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Der gute Geist - Rita

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Früher gab es für Rita Georgi diese kleinen Rituale am frühen Morgen: Duschen, fönen, schminken, den Tag mit einem heißem Kaffe und einem frischem Brötchen aus Jens Jedros Lieferung beginnen. Das Make-up-Döschen steht griffbereit, der Eyeliner steckt im Perlmutglas. Sie schaut in den Spiegel und denkt bei sich: Was soll der ganze Kram. Sie dreht den Wasserhahn auf, lässt warmes Wasser in die Hände laufen, wäscht sich den Schlaf auf den Augen und spült eiskalt nach.

Freilich ist sie über den Punkt noch nicht hinaus, schön sein zu wollen. Schön. Nicht nur für Jens, der ohnehin immer betont, ihre Natur sei das Schönste an ihr. Sie will schön sein auch für sich, für ihr Ego. Und sie weiß, was sie am Morgen versäumt, wird tagsüber nicht mehr erledigt.

Als sie damals vor einem allzu aufdringlichen Liebhaber in dieses abgelegene Spreewalddorf geflüchtet war, konnte sie nicht ahnen, welch andere Art Aufmerksamkeit ihr hier zuteil werden sollte, und dass sie gerade hier ihre skurrilsten Erfahrungen machen würde, die sie je im Leben hatte.

Inzwischen ist Söhnchen Timi geboren, was neuen Schwung in ihr Leben bringt. Es ist schön, Mutter zu sein, aber es ist ein Vollzeit-Job, trotz aller ergötzlicher Momente, die man mit einem Wesen aus eigenem Fleisch und Blut erleben kann.

Erst gestern Abend als sie allein war mit Timi - Jens musste zu einer Vereins-Versammlung - da hat sie an seinem Bettchen gesessen, ihm irgendeine Geschichte erzählt, die er ohnehin noch gar nicht verstand, und sie hat sein schönes Gesicht bestaunt. Er hat das Gesicht von Jens geerbt, den weichen Mund, die klaren Augen mit den langen seidenen Wimpern. Fast mädchenhaft. Sie küsste seine Stirn und er griff beinahe zufällig nach ihrem Finger, zog ihn zu sich heran, ließ nicht mehr los und schon spürte sie, wie seine Lippen zu saugen begannen, wie seine kleine Zunge ihre Haut berührte. Dann klappten seine Augen zu und weg war er. Sie konnte sich lange nicht von seinem Bett entfernen.

Ob er noch immer schläft, weiß sie an diesem Morgen nicht. Es kann sein, dass Jens ihn in sein Bett geholt hat und die beiden proben ihre gleichgeschlechtliche Liebe in Ewigkeit.

Sie versucht sich zu erinnern, wie es war, als Jens von ihrem Grundstück schwärmte.

»Das Beste am Körberhof ist, irgendwann einmal ein Kind hier aufwachsen zu sehen.«

Diese Erinnerung berührt in Rita ein Gefühl, an das sie gar nicht denken möchte. Gilt seine Liebe wirklich noch ihr?

Im Großen und Ganzen findet ihr Leben nach ihren Vorstellungen statt. Jens war hier eingezogen, nachdem er das viel beachtete Schilfdach-Haus seiner Vorfahren der Gemeinde zur Verfügung gestellt hatte, um ein Museum einzurichten. Das war sein mutigster Schritt von der Freiheit in die Abhängigkeit. Aber wenn sie ihn fragt, ob hier alles nach seinen Bedürfnissen läuft, weicht er aus: »Über diesen Punkt musst du nicht nachdenken. Machen wir nicht immer das Beste aus allem?«

Manchmal sagt er auch: »Es ist dein Haus und wir sind nicht verheiratet.«

Tatsache ist, dass er irgendwann, als ihr Babybauch offensichtlich wurde, selbst dafür plädiert hatte, erst nach der Geburt des Kindes zu heiraten. Inzwischen hat er es aufgegeben, sie zu bedrängen. Längst durchschaut sie seinen Selbstbetrug, wenn er vor Anderen sagt, es spiele in der heutigen Zeit keine Rolle, ob man laut Papier zusammengehöre oder nicht. Entscheidend sei die Liebe und die Verantwortung, die man füreinander übernehme.

Nur manchmal beklagt er die sozialen Ungereimtheiten dieses Staates. Und in der Tat gibt es die. Müsste der Staat ihnen die Vorteile der Ehegemeinschaft einräumen, gelten Jens Jedro und Rita Georgi als unverheiratet. Kann der Staat abkassieren, sind sie nur eine eheähnliche Sozialgemeinschaft.

An ihrem inneren Zustand ändert sich nichts. Jetzt hätte es sogar etwas von Peinlichkeit, würde sie den Vorstoß unternehmen. Sie hat ihn viel zu lange mit allerlei fadenscheinigen Argumenten hingehalten, um so aus heiterem Himmel plötzlich von Heirat zu reden. Als Jens das letzte Mal davon gesprochen hatte, musste die arme Lenka Kalauke als Grund herhalten. Die Betreuung der verunglückten Alten nach ihrem langen Krankenhausaufenthalt war in der Tat aufwändig.

Sie weiß nicht genau, was sie erwartet hat. Sie spürt nur, wie ihre Stimmung mit einem Mal eine andere wird. Jens steht hinter ihr mit dem Kind auf dem Arm, und das erste, was er zu sagen hat, ist:

»Schatz, bevor ich’s vergesse. Du müsstest heute Susan ablösen – nur für ein bis zwei Stunden. Lubina kann nicht pünktlich sein.«

Erst dann haucht er ihr einen Kuss auf die Wange und hält ihr scherzend das Kind vor die Nase, dessen Windel dreimal so schwer ist, wie normalerweise am Morgen. An irgendeine zustimmende Bemerkung denkt sie jetzt nicht. Gewöhnlich ist sie gerne bereit, die beiden Frauen der Kita zu unterstützen, wenn Not am Mann ist. Aber heute ist kein normaler Tag. Sie hatte den Monteur gebeten vorbeizukommen, um die Heizungsanlage noch vor dem Winter zu überprüfen. Das Schlimmste wäre, wenn im ersten Winter, den sie mit dem Kleinkind im Haus erleben, die Heizung nicht durchhält. Und außerdem gefällt ihr die Zeit nach dem Mittag nicht. Da fällt sie regelmäßig ins Suppenkoma, wie sie es nennt. In Wahrheit ist sie zu dieser Zeit von den Arbeiten des Tages körperlich erschöpft und sie nimmt sich die Zeit, in der Timi schläft, um über inhaltliche Dinge nachzudenken.

Für einen Moment schärft sich der Blick von Jens, aber er stellt keine Frage. Stattdessen greift er zum Windelkorb, legt die Wickelmatte auf die Kommode und schaltet die Wandheizung ein, die er eigens für die Zeit des Wickelns angebracht hat. Auf diese Art Fürsorge würde kein anderer Mann von sich aus kommen, denkt sie. Jens denkt an viel mehr, und das ist das Schöne an ihrem Leben.

Er schweigt. Rita nickt endlich, schweigt aber auch, nur der Kleine beginnt zu brabbeln und dazwischen vergnüglich zu quieken, als seine rosige Haut auf der blanken Decke liegt und die rote Wärme seinen Bauch bestrahlt.

»Was hat Lubina denn vor?«, fragt sie, während ihre Hände mit einem öligen Tusch den Po des Kindes massieren und die tiefen Falten in den drallen Schenkel von Puder-Rückstände säubern.

Es ist nichts zu hören, außer dem Blubbern des Kaffeeautomaten in der Küche, um den sich Jens bereits kümmert. Er wird auch das Morgenfläschchen schon im Wärmer haben. Und er wird es auch sein, der dem Kind das Fläschchen hält, damit sie in Ruhe frühstücken kann. Ritas Gesicht, das ihrem kleinen Wonneproppen noch niemals mit ernster Miene begegnet ist, verschließt sich für einen Moment. Ihr ist, als müsste sie ihre Gedanken zurücknehmen, als müsste sie die lästige Frage zurücknehmen. Es war nie entscheidend, warum jemand in Schwierigkeiten ist. Entscheidend ist, dass jemand in Schwierigkeiten ist. Und in dieser Haltung unterscheiden sie sich beide in nichts.

»Ich hab sie nicht gefragt«, hört sie Jens endlich in der Küche sagen. »Ich weiß nur, dass Susan nicht länger bleiben kann, weil ihre Eltern am Nachmittag kommen.«

Die Eltern also. Jetzt braucht Rita doch ein Ventil für das kleine Unbehagen, das sie überkommt. Susans Eltern kommen regelmäßig. Ihre Eltern kommen nicht einmal mäßig. Sie nehmen es ihrer Tochter offenbar übel, dass sie in wilder Ehe lebt. Dass sie alle drei glücklich sind, spielt für Mutter Helga keine Rolle. In dieser Angelegenheit ist ihr sogar die fünfundachtzigjährige Lenka voraus. Sie hat nur mühsam aber sehr bestimmt in ihrem unverwechselbaren Jargon gesagt: »Hauptsache von Euch ist keiner nicht unglücklich.«

Etwas ballt sich zusammen in ihrer Brust, schwerer als das Kind, das sie fest an sich drückt. Sie streicht das Hemdchen glatt und zieht die Teile über Timis Rücken übereinander. Enttäuschung ist es nicht. Sie kommt ganz gut alleine zurecht mit ihrem Leben. Es ist so etwas wie Sehnsucht, die sie vor Jahren nie gekannt hat – nicht nach ihren Eltern jedenfalls. Erst seit sie selbst Mutter ist, ahnt sie, was es bedeutet, einem Kind ein wahres Zuhause zu geben, es mit Hingabe zu umsorgen, es mit Liebe zu erziehen und es behutsam auf das bisweilen grausame Leben vorzubereiten. Sie wünscht sich nichts so sehr, als dass es dem Kind immer gut gehen möge und dass sie alle drei von den großen Sorgen verschont bleiben, von denen Tausende in allen Winkeln der Gesellschaft lauern.

Rita und Susan begegnen sich schon draußen vor der Tür. Susan hat den Sportwagen für Mara mitgenommen, weil die Kleine in letzter Zeit immerzu irgendetwas Aufregendes am Wegesrand findet, wenn sie den Weg bis In Lücke zu Fuß gehen. Es dauere immerzu nervig lang, sagt sie.

Susan trägt hautenge Jeans und einen quergestreiften blau-weißen Pullover mit übergroßem Wasserfall-Kragen. Auf ihre High Heels kann sie noch immer nicht verzichten, und zurechtgemacht ist sie, als würde sie zu einem Schönheitswettbewerb gehen. In Susans Nähe kommt sich Rita bisweilen unattraktiv vor, sofern sie überhaupt von sich glauben könnte, attraktiv zu sein. Jens behauptet es und sogar Mark redet es ihr dauernd ein. Aber gerade Mark glaubt sie diesbezüglich kein Wort. Wer sich einen solchen Typ Frau wie Susan angelt, hat ganz gewiss andere Ideale. Soll er, denkt sie. Sie kann nicht sagen, dass sie ein gestörtes Verhältnis zu dekorativer Kosmetik hat. Im Gegenteil. Aber alles zu seiner Zeit, und jetzt hat sie fünf fremde Kinder zu hüten, dafür braucht sie weder Schminke noch Hackenschuhe, sondern ein frohes Gemüt und frische Ideen für einen kunterbunten Nachmittag.

Rita nimmt sich seit Langem so wie sie ist, und sie fühlt sich gut dabei. Aus heutiger Sicht kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es gekommen wäre, hätte sie damals Mark Hellmanns dreisten Bemühungen nachgegeben. Hätte er von ihr womöglich erwartet, ständig so auszusehen wie Susan? Die ist durchaus nicht hässlich. Sie ist angemessen groß, schlank, beinahe grazil. Ihr Haar halblang geschnitten und variabel tragbar. Die dunklen Augen scheinen aus Samt, das Haar aus schwerer Seide zu sein. Kein Wunder, dass Mark sie erobern wollte. Dass er es mit Susan gar nicht ernst gemeint hat, musste er ihr damals trotzdem nicht weismachen. Auch die Not, in der er sich befunden habe, schien übertrieben:

Als du mich verschmäht hast, aber Susan es mir leicht machte …

Warum gibt er nicht zu, besessen von Susans Körper gewesen zu sein?

»Hallo Susan«, sagt Rita als Erste. »Schön, dass deine Eltern kommen. Ich wünschte, meinen kämen auch öfter. Der Weg ist immerhin derselbe.«

»Es ist nett von dir, dass du mal wieder aushilfst. Wir haben heute zwei kränkelnde Kinder dabei. Also sei vorsichtig! Wegen Timi.«

»Auch das noch«, entfährt es Rita.

Mit einem Ausdruck von Erstaunen betrachtet Susan Rita einen Moment lang, vermeidet aber jedes weitere Wort, das zu ihrem Nachteil ausfallen könnte.

»Die Kinder schlafen noch. Ich habe nur den Wagen schon nach draußen gebracht.«

»Nimmst du Mara mit?«

»Ist doch klar. Oma und Opa kommen doch nicht meinetwegen.«

In Susans Stimme liegt keine Freude.

»Schon klar.«

Sie schaut Susan an und kann aus ihren Augen lesen, dass sie noch etwas zu sagen hätte. Aber sie sagt nichts mehr. Vielleicht hat sie ihr bisher unrecht getan. Vielleicht ist sie gar nicht so abgehoben, wie alle glauben. Schließlich sagt auch Jens, er würde Susan ganz anders kennen. Vielleicht leidet sie unter dem Dorf, so, wie sie selbst vor Jahren gelitten hat – nicht unerträglich hart und nicht ungewöhnlich lange, aber gelitten hat sie schon, wenn sie ehrlich ist. Obwohl bei ihr die Lage eine völlig andere war. Bei ihr war es eine Flucht vor einem großen Fehler. Sie wollte hier sein, aber sie wollte hier keine Kontakte knüpfen. Also war das Verhalten der Leute im Dorf eine logische Folge ihres eigenen Verhaltens. Für Susan Hellmann sieht das anders aus. Sie will beides nicht. Keine Kontakte, und am liebsten gar nicht hier sein.

»Du siehst müde aus«, sagt Susan nun doch noch.

Rita spürt, dass selbst diese vielleicht gutgemeinte Bemerkung auf sie eine völlig andere Wirkung hat. Von anderen Menschen gesprochen hätte sie sofort Besorgnis vermutet. Von Susan gesprochen vermutet sie nichts Gutes. Womöglich will sie ihr klar machen, dass sie ihr in Punkto frischen Aussehens keine Konkurrenz machen könnte. Das macht sie wohl, weil Mark manchmal sein kleines Theater nicht lassen kann. Bisweilen geht es Rita auf die Nerven, wenn er gerade in Susans Gegenwart unglaubliche Komplimente aus seinem Verführerzirkus zaubert. Wenn Mark sie in Susans Beisein lobt, dann klingt das anders als unter vier Augen: Ritas Umsicht. Ritas Mutterrolle. Ritas Kochkunst. Ritas Bücher - womit er ihre Roman-Werke meint. Und erst, wenn er alles abgearbeitet hat, dann fallen auch ganz nebenbei ein paar Worte zu Ritas Frisur. Zu ihrer Kleidung. Kein Wunder, dass sie für Susan ein rotes Tuch ist. Mit anderen Eigenschaften als mit ihrer Schönheit kann Susan Hellmann nun mal nicht das große Verdienstkreuz gewinnen.

»Das muss dich nicht beunruhigen«, antwortet Rita endlich auf Susans Bemerkung, »das ist nur mein Suppenkoma.«

Susan zögert erst, geht dann doch die erste der drei Stufen zum Eingang hinauf, dreht sich aber sofort um und fragt, was ein Suppenkoma sei. Rita winkt ab: »Meine Trägheit nach der Mittagsmahlzeit.«

Im Hausflur ist es duster, bis Susan die Tür zu den Garderoben öffnet, wo das Licht des Nachmittags durch das Fenster hereinfällt.

»Ich dachte schon, du redest von einem dieser Geschöpfe, die halb tot halb lebendig dahinvegetieren und künstlich am Leben gehalten werden, weil die Kirche dauernd dazwischenfunkt.«

»Gottlob nicht«, sagt Rita. »Ich meine, gottlob funkt die Kirche dazwischen. Aber den Streit um dieses Thema brauchen wir zwei nicht auch noch.«

Susan bemerkt ihre Verwirrung, versucht sie zu bezwingen, derweil sie an einer Haarsträhne zupft, die sich aus der Frisur gelöst hat.

»Human ist das jedenfalls nicht, einen Menschen über Jahre hinweg im Wachkoma zu lassen. Hirntot, ohne Selbstbestimmung.«

»Hirntot sind die aber nicht«, kann Rita gerade noch erwidern, als Susan aufschreit.

Sie steht vor ihrem Spind und hält eine weiße Kunstpelzjacke in der Hand. Über Rücken und einen Ärmel zieht sich ein dunkelblauer Streifen irgendwelcher Farbe. Susan setzt sich fassungslos auf die niedrige Bank, die unter den Garderoben verläuft und in deren Fächern die Schuhe der Kinder aufbewahrt sind.

»Sag es niemandem, hörst du?«

»Was denn? Was soll ich nicht sagen?«

Susans Gesicht sieht wütend aus und zugleich verschlossen. Doch Rita bleibt fordernd vor ihr stehen, und das ist wohl der Grund, warum Susan einsieht, dass es zum Schweigen längst zu spät ist. Sie lässt ihre Arme mitsamt der hellen Jacke sinken, die nun den Schmutz des Tages berührt. Dabei sieht sie aus wie jemand, der endgültig aufgibt.

»Es ist Tinte«, flüstert sie kraftlos und hebt die Jacke wieder auf. »Jemand hat über meinem Spind ein Tintenfass ausgekippt. Schau her.«

Es ist, wie Susan sagt. Eine Gemeinheit, denkt Rita, sagt aber:

»Jemand?« Rita überlegt eine Weile. »Glaubst du wirklich, einer von den Eltern macht so etwas? Auch wenn du nicht sehr beliebt bist im Dorf, Susan. Auch wenn dich manch einer meidet, man darf keine Pauschalverurteilung vornehmen.« Sie setzt sich zu «

Susan sitzt verstockt, als kämpfe sie einen inneren Zwiespalt aus, bis sie leise sagt:

»Das war Lubina?« Sofort vergräbt sie ihr Gesicht in beiden Händen.

»Weißt du, was du da sagst?«

Susan nickt langsam und schiebt eine Strähne aus der Stirn, ehe sich die Augen der beiden Frauen begegnen.

»Es tut mir leid. Es hätte niemand erfahren sollen. Du auch nicht. Ich habe mir geschworen, es niemandem zu sagen. Aber das jetzt, das ist doch pure …«

Susan springt auf und läuft ein paar Schritte hin und her.

»Was hätte niemand erfahren sollen. Das ist nicht das erste Mal. Richtig?«

Susan starrt Rita an, sagt kein Wort mehr. Hinter der Tür auf der anderen Seite des kleinen Flures ruft Mara nach ihrer Mama, dann lärmen auch die anderen Kinder und es ist keine gute Zeit für ein weiteres Gespräch.

Für die Feindschaft von Lubina Kieschnick gegen Susan Hellmann gibt es keinen logischen Grund, sofern er nicht mit diesem Job zu tun hat, denkt Rita. Sie mag weder Lubina noch kann sie Susan als ihre Freundin betrachten. Zusammengewürfelt sind sie worden durch die Kollegialität zu Mark. Warum also ist sie trotzdem hier? Weil die dorfeigene Kita die Idee von Jens war?

Vielleicht, wenn sie nicht selbst ein Kind hätte, wäre sie nicht hier. Irgendwann wird sie tagsüber auch Timi hierher bringen, und sie wird froh sein, das Kind für ein paar Stunden versorgt zu sehen und unter Kindern. Andererseits weiß sie auch, dass die Uhren in den Stuben hinter den Wänden der niedrigen Häuser anders ticken. Wer weiß, wie lange man diese private Einrichtung im ehemaligen Kingergarten noch mietfrei duldet, und dann rechnet sich die Sache nicht mehr. Jede Gemeinde braucht ihre Einnahmen.

Mag sein, dass sich die Menschen ändern, so, wie sie sich geändert hat. Angepasst, das war eines ihrer verhasstesten Wörter. Ist sie jetzt angepasst? Es spricht einiges dafür und einiges dagegen. Etabliert, wie man neudeutsch sagt. Bodenhaftend. Sie ist großmütiger als die Alteingesessenen im Dorf, aber kleinlich mit sich und ihren Schwächen.

Es war schon immer eine Schwäche von ihr, gewisse Situationen zu analysieren, als wolle sie ein Essay darüber schreiben. Besonders die Eigenarten von Menschen waren davon nicht ausgenommen. Aber was soll sie jetzt damit wollen? So manchem Menschen hat sie mit ihrer Meinung schon Unrecht getan. Lenka Kalauke. Sie will nicht noch einmal derart Fehler begehen. Es ist schließlich logisch, dass es zwischen Susan und Lubina zu Problemen kommen muss, so verschieden wie sie sind. Eine dörfliche Emanze und eine städtische Mimose. Natürlich prallen da zwei Welten aufeinander. Warum hat Jens das nicht vorhergesehen?

Vielleicht dache er, wie er meistens denkt: Gegensätze befruchten einander.

Ritas Lippen kräuseln sich. Bei ihnen war es so. Der «Ladenhüter» Jens Jedro und sein Gegensatz, der Eindringling Rita Georgi, haben sich gegenseitig befruchtet, im besten Sinne ...

Die vier verbliebenen Kinder hantieren bereits mit Buntstiften und Papier und von Zeit zu Zeit hilft sie einem, die abgebrochene Spitze zu erneuern, weil zu großer Schwung im Spiel war. Zuweilen korrigiert sie die ausgewählten Farben. Es sollen ja freundliche Bilder werden mit einer Sonne und mit blauen Wolken am Himmel. Mit den neugespitzten Stiften kommen die Kinderhände nicht gut zurecht. Die dünnen Striche zerstören die Harmonie, die Sanftheit der Farben.

Jemand tritt in den Vorraum. Die Eltern kommen zu sehr verschiedenen Zeiten. Manche Kinder haben das Glück, gleich nach dem Mittagsschlaf von den Großeltern oder einem der Eltern abgeholt zu werden. Manchmal zum Ärgernis der Kleinen, weil sie grade das begonnene Spiel so spannend finden.

Sie sieht Mark Hellmann in der Tür und wie seine Augen grinsend den Raum durchmessen.

»Susan ist schon lange weg«, sagt Rita, und eines der Kinder plappert sofort, dass die Oma von Mara kommt und Süßigkeiten mitbringt. Mark nutzt sofort das Durcheinander der Stimmen. Nur Rita hört genau, was er sagt. Es sei an der Tagesordnung, dass Susan macht, was sie will.

Rita betrachtet das schräge Grinsen in seinem – zugegeben – schönen Gesicht, und sie denkt bei sich, dass ein solches Gesicht gar nicht zu solch garstigen Worten passt. Es ist ihr sogar, als berühre ihn die Abwesenheit von Susan gar nicht. Mark scheint ein gutes Stück abgerückt von dem, was sie bei Jens vermuten würde. Wenn der sie abholen wollte und sie nicht mehr da wäre, dann hofft sie, er habe nicht solch ein Grinsen im Gesicht. Hoffen kann sie es, wissen kann sie es nicht.

Trotz seiner Lässigkeit, die man getrost als Unbekümmertheit ansehen kann, spürt Rita nicht zum ersten Mal, dass Mark ein Kokon um sich trägt, eine Scheinhaut, die ihm alles Ungewollte vom Leibe hält. Gerade ist dieser Panzer von ihm gefallen.

Vielleicht hat er in Susan wirklich nicht das Glück gefunden, wie er es manchmal nennt. Vielleicht aber braucht er nur eine barmherzige Seele, die seinem weichen Kern Balsam ist.

Es ist ihr unheimlich, dass Mark nicht rasch wieder geht. Es ist ihr unheimlich, dass er mit der Großmutter redet, die gerade ihren Enkel abholt. Er artikuliert sich vor der alten Dame, als führe nicht seine Frau, sondern er diese Einrichtung. Und es ist Rita unheimlich, dass er noch immer bei ihr sitz, als das letzte Kind bereits abgeholt wird.

Erst in der Garderobe – Rita zögert, ob sie Mark von Susans Verdacht erzählen sollt - nimmt Mark sie bei den Oberarmen und holt ein weiches Säuseln aus seiner Kehle:

»Könntest du dir vorstellen, mit mir … ?« Marks Gesicht wird ernst, und Rita ist es schon wieder unheimlich.

»Ja?« Das ist keine Antwort. Das ist eher eine Frage, eine gutgemeinte Aufforderung zum Weiterreden über das, was Mark offenbar bedrückt.

»Ja?«, sagt auch er, und es klingt ungläubig. Erst als seine wunderbar weißen Zähne besonders viel Platz in seinem Gesicht einnehmen, schwant ihr etwas: »Nein. Ich weiß nicht was du meinst, verdammt.«

»Du weißt nicht, was ich meine? Ich meine immer dasselbe, Rita. Schon mehr als zwei Jahre lang. Und das weißt du ganz genau.«

Anstatt auf Ritas Mahnung zu hören, weil doch zu Hause die Familie auf ihn warte und auch Jens warte mit Timi auf sie, redet Mark Hellmann über die Unterschiede zwischen seiner Frau Susan und Rita, die ihm immer bewusster würden. Immer mehr schmerze es ihn, dass er früher nicht klarer seine Wünsche formuliert habe. In seinem Inneren knistere es noch immer, sobald er Rita auch nur für einen Moment vor die Augen bekomme. Rita sei Rita und eben nicht Susan. Susan sei eine heiße Braut gewesen, sexy, wie kaum jemand. Das habe ihn geblendet. Jetzt sei er soweit zu bemerken, dass Blendwerk keine Bedeutung im Leben habe. Sie weiß nicht, ob es eine Freude ist, oder ob sie sich zur Vorsicht mahnt. Mark lobt mit blumigen Worten die reife, auf Achtung und Toleranz begründeten Beziehung von Rita zu jedermann. Aber Rita spürt, dass Mark niemand anders als Jens meint, es aber nicht über die Lippen bringt. Und dann weiß sie, wie recht sie hat, als er bekennt, seine Beziehung mit Susan könne nicht annähernd mithalten. Susan habe sich zwar verändert, könne aber das Format von Rita niemals erreichen. Und eines begreife er immer mehr: Susan passe ganz einfach nicht in dieses konservative Dorf. Sie ruiniere sogar seine Position. Und dann flüstert er beinahe. Überdies sei sie in ihrer Abgeschiedenheit furchtbar eifersüchtig geworden, beinahe krankhaft. In ihrer Eifersucht hetze sie sogar schon Jens gegen sie beide auf, wie er gehört habe.

Während Rita in sich zusammenzuckt, scheint Mark seine letzten Worte geradewegs zu genießen. Es ist schlimm, wenn man sich anderer Menschen bedient, die keine Chance haben, sich zu rechtfertigen. Das Schlimmste aber, was sie sich jetzt vorstellen kann, ist, dass Mark ihr körperlich noch näher kommt. Sie mochte Mark einmal sehr, zu sehr vielleicht, um ihn konsequent in die Schranken zu weisen; und es gab eine Zeit, da hätte es keinen noch so winzigen Grund dafür gegeben, außer ihrer begründeten Furcht vor jeglicher Bindung. Aber jetzt ist die Lage eine völlig andere.

Sie hat keine Ahnung, wie viel Zeit verstrichen ist, ehe sie das erste vernünftige Wort zustande bringt. Sie merkt nur, wie eine unerklärliche Kälte an ihr empor kriecht, über die Beine, den Rücken und die Arme, und wie sie Mark auf sicherer Distanz hält, ihn immer weiter zum Ausgang drängt und es tatsächlich schafft, die Räume abzuschließen. Aber noch ist sie nicht durch den dusteren Hausflur hindurch.

In der Dunkelheit greift Mark nach ihr, und es ist Rita, als brauche er diese Dunkelheit, um ihr nicht mehr ins Gesicht schauen zu müssen. Ohne Respekt vor ihr zu haben, hätte er schon drinnen bei Licht schamlos getestet, wie weit er gehen kann. Seine Art intimer Annäherung kennt sie aus dem Verlagshaus. Nur hat er sie dort im Einklang mit Susan praktiziert.

Im Augenblick ist sie nicht sicher, ob sie ihm wie einem Kind ein wenig auf die Finger klopfen oder ihre Hand schwungvoll in seinem schönen Gesicht platzieren sollte. Er verdiente letzteres, keine Frage. Sie wehrt Mark lächelnd ab und versucht, ihre Uhr am Handgelenk zu erkennen.

Jens hat kein Problem, Timi zu betreuen und dennoch ein bisschen von seiner Arbeit nebenher zu erledigen. Manchmal, wenn er am Nachmittag noch einmal in den Laden zu Milena Kieschnick geht, dann nimmt er Timi mit, und das bedeutet, dass auch er sobald nicht nach Hause findet. Milena ist die Schwester von Lubina, der liebreizenden, wie ihr Name jedem verrät, der das Wendisch beherrscht. Und das trifft im Gegensatz zu Milena ziemlich gut.

Für Rita gibt es keinen Grund, jetzt auf Marks ungenauen Bedürfnisse einzugehen. Sie könnte verstehen, wenn er einmal ungestört mit ihr reden wollte. Aber nach reden sah es nicht aus. Auch früher gab es mal die eine oder andere Situation zwischen ihnen. Sie hat sich nie geziert, aber sie hat auch nicht mehr Leidenschaft hineingelegt, als erlaubt.

Mark atmet hörbar.

»Denkst du wirklich niemals an unsere Zeit? War es nicht immer gut zwischen uns?« In bitteren Stößen kommen seine Worte über vorwurfsvoll bebende Lippen.

Recht hat er, denkt sie. Zwischen ihnen war nie etwas Böses, aber sie sagt es nicht. Ihr liegt etwas Anderes am Herzen und dennoch ist auch das die pure Ehrlichkeit.

»Ja. Es war mal ganz nett mit dir, Mark.« Sie hört ihre eigene Stimme, die in ihren Ohren wie die eines Schulmädchens klingt.

»Ganz nett also. Tolles Kompliment. Wenn das mein angeschlagenes Ego nicht hebt, dann weiß ich wirklich nicht …«

»Dein Ego meinst du?« Ihre Augen verengen sich, ihre Lippen lächeln böse: »Es gäbe nichts auf dieser Welt, das sich nicht lösen ließe, wenn sich bloß jeder nach dir richten würde.«

Mark wirft seinen blonden Kopf in den Nacken: »Das Schöne an deinem Sarkasmus ist seine Verlässlichkeit.«

Sarkasmus ist die Speerspitze berechnender Überlegenheit, das hat sie damals geschrieben, als sie Lutz Wegeners Leben erforscht und in ihrem Roman Schattenkinder verarbeitet hat. Jetzt hat sie den Beweis ihrer These in sich selbst gefunden.

»Pure Theorie«, mahnt sie nicht minder sarkastisch, »so manches verfliegt mit dem Alter.«

»Und dann ist es für immer verloren. Rita. Was hatten wir für verrückte Ideen. Sind die alle deiner verdammten Vernunft gewichen. Was sollen die Sprüche von Treue und mütterlicher Tugend. Auch ich habe ein Kind, vergiss das nicht.«

»Und genau deshalb gehst du jetzt nach Hause. Und ich gehe auch meiner Wege.«

Eigentlich wollte sie auf direktem Wege zum Körberhof gehen, was aber bedeutet, dass sie noch ein Stück des Weges mit Mark gehen müsste. Sie deutet an, in die andere Richtung zu laufen, wo Jens sich im Laden aufhalte, was theoretisch möglich wäre. Sie kann diese Art Gespräche mit Mark keine einzige Minute länger ertragen.

Ihr Handy klingelt. Niemals kam ein Anruf so gelegen. Jens fragt ein wenig aufgeregt, wo sie stecke und ob alles in Ordnung sei.

»Wir sind schon auf dem Weg, Schatz«, sagt sie so locker es ihr gelingt.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«

»Ja. Ich schwatze gerade mit Mark. Wir stehen noch am Denkmal.«

Das war es dann also mit der Kehrtwendung, die ihr jetzt besser gefallen hätte. Aber die hundert Meter muss sie Mark einfach noch ertragen.

»Weiß Jens eigentlich, was damals mit dem Nils Hegau und dir war? Der war auch verheiratet und es hat dich nicht gestört. Warum stört es dich jetzt, wenn ich es bin. Ich bin nicht von ungefähr hierher gezogen, Rita. Ich dachte, du bist nicht so prüde und ich könnte … wir könnten. Glaub mir, du wärst mein Glück. Und das versichere ich dir, bei allem, was mir heilig ist …«

Na, das kann nicht viel sein, denkt sie. Und so denkt sie wirklich erst seit heute über Mark Hellmann. Ihre Worte klingen noch ein wenig anders.

»Kannst du nicht respektieren, dass auch andere Menschen eine Meinung über die Dinge des Lebens haben? Musst du mit deiner Meinung immer das Maß der Dinge sein?«

»Das ist keine Frage von Respekt. Das ist eine Frage von Kreativität. Mir fällt eben immer noch etwas ein. Und weißt du, was mir gerade einfällt. Man kann den Spaß am Leben verdoppeln, ohne sein Leben teilen zu müssen.«

Das war dann wohl genug des Schmutzes, aus dem das Leben besteht, denkt sie. Vor seinem Haus, das rundum hell erleuchtet ist, gibt sie Mark Hellmann die Hand.

»Es gab mal eine Zeit, da glaubte ich, alle Männer haben schlechte Gewohnheiten, aber ein gutes Gewissen dabei. Seit ich Jens kenne, weiß ich es gottlob besser, und ich hoffe, ich muss niemals das Gegenteil ertragen.«

Es sind wohl keine zweihundert Meter, bis Rita am Körberhof ankommt. In dieser Zeit dankt sie dem Schicksal über die unzähligen Zufälle, die ihr Leben zu dem gemacht haben, was es ist. Es waren allesamt gute Zufälle, und sie weiß aus ihrer Arbeit, dass die bösen Zufälle das Leben empfindlich verändern können. Ihr Leben ist eines mit starkem Halt geworden, obwohl es gerade die Flüchtigkeiten waren, die all die haltbaren Schnüre gedreht hatten.

Zwei Leben der Susan H.

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