Читать книгу Zwei Leben der Susan H. - Maxi Hill - Страница 9
Wer war der Übeltäter?
ОглавлениеSie hatte sich bereiterklärt, am Nachmittag wieder für zwei Stunden die Kinder zu betreuen. Eine für ihr Befinden naturgemäß ungünstige Zeit, da aber Timis Mittagsschlaf in dieser Zeit liegt, wird Jens nicht unnötig lange von seiner Routinearbeit abgehalten. Andererseits hat sie selbst zur Ruhezeit der Kinder etwas Muße zum Überlegen, wie sie das Gespräch mit Lubina Kieschnick, das sie sich vorgenommen hat, beginnen könnte. Das kann sie nirgendwo so glaubwürdig belanglos erscheinen lassen, wie bei der Ablösung in der Kita. Sie fragt sich seit Langem, warum Lubina sauer auf Susan ist. Offenbar reicht es für einige Menschen, in einer bestimmten Sache besser zu sein als sie selbst, um mit Groll beladen zu werden.
Wie gemein doch Menschen sein können, hat sie damals gedacht, als die Tinte über Susans Jacke geflossen war. Sie konnte sich ihres Gefühls von Abscheu nicht erwehren. Seitdem hat sie mehrmals überlegt, ob sie unter anderem Vorzeichen für Susan Partei ergriffen hätte, und ob sie einmal etwas an Susan beachtenswert fand. Es ist ihr nichts eingefallen, aber das bedeutet ja nicht, dass sie deshalb Ungerechtigkeiten ignoriert.
Vielleicht ist alles, was ihren gegenwärtigen Zustand betrifft, nur der Stresssituation geschuldet, in die sie Mark gebracht hat? Es kann doch sein, dass sie deswegen ihre Haltung zu Susan korrigiert hat. Sie ist sich selbst fremd in ihrem neuen Denken, aber das Neue betrifft nur Susan Hellmann, nicht ihren sonst so ausgeprägten Sinn für die Zusammenhänge hinter den Dingen. Tatsächlich fallen ihr sofort viele Gelegenheiten aus jener Zeit ein, als sie der Bedeutung der Briefe zwischen Jetta Eisermann und Hanka Sedlazcek auf der Spur war. Damals hat sie ihren Spürsinn als wesentlich angenehmer empfunden. Jetzt ist die Sache etwas subtiler. Sie weiß nicht, was sie beunruhigt, sie weiß nur, es gibt Ungereimtheiten zwischen Lubina und Susan, und denen will sie auf die Spur kommen.
Die Ablösung erfolgte fliegend. Lubina sagte nur, sie wolle spätestens gegen fünfzehn Uhr dreißig zurück sein. Jetzt sitzt Rita im Gruppenraum und grübelt vor sich hin. Und dann von einem Moment zum anderen versetzt ein Adrenalinstoß ihren Körper. Nach einem Moment des Lauschens springt sie auf und läuft zur Garderobe. Die Kinder springen auch von ihren Pritschen und laufen ihr nach, Mara voran.
In der Garderobe ist niemand, kein Elternteil, auch nicht Lubina, wie vermutet. Was hat sie nur erwartet? Stellt sie sich mit Susan auf eine Ebene? Warum? Und dann fällt es ihr ein, woran sie einen winzigen Moment lang gedacht hatte: Weil Jens vor Jahren Lubina verschmäht hat, kann es doch sein, dass sie auch ihr Böses will. Irgendein Instinkt in ihr ist erwacht, aber sie ist kein Tier, sie weiß nicht, warum sie derart in Unruhe gerät.
Später, als Rita wieder ruhiger ist, die Dinge wieder in ihren richtigen Dimensionen sieht, begreift sie, wie absurd sie selbst schon reagiert. Sich vorzustellen, wie Lubina auf Susan losgeht – einfach grotesk. Erst recht, wenn sie sich vorstellt, in Panik zu geraten, weil Lubina Kieschnick auch auf sie losgehen könnte.
Die Kinder auf ihren nackten Füßen mit sich führend geht sie zurück zum Gruppenraum. Das Spielzeug liegt verstreut, die Hausschuhe der Kinder unter den Pritschen sind vertauscht, die Strumpfhose eines Mädchen ist über ihren halbnackten Po gerutscht. Das alles ist rasch geordnet. Sie holt die Steckspiele aus dem Schrank und zeigt den Kindern, wie man tolle Muster stecken kann, dann räumt sie die Liegen in die Remise und setzt sich mit an den niedrigen Tisch. Sofort ist Mara bei ihr, legt ihr Köpfchen an Ritas Schulter und hebt das Steckplateau an: »Sieh mal, Mama Rita.«
Rita sieht nichts als einen kunterbunten Teppich aus Stecksteinen, aber sie ist erschrocken über die Worte. Eines der Mädchen stupst Mara an und sagt in garstigem Ton: »Das ist doch nicht deine Mama! Das ist Tante Rita.«
»Aber jetzt ist sie meine Mama und Timi ist mein Bruder. So.o.o…!« Mara treten Tränen in die Augen, aber sie weint nicht. Sie wirft trotzig das Steckspiel gegen das Mädchen, das im Nachbardorf wohnt und jeden Morgen von seiner Mutter mit dem Auto hier abgeliefert wird. Manchmal wird sie von der Großmutter abgeholt und manchmal kommt die alte Frau ganz grundlos herein, um mit Lubina oder auch mit der Kleinen zu reden. Sie wohnt ja gleich gegenüber.
»Mara « schimpft Rita energisch. »Das ist wirklich sehr ungezogen. Lydia hat doch Recht. Deine Mama ist krank, deshalb kann sie nicht hier sein. Und ich kümmere mich um dich – ich und Onkel Jens – bis deine Mama wieder gesund ist.«
Die Lüge drückt Rita beinahe die Kehle zu, aber sie muss Mara belügen. Der Einzige, der das Recht hat, Mara die Wahrheit über Susan zu sagen, ist Mark.
Aber genau diesen Gedanken hat sie zu voreilig gehabt.
»Papa sagt aber, du bist jetzt meine Mama.«
»Und? Wer ist dann dein Papa?«
Mara schiebt eine vorwitzige Locke aus ihrer Stirn und legt ihren Kopf trotzig in den Nacken.
»Na Papa ist mein Papa! Weil der Onkel Jens kauft mir ja nicht so schöne Sachen.«
Die kleine Mara hat ihr bisher immer ein bisschen leid getan. Für ein so kleines Mädchen ist sie mit völlig falschen Werten geschlagen. Auch wenn sie ein sehr hübsches Kind ist, sie misst der Kleidung und all den Dingen, die sie ihr Eigen nennt, schon zu viel Bedeutung bei. Anerzogen? Eine Frage des Typs?
Rita entscheidet sich für anerzogen und nimmt sich vor, die kleinen Triebe falscher Wertvorstellungen behutsam zu kappen, so wie Jens die ungeliebten Triebe an den heranwachsenden Bäumchen im Garten kappt. Jedes Jahr aufs Neue. Nur eines wird ihr schwer fallen, Mara zu sagen, dass ihr Papa in dieser Frage unrecht hat.
Rita atmet hörbar laut. Das Schlimme an der Sache ist, dass Mark eine Absicht dahinter verbergen könnte. So gesehen missbraucht er sein Kind für seine eigenen, schändlichen Interessen. Schändlich, weil total egoistisch und darüber hinaus nur vorübergehend. Soweit kennt sie Mark inzwischen.
Sie hatte zwar vergessen, dass Mark auch früher immer mal wieder Affären hatte – vor Susans Zeit – aber das alles ist jetzt ohne Belang. Jetzt lebt er in einer Ausnahmesituation. Einen Schock über sein Schicksal, in das er sich fallen sieht, könnte sie Mark durchaus verzeihen, aber diese gewisse peinliche Situation in diesen Räumen lag ein paar Tage vor Susans «Unfall».
Lubina hat nicht Wort gehalten. Erst gegen sechzehn Uhr kommt sie atemlos und im einigermaßen derangierten Zustand zurück. Zu diesem Zeitpunkt kommt auch die Großmutter von Lydia in Holzpantinen über den Dorfanger gelaufen, um das Mädchen abzuholen, dessen Mutter sich heute verspäten würde, wie sie zu Lubina sagt. Die Frauen schwatzen in einer Art Sprachen-Mischmasch, bei dem Rita zumeist verstummt, weil sie das Wendische noch immer nicht gut versteht. Oder, weil sie vom Klatsch des Dorfes nichts weiß, nichts wissen will? Aber diese beiden Frauen, diese Großmutter und Lubina, die verbindet diese Sprache, das spürt Rita.
Noch hat sie keinen Grund, ihre Anwesenheit in der Kita als beendet anzusehen. Noch hat sie mit Lubina kaum ein Wort reden können, da überfällt sie ein Quäntchen Neugier.
»Na und?«, sagt die Alte gerade, »haste nu’ was unternommen? «
»Es fragt mich ja niemand.«
»Wer soll schon fragen? Wenn keiner nicht weiß, dass ein Kerl hier war.«
Und dann sagt Lubina zu Rita – es klingt wie nebenbei - sie habe am Abend, als das Unglück mit Susan passiert ist, einen Mann gesehen, aber darüber wolle sie nicht öffentlich reden. Der Wirkung ihres Blickes kann sich Rita kaum entziehen. Verschwörerisch. Sensationslüstern. Dennoch bemerkt sie auch die fröstelnde Haut auf Lubinas Wangen. Offenbar macht sie nicht von ungefähr so vielsagende Worte. Sie redet um etwas herum, was sie viel zu gerne herausplaudern würde.
»Wann war das?«
»Gegen fünf Uhr«, verrät sie frei heraus, als habe sie auf eine Frage gewartet.
»Ein Kerl also?«
Lubina hebt abwertend die Hand und schüttelt den Kopf: »Ein huschendes Etwas.«
Rita zeigt zum Fenster hin, das zur Straße zeigt. Dort bietet sich jener Anblick, der den Kindern zur Herbstzeit am Spätnachmittag schon etliche Male Angst eingeflößt hat.
»So huschend wie das da?«
»Das ist ein Thuja – Sie können auch Lebensbaum sagen – aber das ist ganz bestimmt kein Mann.«
Rita kann mit dieser Version genauso wenig anfangen wie einst, als Lenka Kalauke im Gerangel zu Schaden gekommen ist. Man muss kein Verbrechen begehen wollen, trotzdem kann jemand ungewollt zu Boden gehen, und wenn es nur vor Schreck ist. Ein Verbrechen wäre allerdings die unterlassene Hilfeleistung. Das war damals bei Lubinas Bruder Janko vermutlich so, und das wäre jetzt bei Lubina so. Aber das wird sie der Frau nicht sagen.
»In dieser Zeit, Frau Kieschnick, fahren die meisten Autos durch den Ort, und die Schatten huschen an den Wänden herum …«
»Ein Schatten ist flach wie `ne Flunder. Und `ne Flunder war dort nicht. Es war ein Mensch mit zwei Beinen, ein Mann, so groß wie …« Lubina hebt die Stimme und zugleich die Schultern, und Rita hat das Gefühl, dass es die Frau genau auf diesen Moment angelegt hat. »…Wie Ihrer ungefähr.«
Ihre Verwirrung darf sie Lubina nicht zeigen. Die alte Frau nimmt ihre Hände vor den Mund und schaut aus weit aufgerissenen Augen von Rita zu Lubina, immer hin und her. Die Alten mögen den Jens und lassen nichts auf ihn kommen, nicht einmal von Lubina Kieschnick, wie es scheint.
»Und warum haben Sie nicht nachgesehen? Ich meine, die Kita ist doch auch Ihre Einrichtung. Niemand hätte soviel Recht, nach dem Rechten zu sehen, wie Sie.«
Lubinas gibt sich alle Mühe, ihre Züge im Zaum zu halten, aber aus ihren Augen sticht plötzlich eine züngelnde Flamme, die Rita erschaudern lässt. Offensichtlich ist es mit ihrem Kennerblick doch nicht so weither, denkt sie nur, dann wendet sie sich der alten Frau zu, deren Enkelin noch friedlich mit Mara spielt. Sie kommt aber zu keinem weiteren Wort.
»Und wenn der Jens schon zu ganz anderen Zeiten hier bei Susan Hellmann gesessen hat? Was sagen Sie dazu? Soll ich als Moralwächter die feine Herrschaft kontrollieren?« Lubina macht eine Geste, die eine kleine Erschütterung andeutet. »Nee.«
Dann schweigen die Frauen. Die beiden Alteingesessenen werfen sich vielsagende Blicke zu, und Rita versucht sich vorzustellen, wie es sein muss, derart Niederlagen hinzunehmen, wie sie Lubina hinzunehmen hatte, seit Rita sie kennt. Erst Jens, dann der junge Mann von der Agrargenossenschaft, und jetzt? Jeder weiß doch, wie sie um Mark Hellmann buhlt. Es könnte jetzt die Stunde der Lubina Kieschnick werden. Vielleicht sollte sie Mark über Lubinas Interesse an ihm die Augen öffnen, damit er sie endlich in Ruhe lässt, und sich stattdessen ….
Dieser Gedanke ist so entsetzlich gemein, dass sie vor sich selber erschrickt und alles versucht, ihn nie wieder – auch nicht einmal theoretisch – weiter zu verfolgen. Innerlich unkenzentriert sagt sie endlich den Satz, den zu sagen sie nicht mehr gekommen war.
»Also, wenn Not am Mann ist, Sie wissen, wo Sie mich finden.«
Sie nimmt Maras Mantel vom Haken und deutet der Großmutter an, ihre Enkelin holen zu dürfen. Aber Lubina stört das Ablenkungsmanöver nicht und es stört sie offenbar auch nicht, dass sie über Dinge redet, die Dritte nichts angehen.
»Ich wollte das von Jens nicht sagen. Ich wollte eigentlich …«
»Ist schon gut«, sagt Rita, aber das ist gelogen. Sie hatte ja selbst ein Gespräch in Erwägung gezogen, aber eines unter vier Augen. Jetzt steckt die Sache mit Jens unter ihrer Schädeldecke fest und rückt sich nicht von selbst gerade. Soll sie ihn schon wieder verdächtigen? Warum aber war er wieder einmal in der Nähe des Geschehens?
»Sagen Sie bitte Jens nichts davon. Bitte.« Lubinas Stimme klingt weinerlich und dennoch sehen ihre Augen nicht nach Tränen aus. Warum auch. Zwei Zicken stoßen sich die Hörner ab, aber sie flennen nicht.
»Wieso hat Jens eigentlich Sie und Susan für die Kinderbetreuung vorgeschlagen? Ich meine, das mit der wendischen Sprache ist doch nur ein Trick, um Fördergelder abzufassen. Zumindest Susan hat nicht einmal eine Ausbildung genossen, und Sie …?«
»Ist Mutter zu sein keine Ausbildung? Wer ein Kind betreut und keine wesentlichen Fehler macht, der wird auch für zwei drei andere Kinder gut genug sein. Was soll ich in meiner unglücklichen Lage sagen!«
Beinahe schreit Lubina die letzten Worte heraus, dass es Rita peinlich ist. Peinlich vor der alten Frau, die unschlüssig von einem Bein auf das andere tritt, und peinlich, weil jetzt die Augen von Lubina tatsächlich feucht werden und rötlich anlaufen.
»Ich hatte eine Fehlgeburt und kann keine Kinder mehr bekommen. Warum gönnen Sie mir die Freude nicht. Für mich ist diese Arbeit beinahe so, als wären das alles meine Kinder. Deshalb hasse ich die Vormittagsschicht auch so. Ich kann nicht einfach so nach Hause gehen, und meine Kinder zurücklassen. Verstehen Sie das?«
»Und am Nachmittag?«
Lubina dreht sich wie zum Beweis für ihre Worte zur alten Frau um.
»Am Nachmittag werden mir die Kinder aus den Händen gerissen, von den leiblichen Eltern. Eins nach dem anderen …Jeden Tag aufs Neue.«
Für einen Moment mischt sich Erstaunen mit Erleichterung in Ritas Gesicht. Das alles hat sie ja nicht gewusst, wie konnte sie da gut von Lubina denken. Warum hatte ihr Jens nichts von der Fehlgeburt gesagt. Hier kennt doch jeder jeden. Also musste man doch etwas von Lubina Kieschnicks Problem gekannt haben. Und warum stand der Vater des ungeborenen Kindes danach nicht mehr zu Lubina? Es muss einer sein, der unbedingt Kinder will. Unbedingt. Einer, der so verrückt nach Kinder ist, wie …?
Auf dem Weg nach Hause mit der plappernden Mara an der Hand, denkt sie noch einmal daran: Einer, der ein Kindernarr ist wie Jens Jedro?
Das Kinderzimmer im Erdgeschoss, das sie sehr früh für Timi eingerichtet hatten, bewohnt jetzt Mara. Freilich sind noch all die Dinge darin, für die Mara schon zu groß ist. Jens geht sehr oft mit Timi in Maras Zimmer, setzt den Kleinen auf das Schaukelpferd oder in die Plastikeisenbahn, oder er lässt den Kleinen auf dem weichsten Teppich herumkriechen, den diese Wohnung aufweist. Noch kann sich Timi bei seinen ersten Gehversuchen nicht gut auf den Beinen halten.
Als sie das Haus betritt, steht die Tür zum Kinderzimmer offen. Jens steht verzückt im Raum und winkt sofort Mara zu sich. Er hat seit Timis Geburt ein erstaunliches Gespür für Kinder entwickelt und eine Geschicklichkeit an den Tag gelegt, die so manch ein Vater vermissen lässt. Jens ist einer von der Sorte, der immer genau zu wissen scheint, wo er gerade gebraucht wird. So war das früher in der Gemeinde, so ist es noch jetzt in der kleinen Familie, die plötzlich um eine Pflegetochter angewachsen ist. Manchmal fragt sie sich, ob sie auch ohne Kind noch immer zusammen wären. Diese Frage meint eigentlich: Ob Jens auch ohne Kind glücklich wäre? Hätte er sie verlassen, wenn er erfahren müsste, dass sie keine Kinder bekommen könnte?
Nun haben sie zwei. »Unser großes Mädchen«, sagt Jens bisweilen zu Mara. Sie haben es sich nie gesagt, nichts abgesprochen, nichts geplant. Es ist, als wollen sie sich selbst beweisen, dass man ein Kind, auch wenn es nicht das eigene Fleisch und Blut ist, genauso gut zum Teil seiner selbst machen kann.
Die Vorstellung, es könnte für immer sein, wirft Rita zurück in dieselbe Unsicherheit, die sie seit Kurzem hat. Sie hat nicht mit Mara zu tun, nicht mit Jens. Ganz sicher mit Mark und vielleicht auch ein wenig mit Susan. Inzwischen ist aus der Wut gegen Mark ein ehrliches Bedauern um all das geworden, was sie von Susan zu erfahren versäumt hat.
Nicht, dass sie daran verzweifeln könnte. Sie gehört im wahren Leben nicht zu denen, die dauernd fragen: Was wäre wenn? In ihren Romanen ist das die wichtigste Frage überhaupt. Nur so kann sie sich in Situationen hineinversetzen, die sie selbst nie erlebt hat - und die sind in der Überzahl.
Sie weiß, wie sehr sie sich selbst betrügt. Noch unlängst hat sie so komische Gedanken hin und her gewälzt. Auf eine der Fragen hat sie bis heute keine Antwort: Warum haben die Kieschnick-Schwestern solch einen erbitterten Kampf um Jens Jedro geführt, und warum hat er beide verschmäht. Sie sind wahrlich nicht hässlich und sie haben beide zwei geschickte und überdies sehr willige Hände. Für das Leben auf einem Dorf bestens geeignet. Besser als ihre eigenen Hände. Wenn sie es genau bedenkt, ist Lubina sogar die Schönere der beiden Schwestern. Üppige Maße und glatte Haut, und wenn sie ein wenig geschickter auch mit ihren Frisuren wäre und mit der Kleidung, könnte die Frau etwas aus sich machen. Ihr selbst war es schließlich durch eben diese weiblichen Tricks vor Jahren auch gelungen.
Sie hat sich Jens nicht geangelt, wie man gemeinhin im Dorf getuschelt hat. Es waren die Kleinigkeiten am Rande des Lebens, die die großen Bande knüpften.
Was ist nur mit ihr los? Jens hat ihr bisher nicht den geringsten Grund gegeben, an seiner Liebe zu zweifeln, misstrauisch zu sein. Ganz im Gegenteil. Es gab eine Zeit, da war Ehrlichkeit zueinander - wie auch Treue - eine Tugend, kein Deppenstreich, wie Mark Hellmann unbedingte Treue nennt.
»Es hat heute lange gedauert«, holen Jens’ Worte sie aus ihren Gedanken. Sie hat nicht einmal bemerkt, dass er Timi wieder im Arm hält und der Kleine mit seinen Händchen nach seiner Mama greift und ihr Haar zerzaust. Sie nimmt die kleine Hand, befreit die Finger aus ihrem feuchten Haar und stupst den Kleinen an der Nase. Timi strampelt mit den Beinen und jauchzt vor Freude, als Jens ihn auf seine Schulter schwingt und dabei Mara zuruft, sie wollten gemeinsam Eisenbahn spielen. Eisenbahn spielt Mara gerne. Jens nimmt sie bei den Oberarmen und schiebt sie vor sich her, und er selbst mit dem quietschenden Timi auf seinen Schultern, verkörpern das Lokführerhaus mit der Zugpfeife.
Eigentlich mag Rita genau dieses Spiel nicht, nicht im Haus. Immerzu hat sie Angst, Jens passe nicht gut genug auf, und Timi könne sich den Kopf am oberen Türbalken einschlagen.
»Ja es war noch einiges zu bereden«, sagt sie in der Hoffnung, ihn vom unsinnigen Herumtoben abzuhalten, die das Kind gerade am Abend aufkratzt. Dass er nicht selbst dahinterkommt, ist nicht zu verstehen. Er bringt das Kind viel öfter zu Bett und bisweilen klagt er über Timis Hyper-Aktivität.
Sie legt mehr Nachdruck in ihre Stimme: »Ich habe noch ausführlich mit Lubina geredet. Es musste mal sein.«
Sie spricht nicht weiter, aber sie sieht in seinen Augen plötzlich eine Unsicherheit, einen Schrecken gar, der über das Maß normalen Interesses hinausgeht. Hätte sie ihr Leben der letzten zwei Jahre nicht eines Besseren gelehrt, dann hätte sie geschworen, Lubina könne recht haben und Jens habe eine Aktie an dem, was sie ihr anvertraut hat. Welcher Teil davon, das ist noch unklar. Sein Erscheinen am Unfallort?
Und welchen Anteil hat Jens an Lubinas persönlichem Schicksal?
Keines von beidem wäre ihr angenehm, dabei könnte sie Letzteres noch zu ihrem persönlichem Gunsten auslegen.
Noch heute wird sie mit Jens reden und wenn es sein muss, wird sie auch über Mark reden müssen.
Sie hat den Tisch gedeckt. Frische Blumen auf der hellgrünen Tischdecke. Hellgrüne Platzdeckchen für die Kinder und die buntbemalten Keramikteller, die Jens so mag. Und wieder einmal fragt sie sich, ob Mark vielleicht aufkreuzen könnte. Bis jetzt hat sie mit guter Laune den Tag verbracht. Seit Mara hier ist, hat Timi mehr Abwechslung und ist wieder zufriedener, trotz des Zahnens, das ihn für eine gewisse Zeit zu einem stressigen Kind gemacht hat. Mit dem Gedanken an einen fünften Tischgast macht ihr das Warten auf Jens, der jeden Moment kommen muss, keinen Spaß. So sehr sie Mara ihren Papa gönnt, so sehr sie beide die Kleine ins Herz geschlossen haben, so sehr wünscht sie, Mark würde eine andere Lösung suchen, eine für Mara ebenso akzeptable. Solange sie bei ihnen ist, wird Mark immer einen Fuß in ihrer Tür haben, er wird sich immer einmischen wollen, und er wird auf diese Weise ständig Kontrolle über ihr ganz persönliches Leben halten. Wie selbstgerecht Mark geworden ist. Wie anmaßend.
Wird man so, wenn und das Leben keinen Ausweg lässt?
Jens kommt allein, dennoch fragt sie ihn nach Mark und sie tut so, als sei es eine völlig normale Frage einer völlig normalen Hausfrau, die ihr Menü gerecht verteilen will.
»Was gibt es denn Gutes?«, fragt Jens zurück und neckt sofort Mara, die mit einem Latz vor der Brust in der Tür erscheint. Seit Timi einen Latz bekommt, besteht sie auch darauf, und es ist Rita ganz recht. Ein Latz erspart viel Wäsche.
Jens gibt auch Timi einen Kuss und geht zum Herd, hebt einen Deckel und schnalzt mit der Zunge. Dann verschwindet er im Badezimmer, ohne auch nur ein Wort über Mark erwidert zu haben.
Die kleingeschnittenen Nudeln für die Kinder sind abgekühlt und Jens beginnt Timi zu füttern, als Mara sagt:
»Mama Rita, wann kommt denn mein Papa wieder?«
Rita ist unter den Worten zusammengezuckt, will etwas erwidern, schluckt die Antwort aber rasch herunter. Auch Jens scheint sich an etwas zu erinnern. Offenbar hatte er gar nicht registriert, dass Rita nach Mark gefragt hatte.
»Was hältst du davon, wenn wir bald gemeinsam deine Mama besuchen fahren?«, sagt er zu Mara.
»Papa hat gesagt, Tante Rita ist jetzt meine Mama.«
»So? Na wenn das so ist, dann muss dein Papa ja gar nicht mehr kommen, dann ist er ja schon hier.« Jens streckt seine Brust heraus und schlägt wie ein Brummbär mit den Fäusten darauf herum. »Schau her.«
Er nimmt Maras Worte als einen Scherz, aber es ist Rita nicht entgangen, dass er Marks Verhalten ebenso eigenartig findet, wie sie. Was bezweckt Mark damit? Will er nur seinem Kind den Verlust der Mutter ersparen? Oder steckt da eine ganz infame Absicht dahinter?
Rita schaut an Jens vorbei. Ihr Blick saugt sich an einem Bild fest, das sie an eine friedliche Zeit erinnert, eine Zeit, als Mark noch ihre Freund war, obwohl Jens schon sehnsüchtig darauf gewartet hat, endlich Vater zu werden. Jetzt hat Jens plötzlich zwei Kinder und kommt ganz fabelhaft zurecht in seiner Rolle. Er ist der beste Vater, den Rita sich denken kann. Sogar seinen Vorschlag über den Besuch bei Susan findet sie auf einmal gar nicht mehr so gruselig.
Sie denkt noch eine Weile darüber nach, dann wird sie vom Leben in diesem Haus wieder eingefangen, von den vielen Handgriffen, die sie noch zu erledigen hat, bis die Kinder endlich friedlich in ihren Betten liegen.
Unter halb gesenkten Lidern schaut Jens schrägt zu Rita herüber. Er sitzt im Sessel, sie auf der Couch, und sie schreibt etwas in ein kleines, gebundenes Buch. Sie spürt seine Blicke, will aber nicht zugeben, wie unschlüssig sie gerade diese Arbeit beginnt, die sie von jetzt ab von Zeit zu Zeit erledigen will. Für Mara. Vielleicht auch einmal für sich selbst. Oder für Timi. Wer weiß?
Seit einiger Zeit ist sie einfach nicht mehr sie selbst. Nie hätte sie gedacht, dass irgendetwas oder irgendjemand sie in so große Unsicherheit stürzen kann. Von Mark hätte sie es am wenigsten erwartet. Es wäre ihr gar nicht in den Sinn gekommen, sich vor irgendwelchen Auswüchsen seines Wesens schützen zu müssen. Vielleicht kommt auch noch die Zeit, dass sie nachweisen muss, was sie für Mara getan hat. Man hat diesbezüglich schon viel Böses gehört.
Mark war früher schwer in Ordnung. Er hat ihrer Freundschaft stets etwas Leichtes gegeben, scheinbar abgehoben vom Boden der kläglichen Tatsachen. Ganz anders als Jens, der immer auf dem Boden der Tatsachen bleibt.
Sie hatte niemals so tiefe Gefühle für Mark wie für Jens. Ihre Freundschaft entsprang der heiteren Kumpanei, die zwischen Dienst und Schnaps aus den Köpfen flattert, die sich auch mal verfängt, die aber keinen Kollateralschaden verursacht.
»Du arbeitest noch so spät?«
»Ich schreibe ein Tagebuch. Vielleicht brauchen wir es einmal. Vielleicht, wenn Susan doch noch wach wird. Oder Mara fragt eines Tages nach dieser Zeit. Dann werden wir Rede und Antwort stehen müssen.«
Sie hat sich danach gesehnt, dass er sie fragt. Bisher war es ihr nie wichtig gewesen. Bisher konnte sie alles von sich aus erzählen. Aber jetzt – und weil es ein bisschen auch um ihn geht – kommt es ihr zupasse?
»Wenn ich nur wüsste, was an jenem Nachmittag passiert ist«, sagt sie wie in Gedanken. Sie will ihn nicht fragen: Warum warst du in der Kita? Sie will ihm nicht von Lubina erzählen. Sie traut der Sache nicht, sie traut ihrem eigenen Gefühl nicht mehr.
»Was ist, wenn Susan ihr Wissen eines Tages mit ins Grab nimmt? Dann bleibt der Fall ungeklärt.«
Rita fühlt sich mal wieder, als führe sie ein Theaterstück auf und weiß doch zugleich, dass die literarische Vorlage von irgendjemand ziemlich verfälscht wird.
»Davon muss man wohl ausgehen«, flüstert Jens und drückt die Fernbedienung des Fernsehers auf tonlos. »Weißt du, ich mache mir seit diesem Tag ziemliche Vorwürfe.« Er schaut sie an, erwartet irgendetwas von ihr, aber sie will jetzt nichts fragen. Jens schluckt und verändert sein Stimmlage, als stehe einer im Beichtstuhl und traue sich nicht, seine Sünden zu benennen: »Das Schlimme ist, Mark war an dem Nachmittag dort. Ich hatte es zuerst völlig vergessen .«
»Du hast es vergessen? Nicht etwa …verwechselt. …verdrängt«, berichtigt sie sich. Noch immer kann sie nicht Klartext reden. Sie müsste ihn fragen, ob er verdrängt hat, selbst dort gewesen zu sein. Sie kann nicht. Er ist ein zu guter Mensch, als dass sie auf das Geschwätz einer vom Leben Enttäuschten hören könnte.
»Nicht verdrängt. Ich hab es nicht für so wichtig gehalten. So einfach ist das, Rita.«
»Du hast Mark also gesehen?«
»Ja.«
»Wo warst du zu der Zeit?«
»Ich bin mit Timi zum Laden hin. Das weißt du doch.«
»Nein Jens. Timi war hier bei mir. Und du warst danach noch bei Mark. Allein. Ohne Timi.«
Er schaut ihr eine Weile mit großen Augen ins Gesicht, lächelt und bekennt:
»Stimmt. Dann war ich ohne Timi im Laden.« Und nach einem Moment des Schweigens lächelt er: »Ich hätte gar nicht gedacht, wie wichtig es sein kann, ein Tagebuch zu führen, auch ohne Geheimnisse zu haben.«