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Das Leben ist ein mieser Zeitgenosse

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Es sind die einfachen Dinge des Lebens, die Menschen zusammenhalten lassen. Ein Gewitter gehört in diesem Haus dazu. Nicht lange, da sind die vertrauten Stimmen zu hören, draußen im Treppenhaus. Die Mieter der oberen Wohnungen hören den Donner sehr stark und glauben der Gefahr viel näher zu sein.

Frieda Schreck sitzt als Erste auf der Treppe. Sie lebt allein, ist irgendwie steif mit den kantigen Hüften und staksigen Beinen, von denen man denken möchte, sie seien aus Holz geschnitzt. Danach kommt Christa, die hübsche fünfundzwanzigjährige Enkelin der alten Frau Kutzer. Wenn die Alte, die dürr und hart ausschaut, in aller Herrgottsfrühe sich in derben Schuhen zum Kirchgang rüstet, holt sie Toni an jedem Sonntag aus dem Schlaf. Neben der Großmutter sieht Christa reizvoll aus, mit ihren hellen Locken und den feinen Zügen im blassen Gesicht, aber Christa ist krank. Ihre Lunge hat sich nie erholt. Seit der Flucht der Großmutter mit Christa und deren Schwester Cilli aus Breslau ins Sächsische, weil die Russen kamen, hustet Christa schon. Trotzdem raucht sie Zigaretten am Stück.

Christa hat keinen guten Ruf im Dorf. Man sagt, sie nimmt es mit der Liebe nicht so genau. Seit kurzem weiß Toni mehr davon. Christa hat ihr erzählt von dem jungen Mann, der oben im Dorf wohnt und der ihre große Liebe war, und wie sie sich von ihm betrogen fühlt. Nicht sie habe Schuld an ihrem Ruf. Die Menschen im Dorf hätten ihren Ruf zerstört, hingebogen, wie sie es brauchten. Einer Dahergekommenen steht ein junger Mann aus gut situierter Familie nicht zu. Mit bösen Verleumdungen habe man Christas Liebe zerstört, bösgläubig, weil sie keine von hier ist. Weil sie eine Umsiedlerin ist.

Ein kräftiger Einschlag ganz in der Nähe lässt nicht nur Toni erbeben. Auch die Grete von nebenan kommt polternd aus der Tür gestürzt, schiebt ihren massigen Körper ächzend am Geländer entlang und lässt ihn auf die dritte Stufe in der Außenkurve gleiten, dort, wo die Trittflächen am breitesten sind und wo ihr opulentes Hinterteil gerade ausreichend Platz findet.

Toni späht durch den Türschlitz und ist unentschlossen. Wie kann sie es anstellen, einfach auf Menschen zuzugehen, sich zu ihnen zu gesellen, als sei sie eine von ihnen, trotz ihrer jungen Jahre.

Auch Merthe kommt mit schleifendem Gang aus dem Zimmer geschlichen, zieht sich den gestreiften Bademantel über, der noch Anton gehört hatte und der trotz seiner abgewetzten Stellen in Ehren gehalten wird. Merthe schickt sich an, für die schlimmste Zeit der nahen Einschläge mit nach draußen zu gehen. Toni streicht ihrer Mutter das zerzauste Haar am Hinterkopf glatt, holt rasch ein Kissen vom Sofa und die kleine Fußbank, die neben dem Küchenherd steht, auf der Mama schon immer am liebsten sitzt – schon damals, als sie ihre Sorgen noch mit Tabak zu ersticken versuchte. Bei offenem Ofentürchen rauchte sie, die Knie bis an die Brust gezogen, den Rock schützend über die Waden gezupft, und sie stierte wie in Trance in die Glut.

Ein neuer Einschlag ganz in der Nähe. Es habe die große Eiche erwischt, mutmaßen die Frauen, die Merthe freudig in ihrer Runde empfangen. Der Schall grollt lange nach, scheint sich in der Ferne zu brechen und kommt noch einmal zurück, als wolle er gar nicht verstummen. Das ganze Haus erzittert und Toni geht es ebenso. Und dann erlischt das Licht. Es ist vollkommen dunkel, so dunkel, wie die Finsternis im jungen Gemüt, das auf diesen Tag noch keine Antwort kennt, das am Ende der Nacht aber ein kleinwenig klüger sein wird.

Nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal mit dem Blick eines erwachsenen Menschen, hört Toni zu, wie ihre Mutter über deren Heimat redet, über deren Jugend und die Zeit als Kind. Sieht sie in keines Menschen Gesicht, überlässt sie sich ganz dem Gefühl, in jedem Wort ihrer Mutter sich selbst zu erkennen, glaubt sie, sie steht neben ihr, reicht ihr die Hand und begleitet sie als beste Freundin in alle Winkel dieses Landstriches, den das Kind nie gesehen hat – nie sehen durfte, weil eine willkürliche Grenze sie hindert.

»Diese Gewitter hier sind doch nichts gegen die aus meiner Kindheit«, sagt Marthe. In ihr Gesicht huscht ein Funkeln, das nichts von dem Kerzenlicht hat, das die einzige Funzel ins Treppenhaus streut, die Grete flugs auf dem Fensterbrett des Flures aufgestellt hat. Diese funkelnden Punkte in Merthes Augen haben etwas von einer Sorte Freude, die Toni seit langem bei ihrer Mutter nicht mehr gesehen hat. Man spricht heutzutage nicht von dieser Gegend, aus der Merthe einst gekommen ist, auch wenn sie viel früher als die vielen Umsiedler aus Schlesien das Sächsische bevorzugt und auch eine Arbeit gefunden hatte.

»Im Isergebirge … mein je … da tobten die Gewitter ganze Tage und ganze Nächte lang. Und der Donner erst. Das Grollen rollte lange über die schroffen Gipfel der Berge und zurück ins Tal und wieder hinauf. Und dann der Regen … Als schütte der Himmel seine Seele über aus. Anders als hier. Und der Queis trat über die Ufer. Mein je …Wir wohnten am Fluss. Als wir Kinder waren, zogen wir Schuhe und Strümpfe aus, warteten, bis das Wasser durch unseren Hausflur geflossen kam und wir die Forellen mit bloßen Händen fangen konnten. War das ein Fest. Und ein Spaß. «

Merthe wischt mit der Hand über ihr Gesicht, als hole sie Bilder in klares Licht. »Der Queis war ein friedlicher Fluss, aber er konnte zerstörerisch sein. Was für Bächlein gibt es hier im flachen Land … mein je. Erst als ich zehn Jahre alt war, fing man an, die Talsperre Goldentraum zu bauen. Zu unserem Schutz ... «

»Wo war das genau? «, will Christa wissen, deren Heimat Breslau die Hauptstadt Schlesiens gewesen ist. Breslau kennt Toni nicht, aber Wrozław, dieser Name ist ihr bekannt.

»Friedeberg«, sagt Merthe, »Kreis Löwenberg. Es ist … es war ein schönes

Städtchen. Und bekannt. Friedeberg war eine Handelssiedlung. Vollgestopft mit Webereien und Weberhäusern, wie überall in Niederschlesien.« Merthe gibt ihrer Stimme mehr Kraft: »Strümpfe aus Friedeberg hatten Weltruf. Sie gingen bis Amerika. «

»Du bist doch keine Umsiedlerin«, sagt Grete, die um einige Jahre jünger ist als Merthe. Sie kennt Merthe Jacobs Leben nur vom Hören-Sagen der anderen. Grete wohnt mit ihrem Sohn und der alten Mutter noch nicht sehr lange in diesem Haus, arbeitet aber in derselben Fabrik, wie beinahe jeder hier. Sie ist Helferin beim Roten Kreuz und von daher Toni seit langem bestens bekannt. Zu Tonis Kinderzeit fuhr Grete manchmal mit ins Betriebs-Ferienlager, als Krankenschwester, wie man sagte.

»Ich bin schon lange vor dem Krieg nach hier gekommen«, sagt Merthe, so, wie sie immer nach hier sagt. »Ich war Weberin, bis ich von da wegging. Aber es war ja nicht weit weg. Nicht so weit wie heute. Heute ist es weit weg. Unerreichbar weit. «

»Möchten Sie nicht noch mal Ihr Elternhaus sehen, Frau Jacob? «, fragt Christa.

»Ich würde etwas darum geben. Ohne Erinnerungen an die Kinderzeit ist man amputiert, abgeschnitten von seinen Wurzeln. «

Merthe schluckt schwer. Es gibt da etwas, was Toni verstehen kann und es sich selbst niemals vorstellen könne. Merthes Mutter – Oma Ida – war nach der Vertreibung von Schlesien bei ihnen untergekommen. Aber es hatte später ein Zerwürfnis gegeben und Ida war zu ihrer Enkelin Hilde in ein anderes Dorf gezogen. Wie kann es sein, dass Mutter und Tochter sich feind werden?

»Wir waren Berg- und Waldmenschen«, sagt Merthe »Der Blick von unserem Haus auf den Hohen Kamm oder den Zackenkamm, das war mein Lieblingsblick. Man hatte von den Gipfeln einen fantastischen Panoramablick «. Sie atmet tief, ehe sie weiterspricht. »Kein Vergleich mit hier. Trotzdem bin ich hier im sanften Land angekommen. Ich fühle mich hier zu Hause, auch jetzt noch. «

Sie schweigt und man ahnt, warum ihr Blick nach unten gerichtet ist.

»Anton war ja einer von hier«, sagt Frieda Schreck, als wüsste sie genau, dass Merthe nicht mehr über ihren Mann sprechen kann. »Er war ein feiner Mann, der Anton«, sagt sie mit schriller Stimme zu Toni, die die ganze Zeit über da sitzt und lauscht und doch nichts gegen ihre innere Zerrissenheit tun kann, als Mitleid zu fühlen und Achtung vor dem Mut, den sie aufgebracht hat, von zu Hause wegzugehen, warum auch immer.

»Manchmal ist man klüger, man geht den schwersten Weg, als einen Steinschlag in Kauf zu nehmen«, sagt sie und Friedas Kopf wippt wissend:

»Wer weiß, wie er dich dort getroffen hätte … «

»Ja, wer weiß. Aber hier war es auch nicht leicht, allein mit dem Kind. «

»Es war ja nicht lange, dann hattest du Anton. «

Schweigen. Betroffenheit? Abwarten. Dann sagt Merthe mit brechender Stimme: »Es war auch nicht lange, dann hatte ich Anton nicht mehr.«

Die Nacht kriecht dahin und niemand hat bemerkt, wie das Gewitter wieder davongezogen ist. Nur der Regen fällt noch, kräftig und reinigend. Das elektrische Licht ist noch immer nicht da, die Dunkelheit im Treppenhaus bleibt, und irgendwie ist Toni das Vertraute heute fremd, aber das Fremde aus ihrer Mutters Mund klingt ihr heut vertraut, als habe sie es immer gewusst: Sie ist mit Inga aus Schlesien geflüchtet- lange vor dem Krieg. Inga ist von einem anderen Mann und wegen Inga ist sie in die Fremde gegangen. Aus Scham? Oder aus Furcht vor jemandem, der ihr Böses wollte?

Wie passt das zu Mamas Weisheit: Jeder Mensch ist gut, man muss ihn nur gut sein lassen?

Inzwischen findet sich Toni mit dem Gedanken ab, dass ihre älteste Schwester Inga nicht Antons Tochter ist. Er hat Merthe trotz fremdem Kind geliebt, weil auch er das Kind eines anderen Mannes war, als seine jüngeren Geschwister Gerhard und Trudchen. Ein Österreicher soll es gewesen sein, sein Vater. Vater? Erzeuger.

Jetzt ist auf einmal eine Helligkeit in ihrem Kopf, die aus der Kindheit rührt. Diese Worte von Papa hatte Inga in frühen Kindertagen aufgeschnappt und sie später einmal Rica erzählt und die wiederum hatte auch Merthe einmal etwas darüber sagen gehört, als sie wütend auf Großmutter Maria gewesen war. Die halbwüchsige Rica damals, wie auch Toni jetzt, wussten nicht, warum Mama damals wütend auf Oma Maria gewesen war. Aber Toni hatte seit ihrer jungen Liebe zu Piet eine Vorstellung davon, wie die junge Merthe leiden musste, als sie den geliebten Mann verloren hatte und nun mit fünf Kindern allein dastand.

Die Nacht ist nur kurz, und nach und nach wird ihr das eigene Grübeln lästig. Du sollst nicht hadern um das, was du nicht zu verantworten hast. Waren das nicht die Worte ihrer Mutter, als sie sich verantwortlich fühlte für fremdes Vegetieren an einer unwirtlichen Kreuzung? Du sollst dich nicht verantwortlich fühlen, für das, was du nicht ändern kannst, denkt sie nun selber, wieder eingerollt in ihre Bettdecke, und sie lauscht auf den Regen, der westseitig an die Fenster prasselt.

Nicht zum ersten Mal dreht sich eine Frage in ihrem Kopf um und um:

Bin auch ich das Kind eines anderen Mannes? Eines Russen?

Sie spürt, wie der Zweifel gegen ihre Mutter, die bedingungslose Liebe, die Anhänglichkeit des Kindes, sogar ihre Fürsorglichkeit - die nicht die verflossene Zeit der Kindheit, wohl aber die greifbare Zeit ihres Erwachsenwerdens durchmisst - langsam erstickt.

Die Tränen nach schlechten Gedanken sollen reinigen, wie der Regen nach dem Gewitter. Das Gewitter hat seine Pflicht erfüllt, Tonis Tränen aber haben noch tiefere Furchen für noch größere Zweifel in ihre Seele gegraben.

Warum nur? Solange sie lebt, kennt sie nur Opfer und Güte der Mutter und sie war nie das ungeliebte Kind.

Als Merthe schwieg

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