wäre das Schweigen geheimer Auftrag, aber Rita Georgi hatte das richtige Näschen für den Grund der dörflichen Verschworenheit. So hat Mark schließlich sein Ziel erreicht.
Susan weiß, wie es um Mark steht. Wenn er etwas will, kämpft er mit allen Mitteln darum. Auch damals konnte er nicht anders, musste In Lücke besitzen, gerade, weil es ihm in diesem Kaff niemand gönnte. Einen Fluch hatte man dem Stück Land angedichtet. Einen Fluch, den man eine gewisse Zeit lang sogar nachzuweisen versuchte, bis der Bagger das Skelett ausbuddelte.
Für Susan war alles, was bis dahin auf dem Baugrundstück passiert ist, die logische Folge von Marks Besessenheit, sich gegen den Willen der Dorfbewohner und gegen uralte Traditionen durchzusetzen. Sogar Jens hat ihm dabei geholfen. Auch Jens war einst Zugereister, aber mit hiesigen Wurzeln. Er hatte keine Ahnung von dem Fluch, den dieses Dorf zu bemänteln trachtete.
Wenn Susan Hellmann heute davon spricht, sie habe nichts von einem Fluch gespürt, dann unterschlägt sie den Fluch ihres eigenen Gefühls, in diesem Dorf verraten und verkauft zu sein. Verlassen fühlt sie sich gar, weil Mark zu viel unterwegs ist. Langeweile ist es nicht. Sie hat den Haushalt zu führen, eine notwendige, aber lästige Sache. Mark achtet darauf, dass die Gartenwege stets vorzeigegerecht gesäubert sind und der Partykeller zu jeder Zeit für unverhoffte Gäste in Schuss ist. Manchmal kümmert sie sich um Marks Termine, ordnet und sortiert seine Papiere, was ihr nicht gut ausgelegt wird. Aus reiner Gewohnheit vergriff sie sich einmal an seiner ungeübten Buchhaltung. Mark kam dazu, und es gab Zoff. Auch später hat sie ihn nicht fragen dürfen, wie hoch die Zuschüsse ihrer Eltern für die Raten sind, die monatlich der Bank zufließen. Aber sie weiß, dass ihre Eltern an der Tilgung des Kredites für das Haus mitwirken.
»Warum muss das sein. Du arbeitest doch für gutes Geld auch freischaffend«, hat sie ihn gefragt. Davon dürfen der Verlag und möglichst auch ihre Eltern niemals erfahren, hat er sie beschworen.
Ob er ihr nicht vertraut, oder ob es noch andere Gründe gibt, war bisher nicht herauszufinden.
Bis zu Maras Geburt war sie eine geachtete Redaktionssekretärin im Spree-Rundschau-Verlag. Sie ist und bleibt in ihrer Seele Sekretärin, aber auf diesem gottverdammten Kuhkaff wird keine Sekretärin gebraucht, und die vierzig Kilometer täglich bis zum Verlag zu fahren, lohnen sich für die wenigen Stunden nicht, die sie arbeiten könnte. Einen Vollzeit-Job neben Haus und Kind kann sie nicht annehmen.
Sie hatte sich abgefunden mit dem Haus - das ein schönes Haus ist, modern und hell. Sie hatte sich abgefunden mit der Einsamkeit und sogar mit den aufgezwungenen Freunden, obwohl sie noch immer nicht weiß, was sie von dieser Freundschaft halten soll. Dieser Rita Georgi kann sie noch immer nur mit Skepsis begegnen, wenngleich Mark ständig von unbegründeten Vorurteilen spricht. Jens Jedro hingegen ist nett, das weiß sie, wenn auch erst seit Kurzem. Bisweilen kommt darum ein wenig Neid in ihr auf. Neid auf Rita.
Ihrer Furcht vor dem Alleinsein hatte Susan Hellmann zeitlebens nichts entgegenzusetzen. Eines Tages war es so weit, ihr drohte die Decke auf den Kopf zu fallen. In diesem abgelegenen Dorf ist sie allein – mit Mara zwar – aber inwendig furchtbar einsam. Zum Glück hat Jens Jedro ihre Lage erkannt und dem Ganzen ein vorläufiges Ende bereitet. Sie wusste zuerst nicht, warum er ihr den Vorschlag gemacht hatte, ein paar Stunden am Tag in der Kindertagesstätte zu arbeiten. Bis dahin hat sie sich von den Problemen des Dorfes grundsätzlich ferngehalten. Sie wusste nicht einmal, dass der staatliche Kindergarten mangels Masse vor Jahren abgewickelt worden war. Ob Jens aus Eigennutz gehandelt hat oder aus Verantwortung für sein Dorf – wie er es nannte – oder ob er es nur mit ihr gut gemeint hat, das will sie gar nicht wissen.
Es war ihr nicht leicht gefallen, ja zu sagen. Ob sie es Jens zuliebe getan hat? Oder Mara? Oder ob sie sich geschämt hat, in ihrem schönen Haus wie die Made im Speck zu leben? Das alles beantwortete sie sich damals nicht. Wenn sie es jetzt mit Abstand bedenkt, hat sie sich nicht einmal Mara zuliebe für den neuen Job entschieden. Zwar sagt sie immer: Kinder brauchen Kinder. Aber eigentlich hatte erst Jens sie überzeugt: Wenn Du sowieso den lieben langen Tag Kinderfrau bist, kannst du es doch auch mit vier oder fünf probieren. Das hebt die Selbstachtung und bringt ganz nebenbei eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit.
Ob Mark dahinter steckt? Jens und Mark sind nicht das, was man dicke Freunde nennen könnte. Jens geht es wie ihr. Er ist durch die Freundschaft zwischen Rita und Mark in diese Verkettung geraten, unfreiwillig, wie er es nennt.
Eigentlich darf sie über Jens gar nicht nachdenken, ohne sich selbst und ihre einstige Meinung über Männer infrage zu stellen. Jens ist so wohltuend anders als Mark.
Seit sie hier ist hat auch sie sich verändert. Verdammt verändert. Nur eines kann sie noch immer nicht lassen. Auch wenn sie es tagsüber nur mit kleinen Kindern zu tun hat, sie muss sich herausputzen, als ginge sie noch immer ins große Verlagshaus. Jeden Morgen fönt sie ihr Haar, schminkt sich sorgfältig und lackiert die Nägel – sogar die Fußnägel. Zuerst hat genau das bei den Kindern zu großem Erstaunen geführt. Auch die vollbusige Lubina Kieschnick konnte sich ihrer nervigen Lästerei nicht enthalten. Inzwischen lackiert auch sie ihre Fußnägel, ungeschickt in der Farbwahl, aber auffällig genug.
Bisweilen, in der kurzen Zeit der Ablösung, geht ihr Lubina gehörig auf die Nerven, und Lubina geht es mit Susan offenbar nicht besser. Beide mussten sich akzeptieren. Lubina ist auserwählt worden, um den Kindern das Wendische beizubringen. Nur deshalb bekommt die Gemeinde eine kleine Förderung, ohne die diese Einrichtung nicht rentabel wäre. Ein höherer Kostenbeitrag, so meint Jens, sei für die Eltern der Kinder nicht akzeptabel.
Manchmal ist sie froh, hier zu sein, aber manchmal fühlt sie sich ungewöhnlich schwach. Freilich war es schlimmer, als sie noch allein zu Hause hockte und stundenlang auf Mark wartete. Damals ging sie nicht einmal zur Tür, wenn jemand aus dem Dorf an der Gartenpforte läutete. Eine Zeit lang beklagte sie sich, krank zu sein, aber ihre Mutter sagte, die Einbildung würde wieder einmal mit ihr durchgehen. Auch Mütter irren bisweilen. In einem aber hatte Mutter recht. Als sie noch ein Kind war, hat sie gerne einmal krank gespielt und ihre Eltern zu Tode erschreckt. Kein Wunder, dass Mutter sagt, sie soll um Gottes Willen vor Mark nicht schlappmachen. Das würden Männer nicht mögen, und einen wie Mark bekäme sie nie wieder.
Ihre Mutter hält verdammt große Stücke auf Mark. Noch im vergangenen Jahr hätte sie ihr gerne Recht gegeben. Jetzt muss sie bisweilen an anderer Stelle Halt suchen, weil ihr Mark keinen gibt, keinen geben kann. Er hat zu viel um die Ohren. Wohl deshalb spricht er davon, er brauche jetzt eine starke Frau. Also muss sie zu jeder Zeit stark sein und mehr noch, sie muss auch schön aussehen, damit wenigstens noch etwas in ihrem Leben schön ist. Leider hat Mark nicht einmal dafür noch Augen.
Wenn Jens kommt und in der Kita nach dem Rechten sieht, fühlt sie sich gut. Er bemerkt ihre Sorgfalt; er hat ein großes Herz und versteht die Probleme einer Frau. Wenn sie vor ihm nicht schwach sein will, macht das wenigstens Sinn.
Früher galt sie bei fast allen Menschen als verwöhnter Schössling. Aber aus irgendeinem Grund ist sie stärker geworden. Vielleicht, um es gerade ihrer Mutter zu beweisen. Jeden Ehe-Crash würde ihre Mutter der eigenen Tochter zur Last legen. Ob sie in Mark vernarrt ist, oder in seine Position als Zeitungsjournalist, das hat Susan noch nicht herausgefunden. Manchmal wankt ihre Welt gefährlich, in der sie nicht mehr der Mittelpunkt ist. Nicht für ihre Mutter und auch für Mark nicht. Am schlimmsten ging es ihr, als Mark das erste Mal ohne Vorankündigung über Nacht nicht nach Hause gekommen war. Ihre Gemütsverfassung stand kurz vor der Explosion, und sie fragte sich die ganze durchwachte Nacht hindurch, ob zwischen ihnen noch alles in Ordnung ist. Freilich musste sie am Morgen bei Jens Jedro in Erfahrung bringen, ob seine Rita in dieser Nacht zu Hause war. Sie sei es gewesen, sagte Jens, aber das Wundern in seinem Blick war ihr nicht entgangen. Beruhigt war sie nach seiner Antwort nicht. Zu lügen gilt bei Männern beinahe als zweite Natur.
Es ist ein trüber Tag, so recht zum Schlummern gemacht. Wäre sie jetzt nicht hier, würde sie gewiss mit Mara zu Hause ein Mittagsschläfchen halten. Hier aber muss sie durchhalten, so schwer es auch fällt.
Der Kindergarten ist in einem Backsteinhaus an der Dorfstraße untergebacht. Die Fenster des Gruppenraumes zeigen zum Luch. Nur die Garderoben und das winzige Büro, das sie Erzieherzimmer nennen, zeigt zur Straße hin. Susan steht versonnen am Fenster. Nach dem Mittagschlaf der Kinder beginnt Lubinas Dienst. Normalerweise nach der Mittagsmahlzeit. Nur heute nicht. Während die Kinder ihr Essen einnehmen, beeilt sich Susan täglich, Mara rasch anzuziehen und zu gehen. Sie mag Lubina nicht, und sie macht kein Hehl draus. Lubina scheint es genauso zu gehen. Vor ihrer Mutterschaft hatte sie deutlich stärkere Animositäten gegen jeden, der sie nicht leiden mochte. Das Kind hat so vieles verändert.
Sie hat sich einen Tee aufgebrüht, wärmt sich die klammen Finger an der Tasse und schaut dabei versonnen aus dem Fenster. Die große Kastanie - von der Miniermotte zerfressen - sieht krank und düster aus. Die Erlen verlieren zunehmend ihre Blätter. Heute leuchten ihre Farben nicht in der Herbstsonne. Nur schemenhaft heben sich die Umrisse hinter einem grauen Schleier ab. Es ist, als will der Herbstnebel das ganze Dorf einhüllen.
Ein kleiner Schauder überzieht ihre Haut. Ein Luftzug? Es ist ein altes Haus, wie alle Häuser in der Mitte des Dorfes. Aber die Fenster sind erst vor Kurzem erneuert worden. Von dort strömt kein Luftzug durch die alten Mauern, in deren Fugen der Schmutz einiger Generationen haftet.
Sie sollte zurück in den warmen Gruppenraum gehen, aber das tut sie nur ungern. Es ist zwar schön, die Kinder schlafen zu sehen, aber sitzt sie dabei, findet sich immer ein dreistes Plappermaul, das mit allerlei Fragen den Rest der Kinder am Schlafen hindert. Außerdem kann sie allein für sich besser abschalten. Niemals hat sie so oft über ihr Leben nachgedacht, wie in den letzten Monaten. Wenn sie ehrlich mit sich ist, kann sie nicht behaupten, zu den edelmütigen Menschen gehört zu haben. Aber sie hat sich geändert, auch wenn das kaum einer vermutet. Womöglich sollte sie über ihre auffällige Erscheinung nachdenken. Zu sehr gestylt für dieses Nest? Zu hohe Schuhe, für diese Straßen? Zu edle Materialien ihrer Klamotten? Zu viel Schminke ...? Zu lange Fingernägel ...? Zu viel Parfüm ...?
Nein. Verbiegen wird sie sich wegen der Leute nicht, solange sie all das nicht selbst behindert. Aber wann merkt man das schon? Ist es nicht längst schon so? Glaubt sie nicht längst, all ihre Vorlieben liegen in diesem Kaff im Scheintod? Nein. Sie liegen im künstlichen Koma, aus dem sie durchaus zu jeder Zeit geholt werden könnten.
In den vergangenen Wochen hatte sie mehr mit Jens Jedro geredet, als mit Mark. Erst gestern am Vormittag hat er vorbeigeschaut …
Ihre Lippen kräuseln sich zu einem zufriedenen Lächeln. Jens braucht wie sie einen Menschen, der ungedrechselte Worte liebt. Und sie braucht einen Mann, der sich zu Schwächen bekennt und der auch mal Nerven spüren lässt? Auch wenn er sagt, er komme, weil diese Einrichtung seine Idee war, sie weiß über Männer besser Bescheid, sie ist ja Frau genug. Freilich muss er Bescheid wissen, wie sein Projekt sich entwickelt. Aber ist da nicht mehr im Spiel?
Früher hatte sie ein anderes Ideal Mann, aber jetzt ist auch sie klüger geworden.
Wäre Jens nicht auf die Idee gekommen, eine private Kindereinrichtung zu schaffen, dann könnten im Moment sechs Mütter des Dorfes nicht mehr arbeiten. Und es könnten demnächst ein paar mehr werden. Der Spreewald zieht immer mehr junge Leute an. Auch das Söhnchen von Jens und Rita wird bald soweit sein, eine Tagestätte besuchen zu können.
Dass Jens mit diesem Projekt – das er Witaj nennt - auch noch eine kleine Förderung für die Pflege der wendischen Sprache erwirken konnte, ist einzig seiner Cleverness geschuldet.
»Die Menschen hier müssen ihre Sprache genau so pflegen wie ihre Trachten«, hat er gesagt, und er hat gemeint, weil es keine Dorfschule mehr gibt, das Wendische aber eine Umgangssprache ist, die nur mündlich weiter gegeben werden kann, muss sie überall und von allen gesprochen werden – nicht nur von den Alten. Hat es ihm je einer vom Dorf gedankt? Haben die Alten, die so vehement den Erhalt der wendischen Sprache einfordern, jemals dem einst Zugezogenen dafür Achtung gezollt? Sie weiß es nicht. Zwar gebe es an den Schnittstellen Probleme, räumte Jens selbst ein. Die meisten Kinder lernten auf höheren Schulen die Sprache nicht weiter. Dennoch seien es in Kitas rund zweihundert Kinder, die am Witaj-Projekt teilnähmen.
Jens war bei aller Freude sehr nachdenklich. Er wolle auch nichts Falsches tun. »Wenn ein Kind wegen seiner Sprache diskriminiert wird, wird es seine Herkunft zu hassen beginnen«, hat er gesagt. Die Schriftsprache am niedersorbischen Gymnasium sei es nicht, die den Leute hier heimisch sei, die sie zur Gemeinschaft mache. Ihre Sprache sei einzig, und diese Einzigartigkeit gelte es zu erhalten.
Das alles kümmert Susan nicht. Sie ist hier, weil sie formell dazu gezwungen wurde und sie ist darauf bedacht, dass man sie mit dieser Nostalgie in Ruhe lässt. Sie geht den Leuten schließlich auch aus dem Wege.
Andererseits hätte sie selbst nicht geglaubt, dass dieses Witaj-Prinzip funktioniert: Eine Person, eine Sprache. Sie spricht deutsch mit den Kindern, aber Lubina spricht das hiesige Wendisch. Dennoch verstehen die Kinder alles, auch wenn sie bisweilen deutsch antworten, weil auch zu Hause vorrangig deutsch gesprochen wird. Wie soll eine Lautsprache überleben, ohne von Generation zu Generation weitergegeben zu werden?
Mara erlebt die Nachmittage mit Lubina nur ausnahmsweise. Sie kann deshalb wendisch nur mit Mühe verstehen, sie kann nur nachahmen, was die anderen Kinder tun, und sie versteht die Reaktionen der Kinder, wenn sie deutsch antworten.
Das Wendische gehört nicht zu den unangenehmsten Seiten ihres neuen Lebens auf diesem Dorf. Es sind derer noch andere. Seit Jens erzählt hat, dass man auch Rita hier im Dorf lange Zeit gemieden habe, ihr so manches schnöde versagt, was das Dorf miteinander teilte, nur weil sie als Fremde galt, seitdem geht es Susan besser. Keiner konnte ahnen – Jens eingeschlossen - dass Ritas Wurzeln in diesem Dorf liegen und sie nur darum hierher zurück in das Haus ihre Großmutter gezogen ist. Vorurteile haben keine hohe Sterberate, hat Jens gesagt. Sie fallen allenfalls vorübergehend ins Koma.
Susan Hellmann will von Vorurteilen nichts hören. In ihrem Falle glaubt sie an nichts Anderes als an Neid. Davon schließt sie nur wenige Menschen aus. Die Jüngeren neiden ihr das Haus, den Mann und alles was sie umgibt. Es gibt nur zwei Varianten, wie die Menschen mit ihr umgehen. Ignorant oder offen feindselig. Manchmal weiß sie nicht, was ihr verhasster ist. Wenn wenigstens Mark etwas dagegen unternehmen würde …
Ein Knarren, wie vom morschen Holz einer Erle im Wind. Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen zu dieser Zeit. Kuhdorf eben. Das Zimmer hat ein Fenster zur Straße und ein schmales Oberlicht nach innen zu den Garderoben der Kinder, wo auch die Schränke der Erzieher stehen, ihrer und der von Lubina. Lubinas Fahrrad steht noch nicht im Ständer.
Susan stellt den Teepott lautlos auf den Tisch. Warum sie behutsam auf den Stuhl steigt, der unter dem Oberlicht steht, kann sie sich später nicht mehr erklären. Aber sie steigt hinauf und späht durch das Glas, das längst einmal gesäubert gehörte. Im Garderobenraum kann sie Lubina sehen, und wie sie auf ihrer neuen, hellen Kunstpelz-Jacke herumtrampelt und sie dann rasch in den Spind zurückhängt. Susan bleibt wie angewurzelt stehen, kann nicht einmal erklären, warum sie nicht schreit, wie es ihr im Moment zumute ist.
Lubina schleicht zurück zur Tür, öffnet sie vorsichtig und zieht sie mit lautem Knall zurück ins Schloss. Erst dann summt sie wie immer, wenn sie kommt, ein wendisches Lied vor sich hin.
Susan hasst Lubina und zugleich braucht sie sie. Aber nicht für das, was sie soeben bemerkt hat, hasst sie Lubina. Das ist eine ganz neue Entdeckung. Sie hasst sie, weil sie ständig stichelt, vor allem vor Mark. Es sind zwar kleine Episode des Tages, aber so übertrieben erzählt, als wäre Susan Hellmann das Dümmste, was dieses Dorf zu bieten hat. Susan kann nur hoffen, das alles richte sich gegen Mark, gegen seinen Thron der Unfehlbarkeit. So gesehen könnte Lubinas Marotte irgendwie auch ihr nutzen. Aber ausgerechnet Lubina gönnt sie keinen Triumph. Alles, was Susan von Lubina spürt, riecht nach Hass. Sie lächelt zwar und tut freundlich, und ganz offensichtlich kann sie auch freundlich sein, sonst würde einer wie Jens nicht mit ihr auskommen. Menschen, die Jens mag, sind meistens okay. Meistens. Aber bisweilen sieht sie etwas in Lubinas Augen, das sie an den nahenden Winter erinnert, an Frost und Kälte. Susan glaubt dennoch nicht daran, dass diese Kälte ihr gilt. Sie gilt offenbar der ganzen Welt, diesem Leben auf dem Dorf, dem sie nicht entfliehen kann.
Als Lubina den Raum betritt, liegt Susan zwar noch eine patzige Bemerkung auf den Lippen, aber aus unerklärlichen Gründen schluckt sie sie herunter. Sie mag sich mit Lubina nicht überwerfen. Das Leben wäre dann vollends unerträglich. In ihr brennt eine große Wut auf Lubina, eine kleine auf sich selbst und ihre Feigheit, dieses Miststück nicht in flagranti gestellt zu haben. Sie spürt, wie die Wut in Traurigkeit umschlägt und wie ihr das Bedürfnis zu heulen die Kehle abschnürt. Ihr Herz schlägt eigenartig stockend gegen den Brustkorb und ein kleines Brennen stellt sich ein. Sie muss raus hier, so schnell es geht.
Lubina Kieschnick bereut wenige Minuten später ihr Manöver. Wie üblich hat sie sich für den Moment besser gefühlt, aber sie fragt sich jedes Mal, weshalb sie einen Fehler, den sie inzwischen als Fehler begreift, mit solcher Ignoranz jeder Gefahr wiederholt. Nicht, dass ihr irgendeine Gefahr den Angstschweiß auf die Stirn treiben würde. Nicht dass sie fürchtet, Susan könnte sich rächen. All das spielt keine Rolle. Bis jetzt hat sie nicht einmal ernsthaft darüber nachgedacht, was danach kommt – kommen muss – wenn sie Susan gehörig eingeheizt hat. Es ist nicht ihr Tag. Wie kann man auch besonnen bleiben, bei dem, was ihr dauernd passiert. Sie fühlt sich nicht schuldig an ihrer heutigen Lage.
Ein dünnes, böses Lächeln huscht über Lubinas Lippen. Ein kleiner Stich aus den Augen, die das Treiben der Kinder lustlos verfolgen und dennoch kaum wahrnehmen, was um sie passiert.
Was wäre, Susan hätte sie in ihrer wilden Wut beobachtet. Sie selbst wäre der puren Niedertracht bezichtigt worden. Sie wäre fortan abgestempelt, vor allen bei Menschen, denen sich Susan anvertraut – und das wäre mit Sicherheit ihr Angetrauter Mark, und das wäre auch Jens Jedro. Nein, sie muss sich beherrschen lernen. Und überhaupt, was soll das bringen? Eine dreckige Jacke ist schnell gereinigt. Und Jacken hat diese Susan wie Sand am Meer. Wenn sie einen Sieg über Susan erringen will, dann muss sie über etwas Anderes nachdenken.
Inzwischen hat sie ein kleines Geheimnis, das den beiden nicht lieb sein kann. Von der Straße aus hat sie einen Streit mit angehört, ja mit angesehen, weil Susan keine herkömmlichen Gardinen vor den Fenstern hat.
Susan hatte sich beschwert, dass Mark über Nacht nicht zu Hause war.
Er habe einen anstrengenden Job, hat er ziemlich laut gesagt. Er könne nicht einfach Ringelreihe spielen, wie Madam, und zu Hause vor Erschöpfung alle viere grade sein lassen. Und sie solle nicht vergessen, er arbeite für sie und für dieses Haus, um das sie jeder beneide.
Es war von der Straße aus zu sehen, wie Mark sein Gesicht verzog, nicht wütend. Eher grinsend. Susan hat Mark angestarrt, als könne sie nicht fassen, was er da gerade gesagt hatte. Sie standen sich gegenüber wie Salzsäulen.
»Sag so etwas nie wieder«, war Susan dann zuerst aus ihrer Erstarrung erwacht. »Anderenfalls behalte dein Haus und dein Geld und dein überhebliches Grinsen. Ich nehme Mara und geh zurück. Etwas Besseres als …«
Die kleine Mara stand plötzlich in der Tür, und Susan verstummte. Das Kind war im Nachthemd auf nackten Füßen gekommen und klammerte sich abwechselnd an die Beine ihres Papas und schlang die Ärmchen um die Schenkel ihrer Mama. Sie rieb sich die Augen und fragte mit dünner Stimme:
»Warum zankt ihr so laut?«
Mark nahm die Kleine auf den Arm und drückte ihren Kopf an seine Wange.
»Das verstehst du noch nicht, Mäuschen. Dafür bist du noch zu klein.«
Lubina war dann gegangen mit dem Bild eines Mannes in ihrem Kopf, der mit ihrer bisherigen Vorstellung von einem über alles erhabenen Mann nichts mehr gemein hatte. Mark Hellmann ist nicht der ehrenwerte, fehllose Herr Journalist, der treusorgend Tag und Nacht schuftet, um seinem Zuckerpüppchen alle Annehmlichkeiten zu ermöglichen. Mark Hellmann schien nicht einmal glücklich zu sein. Und das war die beste Erkenntnis jenes Abends.
Lubina hat manchmal den Eindruck, die beiden lieben und hassen sich in eben jenem Tempo, wie der Hahn auf die Henne steigt. Aber immer wieder schafft es Susan, dass Mark sie in Schutz nimmt, wenn er im Gasthaus wegen Susans Aufzug von den Einheimischen angemacht wird.
Er brauche eben eine Frau, die ihm einheize, nicht eine, die nur den Herd in der Küche anmachen könne, wie diese Wenden-Tunten. Dieses Wort war ein Schlag in das gesunde Gesicht der Lubina Kieschnick gewesen. Damals.
Der Redakteur der führenden Zeitung hier, Mark Hellmann, ist überall akzeptiert. Keiner wird ihn je des Raumes verweisen. Jeder hofft, niemals etwas Schlechtes über sich in der Zeitung lesen zu müssen. Irgendwann aber hatte einer der Männer gelästert, Mark möge auch Susan soweit bringen, eine der Wenden-Trachten zu tragen und beim Schoberfest mit den Frauen herumzuhopsen.
Damals hat Mark ungewöhnlich viel getrunken und so eigenartiges Zeug geredete: Es gebe bodenständige Frauen, die ihre Männer zur Höchstleistung beflügeln. Und es gebe abgehobene Wesen, die mit Engelszungen ihren Männern langsam aber beständig das Mark aus der Mannesbrust saugten.
Mark, hatte er gesagt. Mark. Eindeutiger ging es nicht.
Lubina lächelt bitter. Wenn jemand in ihrer Nähe wäre, der etwas von Gefühlen versteht, er würde ihre Verzweiflung erkennen, in der sie lebt. Vor Jahren war es Jens gewesen, bei dem sie sich Hoffnung machte. Der ist inzwischen zu seiner Rita auf den Körberhof gezogen.
Und dieser Mark Hellmann? Sie hat ihn einmal vergöttert, bis er das hässliche Wort von den Wenden-Tunten gebrauchte. Was macht sie nur immer falsch?