Читать книгу Als Merthe schwieg - Maxi Hill - Страница 6
Die Last des gewöhnlichen Lebens
ОглавлениеWenn es je eine Unbekümmertheit in diesem Hause gegeben hat, dann war es zuallererst Toni, die Kleinste, der man zugestanden hatte, von den Widrigkeiten des Lebens noch keine Notiz zu nehmen. Sie hat nie Ausnahmen beansprucht, doch jetzt in ihrer untrüglichen Ahnung, die Schwelle zum Erwachsensein überschritten zu haben, ist es ihr, als verliere sie gerade, was sie im Grunde doch nie besessen hat - Sorglosigkeit.
Sie läuft zum Schuppen und schaut über den Wäscheplan auf die offenen Fenster der Siedlungshäuser, hinter denen die Leute den Sonntag begehen.
Am Vortag hatte man die Alte Pohl begraben und über Nacht war die Betrübnis der letzten Tage aus der Siedlung wie weggeblasen. Am offenen Fenster spielte Paul Gruhl zum ersten Mal wieder besonders laut und besonders lange auf seiner Harmonika, weil sein Spiel einige Tage lang der Pietät hat weichen müssen. In dieser Gemeinschaft bedeutet sie den Menschen noch etwas. Nebenan hackt einer Holz zu passgerechten Scheiten. Kurt Vorbeck, ein sehr einfacher und ebenso fleißiger Mann. Weil er selbst das K nicht sprechen kann, nennen ihn alle »Turtel«.
Toni blinzelt in die Sonne. Nur wenige Wolkenfetzen treiben am Himmel und dazwischen kreisen die Segler von Klix mit ihren federleichten Gleitern.
Kurt Vorbecks Nachbar ist unter den Seglern. Zu diesem Mann schauen die Leute auf, selbst wenn er unter ihnen weilt und nicht lautlos am Himmel schwebt. Dabei ist der nicht halb so fleißig wie Kurt Vorbeck und lässt gerade wegen der Fliegerei seine Familie viel zu oft allein.
Zum ersten Mal seit langem hat sie das Gefühl, seine verstockte Frau verstehen zu können. Einsam heißt nicht, allein zu sein. Einsam ist man im Kopf, so, wie diese junge Frau trotz ihrer beiden Kinder wohl ziemlich einsam ist, und so, wie Toni in diesem Moment einsam ist. Piet ist nicht gekommen, stattdessen Egon mit dem Lastwagen vom Armeestützpunkt. Heimlich. Für Piet, wie er meint.
Drei Wochen Ausgangssperre.
Einer von den Obersten des kleinen Postens hatte beim letzten Ausgang Piet mit Toni gesehen, als sie fern ab vom Dorf über die Wiesen spazierten. Piet trug keine Uniform. Er hasst sie geradezu. Und die Kleidung von Heiner passt ihm und hat der Sicherheit des Staates nicht geschadet, aber Gehorsam ersetzt des Soldaten Logik. Piet hat den Befehl nicht befolgt.
Der Tag mit ihrem Liebsten hätte so schön werden können. Nun ist er angefüllt mit allerlei Vorbereitungen für den großen Waschtag.
Den ersten schweren Sack Kiefernrinde wuchtet Toni vom Schuppen über die Wiese und dann schleift sie ihn treppab zum seitlich gelegenen Waschhaus hinunter. Zurück – treppauf - mit leeren Händen. Waschbrett, Stampfer und Holzlöffel stehen im Keller, den man nur vom umseitigen Hauseingang her erreicht. Um das Haus geflitzt, zu viel auf einmal genommen. Verdammt. An der Giebelseite die schmale Treppe wieder zur Waschküche herunter. Toni denkt bei sich: Wie hat man nur den schweren Sarg der Alten Pohl hier herauf bugsiert?
Noch ein Sack derbes Holz ist nötig und auch der Holzbock für die Waschwanne steht noch im Keller unter der Treppe. Sogar die Waschwannen aus Zink, die in der Kellernische stehen, kann sie allein bewältigen, doch es fehlen noch die Holzbottiche, die über Nacht mit Wasser zu füllen sind, weil das Holz quellen muss, damit die Ritze dicht werden.
Das Brennholz ist schwerer als die trockene Kiefernrinde. Sie gibt auf und weiß zugleich, sie muss lernen, Leute um Hilfe zu bitten. Das kann sie nicht. Noch nicht.
Päckchenweise reiht sie erst einmal das Waschpulver auf dem Fenstersims der Waschküche auf. Sil zum Einweichen. Milwa zum Abkochen und Waschen. Imi für Wäschestücke mit groben Flecken. Sie legt den Wasserschlauch in die Zinkwanne und dreht den Hahn auf, derweil es noch einmal treppauf geht zum Schuppen hin, um noch ein paar große Stücken Rohkohle in den Korb zu sortieren. Die Glut muss halten, bis alles erledigt ist. Der Kessel ist der einzige Warmwasserspender.
Es ist nicht das erste Mal, dass sie »große Wäsche« hat, aber das erste Mal ganz allein.
Solange, wie sie hin und her flitzt, schauen im Nebenhaus zwei Frauen aus den Fenstern ihrer Wohnungen. Die alte Frau Thierse ist dabei. Ihre Arme auf ein Kissen gestützt, genießt sie die Sonnenstrahlen auf der Südseite des Blocks. Toni glaubt, die Thierse mag sie nicht, findet aber auch keinen plausiblen Grund dafür. Solange sie denken kann, wohnen die Leute im Nebenhaus. Es sind die Großeltern von Peer und seinem größeren Bruder Claus. Die beiden Alten haben die Söhne ihrer Tochter erzogen; von deren Mutter hört man kaum.
Sie wirft den Kopf in den Nacken und flitzt umso schneller hin und her. Auf einmal gibt es einen Grund, für das unsägliche Gerenne über den Wäscheplatz zum Schuppen hin und zurück zur Waschküche. Nur ihr Gang auf der anderen Seite des Hauses geht etwas gemächlicher vonstatten. Hier kann sie von der Thierse nicht beobachtet werden. Noch einmal muss sie über den Plan, wo sie vom Nebenhaus gesehen wird. Die Thierse schneidet eine Grimasse, so, als wisse ein Kind nicht, ob es lachen oder weinen soll. Toni schaut weg und flitzt um das Haus herum, dem Abgang zum Waschhaus zu.
Es sind die Gedanken, die ihr immer wieder im Leben kommen: Sie hat sich ihr ganzes Leben lang nur einfache Dinge gewünscht. Erfüllbares. Nichts Unmögliches. Satt zu essen. Leidliche Kleidung. Und vor allem Gerechtigkeit und Gleichheit. Sie kann nichts dafür, dass sie nicht auf der Siegerseite in diese Welt hinein geboren wurde. Verlierer werden gerne übersehen, sofern sie nicht Übel verbreitet haben. Jedenfalls hat sie der Alten nichts getan, nicht einmal in ihrem Garten etwas stibitzt, obwohl sie bisweilen sehnsuchtsvoll die reifen Pfirsiche beäugt hat, oder die Pflaumen verführerisch weit über den Gartenzaun hingen. Toni hat nie der Lockung reifer Früchte widerstehen können, zu selten standen sie auf dem spärlichen Speiseplan ihrer Kindheit. Aber verlocken ließ sie sich nicht. Allein war sie zum Stehlen zu feige. Und meistens war sie allein, trotz ihrer vier Geschwister …
Minuten später überlegt sie, wie sie den verdammt schweren hölzernen Waschzuber, den Frieda Schreck ihnen meistens ausleiht, aus dem Keller hinauf und am anderen Ende des Hauses wieder die lange Treppe hinunter bugsieren könnte, als ein Lachen ertönt. Rica und ihr Mann Willi reden mit der Thierse. Rica lässt es sich nie nehmen, nach dem Rechten zu sehen, sooft es geht.
Bald darauf ist auch das Problem gelöst. Willi ist ein drahtiger Kerl, schlank und zäh, mit ewig grinsendem Gesicht. Ein ganzer Kerl, macht nichts halb, ist hart im Nehmen, aber mit weichem Herzen. Sie mag ihn. Er packt zu, muss nie gebettelt werden, sieht selbst, wo ein Mann gebraucht wird. Trotzdem hat Willi immer einen Scherz auf den Lippen.
Am Montag quillt dichter Dampf aus der schmalen Tür und schlägt oberhalb an das Fenster, hinter dem bisher die Alte Pohl schlief. Toni sieht die Hand vor ihren Augen nicht, solange der Kessel mit der Weißwäsche kocht. Über den großen Plan sind kreuz und quer schon die Wäscheleinen gespannt. Diesem Haus steht der größte Teil des Wäscheplanes zu. Es gibt keine sichtbaren Grenzen, aber jeder kennt sie und sie werden akzeptiert.
Die Leinen zu spannen, das hat man als Erstes zu tun, bevor man sich der Prozedur des Waschens zuwendet. Das Revier markieren, das man beansprucht und auf das man automatisch Anspruch hat, wenn man Waschhausnutzer ist.
Inzwischen ist die erste Kesselfüllung fertig gewaschen, drei Mal gespült und kräftig ausgewrungen. Zum Glück hat Frieda Schreck die Wringmaschine am Zuber belassen. Die Kurbel zu drehen ist auch nicht leicht, aber das Verfahren schont die Handgelenke, die für den Rest der Woche ohnehin nicht gut zu gebrauchen sein werden. Wie soll sie danach nur die vielen Plakate schreiben, die für eine Haushaltwarenmesse in Königswartha gebraucht werden. Der Pinsel liebt eine leichte Hand. Vielleicht sollte sie stempeln? Geht nicht. Es dauert dreimal so lange und Stempelfarbe ist nicht wasserfest. Das aber müssen die Plakate sein, weil sie an Laternenmasten und Gartenzäunen aufgehängt werden.
Kommt Zeit kommt Rat, denkt sie, summt ein Lied vor sich hin, holt eine der Wäschestützen in ihre Nähe, nimmt den letzten Bettbezug aus der Kiepe, um ihn auf die Leine zu hängen und mit der Stange abzustützen, als ihr jemand auf die Schulter klopft. Es ist kein Schreck, der sie durchfährt. Eher ein Gefühl von ertappt Sein, für das es keinen anderen Grund gibt, als ihr Gesumme. Sie stellt sich aufrecht und es wird ihr ein wenig neblig von der Anstrengung. Dann erkennt sie die Thierse. Wie immer sieht die Frau alt und streng aus. Mit müdem Gesicht aber kräftiger Statur steht sie vor ihr mit dem Blick eines Menschen, der Verbotenes tut. Der Thierse-Blick schweift über die Fenster des Hauses, aber ihre Hand zieht über den Körper, als bekreuzige sie sich. Nur mit den Augen lächelnd streckt sie Toni etwas entgegen. Tonis Augen sind geblendet vom Weiß, das die Wäsche in der Sonne abstrahlt. Sie kann nur ahnen, was sie sieht, und sie ahnt, dass die Thierse heute einen passablen Tag hat. Noch nie hat sie wirklich Worte mit Toni gewechselt. Heute hält sie Schokolade hin und sagt auch noch:
»Du bist doch kein Riese. Soviel Wäsche. Ganz allein. Mach mal ab und zu eine Pause.« Heute drückt sie sogar Tonis Hände mitsamt dem Inhalt fest zusammen. »Iss sie ja allein. Das macht fröhlich und stärkt dich. «
Toni bringt kein Wort heraus, schaut nur, wie ihre ausgelaugten Hände die Schokolade umfassen. Es fühlt sich ekelhaft an, das Papier auf der schrumpeligen Haut. Und es ist ihr ekelhaft zumute. Sie bekommt keine Reihenfolge in die hastigen Worte der doppelt beschürzten Frau, die wie hingeworfen klingen. Dann läuft die Alte zurück mit wackelndem Kopf, als sei ihr die letzte Vernunft abhanden gekommen.
Frau Thierse muss es sehr eilig gehabt haben, dass sie nicht einmal die Kochschürze vom Leib gezogen hat, denkt Toni. Die alten Frauen hier tragen zwei Schürzen übereinander, wahrscheinlich, um in Windeseile mit sauberer Schürze da zu stehen, wenn es plötzlich nötig werden sollte. Ganz ohne Schürze hieße vor aller Welt, Müßiggang zu treiben.
Wie Toni der Alten hinterher schaut, wackelt der junge Kopf auf dem jungen Leib beinahe ebenso, wie der Thiersesche gewackelt hat. Zu einem Schluss kommt er nicht. Er denkt nur: Jedermanns Lob könnte ihr die Kraft verleihen, die sie noch brauchen wird für den mühevollen Tag, aber das Lob der Thierse?
So wie sie mit den Wäschestücken kämpft, die in der richtigen Richtung aufgehängt werden müssen, damit der Wind durch die Knopfleiste in das Innere blasen kann und die Kissen aufbläht, als würden sie noch mit Daunen gefüllt sein, so glüht Tonis Gemüt. Warum mochte Frau Thierse sie bisher nie leiden? Und warum heute?
Sie läuft zur Hauswand und greift eine Stütze, die sie keuchend mittig der Leine platzieren muss, damit die langen Laken nicht auf der Wiese schleifen. In ihrer Schürze die Schokolade stört, und wenn sie ehrlich ist, stört es sie noch mehr, dass sie nicht hinter Thierses Beweggrund kommt.
Mit der Kraft, die sie braucht, um die Leine mit der feuchten Wäsche mit starkem Ruck anzuheben, denkt sie daran, was ihre Mutter manchmal sagt:
Liebe dich selbst, dann können die Anderen dich gern haben.
An dem Tag hat sie den Sinn dieser Worte endlich begriffen.
Toni hat gar nicht gemerkt, dass längst Mittag vorbei ist. Ein Großteil der Wäsche flattert im Wind und die ersten Waschzuber stehen zum Trocknen hochkant an den Wäschepfählen auf der Wiese, so wie es Brauch ist, und wie sie es selbst nicht verstanden hat, wenn es die Frauen früher so hielten. Jetzt versteht sie es noch immer nicht, aber Mama wird es gefallen.
Die steht im Bademantel am offenen Fenster und schaut herunter. Immer, wenn Mama ans Fenster tritt, muss sie niesen. Das war schon früher so, als sie noch Kinder waren und auf der Wiese spielten. Ohne sie zu sehen, wussten die Kinder Bescheid.
Heute sagt sie mit ziemlich leiser Stimme für diese Entfernung: »Die Suppe ist warm.« Es klingt gepresst, als habe sie etwas zu verbergen. Vielleicht hütet sie sich vor dem Eindruck, sie sei in Wahrheit gesund und drücke sich nur vor der Arbeit.
Toni ist zuerst froh, ihre Mutter am Fenster zu sehen, dann aber wieder nicht. Das schlechte Gewissen, der Hunger könnte sie aus dem Bett getrieben haben, schleicht sich ein.
Die ersten Wäschestücke sind trocken und gehörten abgenommen, und gleich mit nach oben genommen zu werden. Ihrer Mutter wird sie verbieten müssen, die abgenommene Wäsche anzurühren. Sie wird es nicht lassen können, sie glatt zu legen, so, wie es für die Mangel erforderlich ist.
Merthe Jacob hat ein größeres Problem damit, dass Toni auch die Wäscherolle allein bewältigen muss. Aber es muss ein.
»Du sollst doch nichts machen …«, ruft sie scheinbar gedankenlos nach oben, doch auch ihre Worte sind nichts als Rechtfertigung vor unsichtbaren Ohren. »Ich komme gleich. Drei Minuten noch.«
Das Wetter hält, ihre Laune ist gut, ein wenig Stolz liegt in ihr und sie denkt, dass diese Plage das unabänderliche Los einer Hausfrau ist. Wie ist nur Mama allein mit all der Mühe fertig geworden, als wir noch Kinder waren?
Das sind die Fragen einer Heranwachsenden. Doch noch am selben Tag wird es eine neue Frage geben, eine, für die eine Antwort nur mühsam zu finden sein wird.
Es ist schon dunkel, kaum ein Licht gibt es hier draußen vor den Häusern. Nur oben an der Straßenecke eine einzige Laterne. Peer vom Nachbarhaus kommt mit dem Rad angebraust.
»Du bist ja noch nicht fertig«, sagt er.
»Und wenn ich eben erst anfange?«, kokettiert sie.
»Du schinderst schon seit gestern herum, sagt Oma.«
»Deine Oma hat heute einen verdammt guten Tag.« Toni stellt die Kiepe zu ihren Füßen ab, dass das Weidengeflecht knarrt.
»Da bin ich aber anderer Meinung«, grinst Peer, doch es klingt nicht freundlich.
»Wenn man Schokolade von jemandem bekommt, obwohl der keinen guten Tag hat, muss etwas Besonderes passiert sein.«
»Ach so«, sagt Peer gedehnt. »Oma meint, sie hätte dir das gar nicht zugetraut, das mit der vielen Wäsche und so ... Zu Opa hat sie gesagt, du bist eben doch von einem anderen Schlag.«
»Ich weiß, dass deine Alten mich nicht mögen. Grad darum wundert mich die Schokolade.«
Peer fummelt plötzlich am Pedal herum. Die nächsten Worte presset er heraus: »Opa sagt eigentlich nie etwas über euch. Aber Oma …Na ja, wegen dem Holland. « Beim Reden drückt er den Dynamo vom Rad, der noch eben ganz passabel gesurrt hatte.
Der Fluch des Lebens erwischt einen immer, wenn es einen gerade mal richtig gut zumute ist. Nicht im Körper, aber im Geist ist sie den ganzen Tag über rundum mit sich zufrieden gewesen. Nun bringt es ein einziges Wort fertig, sie wieder nachdenklich zu machen.
»Was hat denn Herr Holland mit mir zu tun? «
»Mit … deiner Mutter …«
Es ist schon duster, aber sie merkt, irgendetwas hat sich verändert in Peers Gesicht.
Licht fällt aus dem Zimmer der verstorbenen Frau Pohl, wo Tochter Else mit dem Umräumen beginnt. Peers Lippen ziehen sich schräg, seine Hand wischt fahrig durchs Haar, dann fährt er weiter …