Читать книгу Als Merthe schwieg - Maxi Hill - Страница 5

Was ist passiert?

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Ohne es wahrzunehmen, ist sie schon wieder auf der Rückfahrt vom Dorf zur Siedlung, und da, wo es noch eben nach rauchigem Gas gerochen hatte, fällt Toni der Satz der Händlerin wieder ein: Sie ist stark, sie schafft das schon.

Jetzt ist ihr, als habe sie sich in diesem Moment sehr zusammennehmen müssen, um der Frau nicht zu sagen: Was weißt du denn schon, wie es ist, den geliebten Mann zu verlieren, fünf Kinder allein durchzubringen?

Was wisst ihr alle denn? Und als hätte sie eine ganz bestimmte Frage bei der Händlerin vergessen, schreit sie gegen den Wind:

»Was ist mit Merthe Jacob passiert. Sagt es mir. Ihr wisst es doch! «

Es ist nicht das erste Mal, dass sie glaubt, die Leute hätten ihr Gewissen im Dickicht des Wissens verborgen. Zählt Mama dazu? In diesem Falle entschuldigt die Selbstentblößung …

Diese Siedlung ist durch die Bahnlinie vom Dorf abgeschnitten und liegt eingebettet in Wald. Rechtsseitig schöner kräftiger Mischwald, links ein Wald aus hohen Kiefern. Mitten durch diesen Wald verläuft die Straße, die sie bisweilen zu nehmen hat, wenn sie mit den Rad nach Radibor zur Außenstelle ihrer Firma fährt. Hinter dem Wald ist das freie Feld, wo die armen Kerle herumlungern, ohne Wasser und Brot. Viel schlimmer kann es im Karzer nicht sein.

Wenn sie das freie Feld von hier aus nicht sehen kann, weil der Wald den geraden Blick überwuchert, so war doch jenes freie Feld lange Zeit der Rand ihrer Welt. Bis hierher und nicht weiter, hieß es für das Kind Toni an jener Stelle, wo die Geschosse des letzten Krieges Trichter in die Erde gewühlt hatten und wo jetzt Schilf aus dem Sammelwasser wächst und wo Frösche ihren Laich ablegen. Hier hat sie mit Bruder Heiner Wasserflöhe gefangen für die kleinen Fische im Blumenvasen-Aquarium, das ihm Adda geschenkt hatte. Buntglänzende Guppys und blaue Schwertfische.

Vielleicht war ihre Welt nur deshalb dort zu Ende, weil sich am Rande des Waldes, gleich neben dem Bach, der durch die Wiesen rinnt, ein goldenes Jesuskreuz zum Himmel reckt und weil die Familie mit dem Herrn nichts am Hut haben will, weil sie mit jeder Art von Herren nichts am Hut haben will.

Im nahen Wald hat sie oft gespielt, wenn auch oft mutterseelenallein. Jetzt ist ein Stück von diesem Wald einem Holzplatz gewichen und man kann vom Fenster aus bis auf die Straße blicken. Der Holzplatz gibt vier kräftigen Männern Arbeit und Brot. Erik, der Mann von der ältesten Schwester Inga, ist unter ihnen.

Im kleinen Wäldchen am Weg gleich links neben der Kurve, sind die Waldarbeiter gerade am Werke. Mit entblößten Oberkörpern ziehen sie die Schabeisen über die Rinde der abgeholzten Baumstämme. Erik ist ein gut gebauter Mann mit kräftigen Muskeln und starkem Haar. Ein Umsiedler aus Pommern, wie es viele hier gibt. Stur sollen sie sein, wie man sagt. Erik ist gutmütig, wenn auch nicht mit großer Redseligkeit gesegnet. Als Toni noch klein war, ist Erik mit ihr auf der Querstange seines klapprigen Fahrrades über die Dörfer gefahren. Daran erinnert sie sich noch gut.

Erik sieht Toni, schickt einen kurzen Blick zu ihr und gibt mit der Hand ein Zeichen, gerade so, dass es keiner der Kollegen sieht, aber klar genug für Toni.

Sie muss gleich noch den Kastenwagen aus dem Schuppen holen und die Rinde einsammeln, bevor ein anderer von dem unverhofften Segen Wind bekommt. Unter dem Waschkessel muss es ein prasselndes Feuer geben.

Merthe Jacob war wie immer weitsichtig gewesen, statt eines Leiterwagens diesen Kastenwagen anzuschaffen. Alles kann man mit einem solchen Gefährt transportieren; Holzscheite und Einkellerungskartoffeln, Knickholz und Kiefernzapfen aus dem Wald. Schiebt man die Vorder- und die Rückseite des Kastens aus der Führung, kann auch Längeres bestens verstaut werden.

»Es hat lange gedauert. Waren viele Leute da?«, quetscht Merthe heraus, als sie Toni kommen hört.

»Nein. Schöne Grüße von Frau Gerbus und gute Besserung. Ich musste ein bisschen warten; ich habe noch die Einkellerungskartoffeln bestellt …«

»Mein je … wie viel Zentner hast du bestellt …ich habe nicht daran gedacht, mein je…«

»So viel, wie uns zusteht, Mama. Die Liste musste erst gesucht werden … war aber vorhanden. Heiner steht noch mit drauf. «

Merthe sagt nichts. Die stoßweise Luft ist Antwort und Dank zugleich.

»Brauchst du noch etwas«, fragt Toni. »Soll ich dich noch einsalben? «

Auf dem Nachttisch liegt ein Schächtelchen mit Tabletten. Merthe hatte es wohl rasch unter das Deckchen geschoben. …mit Belladonna- das kann Toni erkennen. Also sind es die extra starken Tabletten, die sie nur nehmen soll, wenn sie die Schmerzen nicht mehr aushält.

»Nein, ich bin müde. «

»Schlaf nur. Ich störe dich nicht, muss noch mal weg. Auf Merka zu wird Kiefernrinde geschabt. Wenn die Beerdigung vorbei ist, können wir am Montag endlich ins Waschhaus. «

Die alte Frau Pohl hatte die Augen für immer zugemacht und es ist üblich, die Toten in ihren Särgen bis zur Beerdigung in der kühlen Waschküche aufzubahren. Der Gedanke, als Erste danach das Waschhaus zu benutzen, fällt Toni nicht leicht, aber der Wäscheberg ist bald nicht mehr zu bewältigen.

Toni mochte die Alte nie. Fürchtete sich gar als Kind vor ihr. Im dicken, großporigen Gesicht funkelten bösartige Augen, vom Kinn wuchsen Barthaare zentimeterlang, und an einer Hand fehlten zwei Finger. Man sagte, die habe sie beim Klauen eingebüßt. Schwer zu glauben, denn ihre mit Binden umwickelten Beinen gingen schleppend in stets in abgewetzten Pantoffeln. Dazu krümmte sich ihr Leib und sie stützte sich auf einen Stock. Flink war sie nur, wenn es etwas in Haus und Hof zu kontrollieren gab. Aber nun hat der Tod die Alte Pohl samt ihrer Neugier besiegt.

In solchen Augenblicken ist man empfindlich und versöhnlich zugleich. Die alte Frau hat ihr nichts getan und Toni fällt der Spruch ihrer Mutter wieder ein: Jeder Mensch ist gut, man muss ihn nur gut sein lassen.

Sie hat ihr diesen Spruch immer geglaubt, doch nun ist sein Sinn ins Wanken geraten. Ihre Mutter wäre die Letzte gewesen, die jenem Menschen die Chance zum gut Sein genommen hätte, an den sie womöglich noch immer mit Schrecken denkt. Warum war dieser Mensch nicht gut? Und womit war er nicht gut? Und warum lässt sie mich nicht gut sein zu denen da im freien Feld?

Der Kastenwagen holpert über die steinige Straße. Gerade hat der Abendzug von Bautzen nach Weißenberg Einfahrt bekommen. Er pfeift, wenn er das Signal passiert und Toni hüpft rasch noch über die unbeschrankten Schienen. Der Weichensteller hebt einen Finger zur Warnung. Sie kennt diesen Mann. Mit seiner kindischen Tochter hatte sie sich mangels anderer Mädchen ihres Alters lange Zeit in der Siedlung herumgetrieben. Zu Hause war kein Platz, nicht für fremde Kinder und nicht zum Spielen. Ein anderes Mädchen aus ihrer Klasse wohnte auch in der Nähe. Helgard. Sie durfte nicht mit Toni spielen. Sie kam aus dem Hause des einzigen Bauunternehmers der Region und man achtete drauf, mit wem sie Umgang hatte. Für den weiten Weg zur Schule allerdings schien Toni überaus geeignet, Helgard zu begleiten.

Gedankenschwer schaut sie dem Zug nach, der auf den alten Schienen wankend in den Bahnhof einfährt. Eine unbekannte Sehnsucht erfasst sie. Reisen. Irgendwohin. Mit Piet.

Diese Glut in ihr, diese zehrende Ungeduld auf den Samstag und auf Piet lässt sie die Plage vergessen, die ihr die schwere Last der Wagenladung über Stock und Stein bereitet.

Nach einer Stunde, mit zerkratzten Armen, zerschundenen Waden und lahm im Rücken, nimmt sie die letzten Meter mit schweren Schritten zurück bis zum kleinen Verschlag neben dem Schuppen am Haus. Der Tag war kein leichter, aber sie fühlt deutlich, wie gut sie daran getan hatte, auch das noch zu bewältigen, so, wie Mama das ganze Leben allein zu bewältigen hatte, was sich in andern Familien Mutter und Vater teilen.

Um Vertrauen zu finden, muss man miteinander reden. Aber Merthe braucht ebenso Ruhe wie Zuwendung.

Toni ist in einen Zustand des ständigen Grübelns geraten. Wo ist sie nur hin, ihre kindliche Unbefangenheit, ihr gewöhnliches Frohlocken, wenn sie etwas besonders gut, besonders akkurat und zur Freude ihrer Mutter erledigt hatte. Immer drängender wird ihre Neugier, die eigentlich Sorge heißen sollte. Immer konkreter formulieren sich Fragen, die nicht an die Oberfläche drücken, weil die Empfänger-Membran kurz vor dem Bersten ist. Irgendwann weiß sie, ihre Sorge ist nichts weiter als Furcht. Furcht vor dem Wissen. Furcht davor, nicht angemessen auf das Wissen reagieren zu können? Ihr ist, als würde die Vorstellung, die ihr keine Ruhe lässt, langsam alles Bisherige überwuchern.

Toni spürt die Qual des Tages nicht, nur die Scham für die unguten Gedanken, die sie gottlob noch auf der Zunge zerbissen hat.

Verflucht seien die Soldaten, die nicht dorthin gehören, weil doch kein Krieg mehr ist. Und verflucht sei jeder Tag, der sie auf ’s Fahrrad gezwungen hat. Jetzt kommt ein Leuchten in ihren Sinn: Es hat alles so sein sollen, genauso. Irgendjemand hat alles so zusammengefügt, wie es jetzt ist. Irgendjemand. Dass es nicht der liebe Gott war, ist klar. Wer oder was ist es? Schicksal?

Zum Abendbrot steigt Merthe aus dem Bett. Sie wolle mal wieder richtig am Tisch sitzen und etwas Kräftiges essen und danach wolle sie sich in eine Schüssel stellen und von Kopf bis Fuß abseifen.

Im Herd ist noch Glut, und Toni legt zwei Briketts nach, die in der Herdhöhle liegen. Sie füllt den großen Einkochtopf halb voll mit Wasser. In der eingebauten Wasserpfanne ist immer warmes Brauchwasser zur Hand, solange der Herd in der Wohnung unter Feuer steht. Aber Merthe liebt es, viel Wasser zu benutzen.

Eigentlich wollte Toni Eierplinse backen, aber nun, da sich eine ganz gewisse Gelegenheit bietet, entscheidet sie sich anders. Es hatte Salami gegeben beim Fleischer Donath. Keine echte, wie man weiß, aber hierzulande nennt man sie dennoch Salami. Frau Domsch von der Wohnung im Parterre direkt unter ihnen hatte frischen grünen Blattsalat bei sich und Toni vor der Haustür verschämt einen Kopf zugesteckt. Den bereitet sie flugs nach dem Rezept zu, wie Merthe ihn mag. Essig und Zucker und zu guter Letzt mit einem Schuss brauner Butter überzogen.

Merthe isst nicht viel, nur eben so, dass sie die Mühe der Tochter nicht missachtet. Ganz in Gedanken scheint sie zuweilen gar nichts wahrzunehmen, während Toni hellwach und noch immer lauernd auf jede Geste der Mutter achtet, auch wenn ihre Fürsorge es nicht vermuten lässt. Wäre Toni ein Mensch direkter Fragen, sie würde nicht wortlos registrieren, wie ihre Mutter isst. Die stillen Bewegungen sind gedämpft, ihre Haltung von Schwermut gebeugt. Nur ihre Augen, von Schlupflidern eingeschränkt, sehen munter aus, munterer als den ganzen verteufelten Tag über. Aber dieser Tag ist ja noch nicht zu Ende. Was sie ihrer Meinung nach tun muss, ist noch nicht geschehen.

»Dass du Salami bekommen hast«, sagt Merthe.

Auf einmal hat Toni das Gefühl, in der Haut einer Schlange zu stecken. »Weißt du noch, wie glücklich wir waren, als damals der Russe zu uns gekommen ist, mit den Broten und solcher Wurst?« Sie bereut es sofort. Andererseits hofft sie, irgendetwas könne sich daraus ergeben. Irgendetwas.

Jetzt bin ich nicht besser als andere. Nicht einmal offen zur eigenen Mutter zu sein?

Als hätten sie die Rollen getauscht sagt nun Merthe etwas, was Toni erschreckt.

»Das war etwas anderes als die Muschkoten da unten an der Kreuzung?«

Toni ist, als schrumpfe sie auf ihrem Stuhl zu jenem kleinen Mädchen, das jedes Wort der Mutter befolgte, das stets nach ihrer Hand suchte und nicht einschlafen konnte, wenn Mama nicht in der Nähe war.

»Also wirklich Toni, du solltest dich um die nicht scheren. Die haben so überkluge Vorgesetzte, die sich gefälligst um die jungen Menschen zu kümmern haben. Nicht du! «

Sie starrt ihre Mutter an und erkennt an ihrem Lächeln, dass sie es nur gut mit ihr meinen kann. Nichts sonst. Trotzdem glaubt sie, sie hat durch ihre Erschöpfung am Nachmittag etwas überreagiert und bereut es nun. Und weil sie nicht will, dass ihre Einsicht ins Gegenteil umschlägt und Toni beflügelt, doch noch zu diesen Russen zu fahren, redet sie so über die Vorgesetzte und deren Pflicht.

Leichter ist es dadurch nicht. Schließlich war es Mama, die einen so ärgerlichen Verdacht auf ihr junges Leben geworfen hat, mit dem sie allein nicht umgehen kann.

Sie heftet ihren Blick so stark auf den halb geöffneten Mund, dass Merthe nicht anders kann, als Tonis Hand zu drücken.

Vielleicht ist es die Wärme der mütterlichen Hand, viel sicherer aber überkommt sie jäh die Erinnerung an das Entsetzen in Merthes Augen, das nicht gespielt sein konnte und nicht übertrieben. Es war echt und tief und von purer Verzweiflung. Sie greift nach der Hand ihrer Mutter und drückt sie ebenso, bis der alte Teufel Neugier sein schlaues Spielchen spielt.

»Trotzdem. Du musst etwas ganz Besonderes gewesen sein, wenn ein Besatzer dich … beschenkt. «

Beinahe hätte sie aushält gesagt. Sie beeilt sich zu ergänzen: »Oder war es wegen uns fünf Kinder? «

Merthe schweigt betroffen, Toni schweigt beschämt. Merthes Nachsicht mit jugendlicher Schwäche siegt:

»Du weiß doch nichts. Was wisst ihr überhaupt, ihr Jungen. Euch erzählt man nicht alles. Es waren nicht alle gut, so, wie nicht alle schlecht waren.«

»Dann erzähl mir doch davon.«

Sie schauen sich an, aufrichtig und ohne Misstrauen, und dann erzählt Merthe – langsam und ohne jeden inneren Aufruhr - wie sie seit jeher gewillt war, die Last des gewöhnlichen Lebens zu tagen und plötzlich viele neue Lasten eines ungewöhnlichen Lebens aufgeladen bekommen hatte; aufgeladen von jenen, deren Macht über Leben und Tod entschied. Dass sie nicht die Russen meint, ist Toni klar.

Während Merthe erzählt, dämmert es draußen und Toni sitzt wie gelähmt dabei. Es ist nicht nur das Herz, das sich verkrampft; über die junge Haut hinweg zieht ein Gefühl, als ob der Winter naht.

»Wir haben gewaschen und genäht, Jackensaume verlängert und Uniform-Mäntel gekürzt, wenn sie vom vielen Schleifen im Dreck abgewetzt waren. Wir haben Russenkittel geflickt und Abzeichen getrennt und andere wieder aufgenäht. Da wird man doch einen Lohn annehmen dürfen. «

»Wer ist wir?«

»Else und ich.«

Else ist die Tochter der alten Frau Pohl und nicht halb so rassig, wie Merthe Jacob gewesen war, wenn man den vergilbten Bildern glauben kann. Auch Elses Mann war im Krieg geblieben – vielleicht von russischen Kugeln zerfetzt, wie Anton. Trotzdem galt es auch für sie zu überleben. Sie hatte es leichter, musste nur eine Tochter durchbringen und dabei half auch noch Elses Mutter – die Alte Pohl. Ihre Mama hatte niemanden. Das mit Oma Ida war eine andere Geschichte – eine beschämend andere.

»Tut mir leid Mama, ich wollte nicht … ich meine... nicht, dass du falsch denkst.«

Merthe bewegt den Kopf unbestimmt hin und her. Weder ein Nein noch ein Ja. Weder ein Nachdenken, noch ein Verdrängen. Genau so unbestimmt klingen die Worte, ohne jede Emotion gesprochen, so, als würde Merthe zu sich selbst reden:

»Der Anatoli war ein feiner Mensch. Wenn sie alle so gewesen wären … «

Ihr Blick ist fest auf einen Punkt im Nichts gerichtet, dann steht sie auf, ächzend und ohne die übliche kleine Freude auf das befreiende Bad, das man nicht Bad nennen kann, für das es aber in diesem Haushalt, wie in jedem Haushalt dieses Hauses, kaum eine andere Handhabe gibt.

Als Merthe schwieg

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