Читать книгу Als Merthe schwieg - Maxi Hill - Страница 4
Im Dorf
ОглавлениеDer Nachmittag vergeht ohne Worte. Merthe liegt wieder in den Kissen, doch sie schläft nicht. Toni sitzt vor dem Stapel Plakate am Küchentisch, taucht den Pinsel in die Farbe, setzt ihn aber nicht an der markierten Zeile an. Wenn sie jetzt einfach nach nebenan gehen und fragen könnte, was der Grund für diese Ängste ist. Sie geht nicht und auch ihre Gedanken bleiben steif in ihr hocken. Da steckt etwas ganz tief drinnen, was sie unbedacht berührt hat. Irgendetwas wühlt tief in ihrer Mutter. Soll sie wirklich daran rühren? Soll sie eintauchen in Vergangenes, das vielleicht gar nicht mehr zu ändern ist; jetzt, wo sie krank ist und ein quälendes Leid zu verkraften hat? Sie kommt mit sich überein, in irgendetwas ist sie völlig falsch verstanden worden.
Sie gibt sich einen Ruck, benetzt den Pinsel und schreibt mit lockerer Hand die ersten Zeilen. Der kleine Ruck gegen ihre schlechten Gedanken ist beileibe kein Trost für das junge Mädchen. Schon nach wenigen Augenblicken ist das alte Gefühl wieder da: Der Grund für den inneren Aufruhr ihrer Mutter ist kein gewöhnlicher. Es ist ein uralter, und der steckt in ihr fest.
Sind es die Russen? Was für ein Unsinn. Seit all den Jahren sind die Russen hier, was sollte heute anders sein? Was sollte überhaupt ein Grund sein? Es muss etwas anders sein. Wird sie ausgeschlossen von einem Wissen um etwas Grundlegendes? Ist das feste Band, das sie noch immer an ihre Mama kettet - das tiefe, seelische, das die Nabelschnur ersetzt, durch irgendetwas zerrissen? Hat sie selbst es zerrissen, weil sie sich abgenabelt hat? Weil sie Piet liebt?
Auf ihrem regelmäßigen Gesicht liegt ein Ausdruck von Verlorenheit, Minuten lang. Nie hat sie ihrer Mutter etwas verheimlicht - warum sagt sie nicht, was sie bedrückt?
Gerade als Toni so grübelt und gerade als Merthe die Lähmung ihres Entsetzens überwunden hat, klingelt es an der Wohnungstür. Holger Alex steht davor, in Motorradkluft, den zerkratzten Sturzhelm unter den Arm geklemmt.
»Ich will nur mal nach dem Rechten sehen«, sagt er und wartet nicht, bis er hereingebeten wird. Beinahe schiebt er Toni mit seiner kräftigen Statur beiseite.
Schon immer unsicher, ob sie etwas falsch macht, jetzt überdies noch schamvoll, einen der Chefs im äußerst einfachen Haushalt zu empfangen, sieht Toni willenlos zu, wie der Mann durch die Küchentür tritt. Auf dem großen Tisch, der einst der ganzen Familie Mittelpunkt war - und es gab eine Zeit, das saßen acht Leute daran, zwei Umsiedler inbegriffen - liegt der Stapel buntbedruckten Papiers. Am Pinsel klebt Farbe, die letzte Zeile ist noch nicht getrocknet, und einige fertig bearbeitete Exemplare liegen ausgebreitet auf der Liege an der Wand. Schon ruft der Mann:
»Fleißig, fleißig. Und, wie geht es deiner Mutter?«
Toni zeigt nur zur angelehnten Tür, obwohl sie ahnt, wie unangenehm ihrer Mutter der hilflose Zustand vor einem Fremden ist.
Später, weil Merthe die Sprache wiedergefunden hat, sagt auch sie ganz ruhig, dass sie nun ins Dorf fahren werde und dass sie sich bemühen will, diesmal nicht so lange zu bleiben.
Das Misstrauen ihrer Firma rührt sie weniger. Auf ihrem Weg bis zum Schuppen durchlebt sie alles noch einmal, was sie zuvor erschreckt hat. Sie dreht jedes Wort ihrer Mutter vorwärts und rückwärts, den Ton, den Blick und die machtlose Verzweiflung, hinter der sich etwas verbirgt, was Toni nicht in Worte fassen kann. Schlimmer. Sie kann dem Ganzen keine Logik abringen. Glaubt Mama, die Russen sind schuld an ihrem Leben? Glaubt sie, die Russen wollten diesen Krieg, der abertausend Unschuldige ins Verderben riss?
Sie hat die ganzen Jahre geglaubt, auch ihre Mutter ist in der neuen Zeit angekommen, in der das Bild der Sieger mit ihrer dunkelgrünen Militärmaschinerie dazugehört. Schon immer wurde die Geschichte von den Siegern geschrieben, schon immer malten die Sieger die Bilder dieser Welt mit ihren Farben aus. Das war so und wird immer so sein in der Geschichte der Menschheit.
Sie nimmt ihr Fahrrad und passiert die Siedlung: Sieben Häuser – ein kleiner Flecken für sich – abgeschnitten vom Puls der Zeit. 46 Familien kann man getrost als Nachbarn bezeichnen. Nicht wenig Menschen, aber wenig versorgt. Alles, was man zum Leben braucht, gibt es oben auf dem Hügel, wo sich das Dorf erstreckt. Drei Läden für Lebensmittel, einer für Haushaltwaren, das Kino – wenn auch nur im Saal einer Kneipe der Landfilm abgespielt wird, es ist ein Kino für die Menschen da - und zwei Kneipen mit Sälen für den Tanz am Samstag gibt es auch. Beklagen kann man sich nicht. Auch wer nicht ständig in der Stadt zu tun hat, kann im Dorf alles kaufen, was dringend benötigt wird. Keiner muss lange Wege gehen – die Leute der Siedlungen ausgenommen - um Schuhe, Bekleidung und Papierwaren zu kaufen. Drei Bäcker versorgen das Dorf und zwei Fleischer. Schneider und Schuhmacher haben ordentlich zu tun. Sogar eine Bibliothek gibt es hier, wenn auch nur an drei Tagen in der Woche für ein paar Stunden geöffnet ist.
Die Straße verläuft im großen Bogen um den Bahnhof herum. Ist sie zu Fuß unterwegs, springt sie zumeist flugs über die Gleise – verbotenerweise.
Heute hat sie das Fahrrad genommen, obwohl der Berg doch wieder abzusteigen gebietet. Während ihre Füße kraftvoll in die Pedale treten, ringt Toni nach Luft und die Kette möchte bei jeder Umdrehung dem Zahnrad ihren Dienst versagen. Auf halber Höhe, hier, wo Oma Maria einst wohnte, steigt sie ab. Wie immer freut sie sich auf die Schussfahrt zurück, wenn nur die schweren Taschen nicht das Lenken unmöglich machen.
An der Einbiegung steht eine Frau mit einem Netz hell leuchtender Frühkartoffeln. Sie hatten unlängst davon geredet, die Einkellerungskartoffeln müssten bestellt werden. Also nicht geradeaus zum großen KONSUM, sondern nach rechts zum kleinen Privathändler.
Gerade biegt sie ein in die kleine Bahnhofstraße, die ihr Abkürzung bedeutet, als auf der großen Bahnhofstraße ein dunkelgrüner Lastwagen mit dem weißen Zeichen CA angedonnert kommt und waghalsig die Kurve nimmt. CA - Sowjetarmee. Vielleicht wird Iwan jetzt abgelöst, denkt sie. Iwan und sein Genosse Jewgeni können nicht Deutsch, aber Toni kann nach fünf Jahren Unterricht ein wenig Russisch. Die beiden blutjungen Muschkoten in schweren Knobelbechern, mit harten Koppeln um die Hüften, mit Schweißrändern an senfgelben Blousons unter dicken Lodenmänteln, mit schrägen Käppis auf fast haarlosem Kopf und mit dem Gewehr über der Schulter, diese Jungen haben ungefähr ihr Alter und sie tun ihr leid. Doch diesmal sticht ein Gedanke schärfer in ihrer Seele.
Was hat Mama gegen diese armen Kerle, die auf freiem Feld bei Wind und Wetter, wie bei brütender Hitze, schon ein paar Tage vergessen an der Kreuzung herumlungern. Freilich werden sie hin und wieder einem Fahrzeug den Weg zum Manöverplatz weisen. Aber was essen und trinken die beiden und wo schlafen sie?
Die kleinen Häuser links und rechts der Straße hat sie hinter sich gelassen. Die meisten der Leute, denen die Häuser gehören, kennt sie nicht, nur eines glaubt sie noch immer: Wer ein Haus besitzt, ist reich.
Auf freier Strecke zwischen den Feldern riecht es nach verbrannten Erbsen mit Speck. Sie weiß, es ist das Gas aus dem Gasometer der Fabrik, deren Schornsteine rechtsseitig das Wäldchen überragen. Dort werden die Tunnelöfen mit Gas beheizt, um das Porzellan brennen zu können. Von einem Rundofen spricht ihre Mutter bisweilen. Toni kennt die Fabrik nur vom Schlagbaum her, wo sie als Kind sehnsuchtsvoll stand, die Zeiger der großen Uhr am Bürohaus verfolgte, die Sekunden mitzählte, bis die Sirene erklang. Aber Merthe Jacob kam immer sehr spät, später als die meisten heimwärts Hastenden. Damals hat sie diesen Geruch nicht gespürt. Er zieht nur bei nordwestlichem Wind hier herüber und steigt auf in die Höhe dieses Hügels. So wie sie die Nase in den Wind hält, fällt ihr ein ähnlich rauchiger Geruch ein:
Sie war noch sehr klein, als ein Russe zu Hause im breiten Rahmen der dunklen Küchentür stand. Er hielt zwei Laibe Brot in den Händen und eine ganze Wurst. Der Mann mit dem breiten, freundlichen Gesicht hatte seine Mütze weit aus der Stirn geschoben. Die rote Litze am oberen Rand lag wie ein Heiligenschein hinter seinem Kopf. Er strahlte über das rötliche Gesicht und sang ein paar Worte, die sie nicht verstand. Diese Wurst aber roch ähnlich rauchig, wie das Gas der Fabrik an manchen Tagen riecht. Ob es russische Wurst war? Man sagt, die Russen auf der Kommandantur bestimmten damals das gesamte Leben. Also waren es Brote vom hiesigen Bäcker und die Wurst von einem der zwei Fleischer, die das Dorf damals hatte. Die Russen, denen man in den Schulbüchern die Gerechtigkeit auf den Leib geschneidert hat, könnten es für die Hungernden konfisziert haben. Warum aber bekam nicht jeder seine Ration? Es hungerten alle Menschen. Fast alle. Dass diese Ration außergewöhnlich war, ahnt Toni, weil die Mutter den größeren Geschwistern eingeredet hatte, sie dürfen niemandem davon erzählen, nichts von dem Soldaten und nichts von den Broten und der Wurst.
Viel später erst hatte ihre Schwester Elfi die alte Kutzer sagen hören: Die Russen mögen uns Alte nicht, sie mögen nur junge Frauen und kleine Kinder.
»Mein je«, soll ihre Mutter sich erbost haben. »Ich hab΄ fünf hungrige Mäuler, und wie die sich freuen, einmal satt zu werden!«
Warum denkt sie nicht mehr an diese noble Geste eines Besatzers? Auch wenn die Leute Angst vor den Russen hatten, dieser sah fröhlich aus. Das wenigstens weiß Toni noch. Aber fröhlich von Gemüt? Oder froh gelaunt von »цто грам« – hundert Gramm, wie man zu einem gut gefüllten Glas Wodka sagte? Was weiß ein Kind über den Grund für ein aufgekratztes Mannsbild?
Viele Körnchen Erinnerung fliegen durch ihren Kopf. Zu einem Bild werden sie nicht, sie bleiben in Unordnung:
Da muss noch mehr sein, was Mama bis heute nicht vergessen kann.
Nun bedient man sich der Logik, wenn man keine Bücher hat, die einem die Klarheit bringen können. Eine Logik findet sie nicht, und in keinem ihrer Lehrbücher hat sie gelesen, was Menschen in Erstarrung versetzt, wenn sie das Wort Russen hören. Geschichtsbücher sprechen stets von einem heroischen Volk. Alles Mögliche hat sie gelesen, weniges hinterfragt, das meiste hingenommen aus der geltenden Meinung. In all den Filmen, die sie gesehen hat, war der Russe ein friedlicher Mensch mit viel Gastfreundschaft, mit großer Nächstenliebe und ohne Eigennutz.
Seit diesem Tag ist sie aufgeschreckt, will mehr erfahren über die Zeit nach der »Endzeit«, wie die Alten den Untergang ihres einstigen Reiches nennen. Sie nicht nur das Angenehme wissen, auch die herben Seiten der Sache sind ihr wichtig.
Die Händlerin fragt nach Merthe, und etwas von Anerkennung liegt in ihrem Blick. Vielleicht hat Toni ihren Entschluss, in Zukunft mehr mit den Menschen zu reden, erst in diesem Moment gefasst. Vielleicht aber lag die Absicht, über ihre Mutter zu reden, die ganze Zeit vor ihr, die sie sich abgemüht hatte, die hügelige Seitenstraße zu nehmen, ohne abzusteigen.
Die Händlerin kennt Merthe gut, und sie kennt auch Toni. Sie war es, die vor Jahren immer zum Einkaufen geschickt wurde, wenn kein Geld im Hause war und wenn angeschrieben werden musste. Toni weiß nicht mehr, wie sie sich dabei gefühlt hat, aber sie weiß noch, wie sie sich für die Schlepperei mit angeknabbertem Brot, mit ausgebrochenen und roh verspeisten Blumenkohlröschen, zuweilen auch mit abgeschleckter Sahne aus der Milchkanne gerächt hat. Mama hat es großmütig übersehen. Ihr war das allemal lieber, als die Scham der Armut ertragen zu müssen.
Noch immer stehen die Glasballone auf dem Ladentisch aufgereiht, die sie als Kind so sehnsuchtsvoll betrachtet hat. Himbeerbonbons, Schaumstücke und der Bruch von Karamelle. Nur sehr selten standen Süßigkeiten auf ihrem Einkaufszettel. Die kinderreiche Kriegswitwe Merthe Jacob brauchte die Zuckermarken zum Tausch gegen gebrauchte Kleidung, die den Kindern anderer Leute nicht mehr passte oder nicht mehr gut genug war. Toni profitierte am meisten davon. Elfi trug die Sachen von Rica ab, bis sie – mehrmals aufgetrennt und die Teile gewendet und wieder zusammengenäht - nicht mehr zu gebrauchen waren. Und Heiner, der einzige Junge, bekam hin und wieder etwas von seiner Patentante Adda, die eigentlich Marie Hering hieß. (Weil aber Heiner das Wort Tante nicht sagen konnte, blieb sie von nun an für alle die Adda.)
Damals hatte Adda im Sechs-Familien-Haus als einzige Frau das Privileg, keine Kriegswitwe zu sein. Zwar hatte sie einen Sohn verloren, aber seit Heiner auf der Welt war, diente er als Ersatz für Addas überschüssige Mutterliebe.
Solange Toni denken kann, war Inga, die älteste Schwester, schon aus dem Haus und arbeitete bei Neschwitz auf einem Bauernhof – in Stellung. Diese Arbeit junger Mädchen in fremden Haushalten grenzte zuweilen an Leibeigenschaft, gegen die dennoch niemand aufbegehrte.
»Was sagt denn der Doktor?«, will die Händlerin wissen.
»Er meint, es könnte das Herz sein.«
»Ein Wunder ist das nicht. Deine Mutter hat ein zu schweres Leben gehabt. Sie war ja nie eine von den Kräftigsten. Zart wie du war sie … «
»Ja, es ist ungerecht ... «
Sie hütet sich, vor jedem, den der Krieg verschont hat, von Ungerechtigkeit zu reden. Für wen wäre gerecht gewesen, was Merthe passiert ist? Die Kriegstreiber ausgenommen. Kein Mensch hat es verdient, am Rand des Abgrundes tagtäglich mit all seiner Kraft seinen Sturz verhindern zu müssen, während andere, schuldbeladene gar, schon wieder in der Hängematte liegen und vom Schlaraffenland träumen.
Merthes Träume waren immer profan. Sehr profan. All mein Gedanken, die ich hab, das hieß für sie viele Jahre lang nur noch: durchhalten, überleben.
Diese Erkenntnis gibt dem Bild, das Toni bisher von ihrem Leben hatte - und wenn sie Leben sagt, ist immer Mama eingeschlossen - eine starke Farbe des Zornes, was die Händlerin missdeutet, gottlob nicht im schlechten Sinne. Sie schiebt ihre Sauerkraut-Hand über den Ladentisch und drückt für einen flüchtigen Moment Tonis Hand:
»Sie ist stark. Sie schafft das schon. «
Mehr als ein schwacher Trost sind die Worte der Frau nicht.
Ja, sie ist stark, aber das Leben ist ungerecht. Ihre Nächte sind quälend, ihre Tage in dieser elenden Fabrik, wo alle Menschen krank werden, nicht minder. Staublunge nennt man die Krankheit lapidar, als könnten die Menschen den Staub einfach wieder aushusten, wenn sie sich Mühe geben. Hat sie Staublunge und man will es nicht wahrhaben? Man darf es nicht wahrhaben, wegen der teuren Kuren und Therapien, die kaum einer verschrieben bekommt? Man hört von solchen Sachen, aber man glaubt nicht daran. Diese Gesellschaft sei die menschlichere von beiden, die auf dem Boden der Verlierer wachsen. Die gerechtere Gesellschaft, das lässt Toni gelten, weil sich niemand an der Arbeit des anderen bereichert. Die Fabrik des Hermann Schomburg liegt längst in Volkes Hand und ist der Broterwerb für die meisten Menschen dieser Gegend. Elektroporzellane werden immer gebraucht, für Stromleitungen allerorts. Bruder Heiner erzählte einmal, dass die Margarethenhütte weltweit bekannt sei und ab jetzt sogar für Afrika produziere. Dafür habe man extra grüne, stumpfe Glasur zu entwickeln gehabt, damit die Affen nicht mit Kokosnüssen nach den weiß-reflektierenden Isolatoren werfen. Heiner macht gerne seine Späßchen. Ob das einer war? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur: Wenn einer so etwas wissen muss, dann ist es Heiner. Er arbeitet als Porzellandreher in der Fabrik. Er formt mit einfachen Schablonen und bloßen Händen aus der öligen Masse die mannshohen Hochspannungsisolatoren. Wenn er doch jetzt arbeiten dürfte...
Toni glaubt, die Angst um ihren einzigen Sohn macht der Mutter zusätzlich zu schaffen. Der Staub frisst die Lungen der Menschen, und die giftige Glasur ätzt ihnen die Haut. Aber das, was Heiner jetzt macht, ist gefährlich und wäre doch unnütz wie ein Kropf, wenn die Welt eine bessere wäre.
Deine Kraft gegen die imperialistische Bedrohung, und, Der Friede muss bewaffnet sein. Das waren die Parolen, und dann begannen sich Mühlen zu drehen, deren Existenz kaum einer vermutet hatte. Kaum einer fand ein Argument, warum er den freiwilligen Dienst an der Waffe verweigere. Man hielt Heiner eine Feder hin und das Papier, und die Gesten waren klar. Der Mensch hinter dem edlen schweren Schreibtisch, der noch dem alten Hermann Schomburg gehört haben musste, konnte Heiners Lebensplanung, ja seine kleine Hoffnung, mit einem einzigen Federstrich vernichten. Nach Wochen konnte Heiner nicht anders, als sich einfangen zu lassen. Das ganze Gerede von den Besten, die man an der wahren Front brauche, war nichts als ein Leimtopf für einen der vielen Spatzen, die man als Kanonenfutter im Kalten Krieg brauchte.
Diese Front liegt nun im Thüringischen, wo die Grenze quer durch das Herz des Vaterlandes sticht, durch die Herzen der Menschen gar, die schon lange keine Brüder mehr sein dürfen. Heiner, der freiwillig niemals an diese Grenze gegangen wäre, der lieber mit seinem Motorrad bis an seine Grenzen gegangen wäre, lag nichts so am Herzen, wie die Vorsicht, an einer bestimmten Stelle nicht negativ aufzufallen, aber an einer anderen, nicht als feig zu gelten. Es half nichts, wenn man auch ahnte, dass ein Gesetz in Vorbereitung war, das die allgemeine Wehrpflicht besiegeln sollte. Dieses Gesetz kam kurze Zeit später, da lief Heiner bereits durch hohen Schnee im Thüringischen und haderte mit sich und der Waffe, die er zu schultern hatte.
Toni ist alt genug, um zu wissen, dass man jedes Risiko zu vermeiden hat, dass man nicht anecken darf an den Kanten der Macht. Dennoch ist so ein Gefühl in ihr, Zeuge erpresserischer Macht zu sein. Darüber kann man als Schwester denken wie man will. Für eine Mutter ist der Gedanke an den Sohn mit der Waffe in der Hand so oder so kein guter Gedanke.
Auf einmal wird Toni klar, wie es ihrer Mutter gehen muss. Ihre Abscheu gegen alles Militärische wird auf ekelhafte Weise immer an ihr kleben. Es war unmöglich, Heiner da rauszuholen. Es hat Leute geben, die mehr von Heiners Dilemma wussten, als er seine Mutter wissen ließ, aus Rücksicht. Er hat seine Mutter nicht gefragt, ob sie einverstanden ist. Nicht einmal sein Bedauern hat er ausgedrückt. Es hätte ihr nicht geholfen. Im Gegenteil. Wenn Toni es recht bedenkt, gab es nicht viele Dinge, die Heiner mit seiner Mutter gründlich besprach – aus Rücksicht.
Jetzt, wo Toni über all das nachdenkt, muss sie sich vorwerfen, Heiner selbst nicht verstanden zu haben. Dabei war sie froh, als Heiner sein Bett nicht mehr brauchte. Seit diesem Tage hatte sie endlich ein eigenes Bett.