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Du bist vom anderen Schlag
ОглавлениеDen ganzen Abend kann sie an nichts anderes denken, als an den guten Herrn Holland, der mit seiner gelähmten Frau vom Schicksal hart geschlagen ist. Zwei Söhne versorgt er allein. Einen von denen mag sie ganz gut leiden. Dieser Herr Holland war trotz eigener Not manchmal sogar ihrer Mutter noch zur Seite gegangen, wenn im Garten die Frühjahrsbestellung begann. Damals hatten sie noch einen Garten, der inzwischen den neuen Häusern der Mietergemeinschaft weichen musste.
Ob Mama mit diesem Herrn Holland …? Sie atmet tief und wirft ihren Kopf in den Nacken: Kein Gedanke. Mama doch nicht.
Was in den Jahren in ihrer Familie geschehen ist, hat sie zu jeder Zeit für gut und richtig gehalten. Alles, was eine Mutter macht, ist gut und richtig. Warum sollte ihre der armen gelähmten Frau den Mann ausspannen?
Aber wenn es anders war? Merthe Jacob war eine Schönheit, die nur aus Sorge und Plage ihren Glanz verloren hat. Und wenn ein Mann mit seiner Frau nicht mehr zärtlich sein kann, weil sie mit glasigen Gliedern daliegt, vielleicht sogar bärbeißig ist in ihrem Leid und nur noch Sinn für den Pastor hat, der mehrmals in der Woche zum Gebet ins Haus der Familie kommt. Wenn dieser Mann die junge Schönheit Merthe begehrt, die selber vom Schicksal gezeichnet ist, welches Recht hat eine Tochter, das zu verurteilen?
Viel tiefer sitzt der Satz vom anderen Schlag, den die Thierses bedenkenlos in den Mund nehmen darf, was Toni für sehr lästig hält: Was heißt das, ich bin vielleicht doch von ganz anderem Schlag? Geht das vielleicht mit Mamas Groll auf die Russen zusammen?
Erst mitten in der Nacht und nach einem unguten Traum erfasst sie Unruhe. Ein unsäglicher Gedanke kommt wie aus dem Nichts:
Ich bin vom anderen Schlage. Ich bin das Kind eines Fremden, nicht das von Anton? Kann ich deshalb für meinen Vater keine innige Liebe empfinden? Ich kenne ihn ja nicht einmal – bin später geboren als Vater gefallen ist. Vielleicht hat jemand die Zeiten geschönt …?
Bin ich vielleicht das Kind eines Russen? Die Tochter von diesem lächelnden Anatoli mit der Salami? Warum hat man mich Toni getauft? Warum nicht Antonia, wenn ich die Tochter von Anton bin. Antonia ist kein schlechter Name.Anton: Toni? Anatoli: Toni? Sie spitzt ihre Lippen und formt ganz leise und mit kaum einem Hauch, der ihr dabei entweicht: Anton –Toni; Anatoli – Toni?
Neben ihr liegt Merthe still in den Federn. Sie rührt sich nicht in dieser Nacht und Toni rührt sich nicht. Sie krümmt den geschwächten Körper unter der Decke und weint in die Kissen. Sie war nie sehr stark, aber bisher von guten und freien Gedanken beseelt. Jetzt ist ihr, als sei sie vom hellen Licht einer reinen Kindheit gerade in ein dunkles Verlies gestoßen worden, aus dem sie keinen Ausweg sieht. Wie kann sie einen so bösen Verdacht an ihrer guten Mutter zulassen?
Die Nacht ist so tiefschwarz, dass die Fenster den Schimmer des Himmels verlieren. Sie ist froh, die Wäsche unter Dach und Fach zu wissen, dennoch kämpft sie gegen eine neue Plage, die Plage der Seele. Sie steckt den Kopf unter der Decke hervor, macht ihren Körper lang und lauscht in die Nacht. Blitze zucken und geben dem Zimmer für Sekunden die triste Kontur zurück, die das Zimmer wieder vertraut machen. Das Grollen des Donners lässt nicht lange auf sich warten und Toni weiß, jetzt wird der Schlaf noch warten müssen.