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Judith

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»Das erste Mal wurde ich mit 25 Jahren aus der Gosse geholt«, sagt sie ganz leise, als verrate sie ein lang gehütetes Geheimnis.

Der Umzug von Bautzen nach hier — der Arbeit wegen — habe sie belastete. Sie sah ihren Freund kaum noch, und der hatte bald eine Andere. Verlassen zu werden, zerrte an den Nerven. Dann machte er Schluss — per SMS, die übelste Form, die man kennt. Judith griff zur Flasche, um zu vergessen. Alkohol wurde ihr neuer Freund, doch das Vergessen gelang nicht. Als sie unverhofft in Bautzen auftauchte – sturzbetrunken – flog sie raus, und seitdem wollte auch ihre Familie nichts mehr von ihr wissen. Noch hatte sie eine Anstellung, doch der Alkohol verschlang ihr Geld. Die Mietrückstände wurden immer größer. Schließlich flog sie aus ihrer Wohnung und in dieser Folge aus ihrem Job. Es half ihr keiner, weil sie nicht reden konnte. Niemals für sich selbst. Im nüchternen Zustand — und den gab es bisweilen — war ihr bald klar, was passieren würde, wenn sie so weitermachte. Sie brauchte einen Halt, und den fand sie in Ulli, einem charmanten Kerl, der sich bisweilen in ihrer Nähe herumtrieb. Ein stadtbekannter Alkoholiker, wovon sie lange Zeit nichts wissen wollte, wie sie sagt, obwohl sie ab und zu mit ihm trank. Ullrich Konz hatte eine kleine Wohnung, schäbig, mit Blick auf die kahle Wand eines dunklen Hinterhofes. Sie zog zu ihm und bekam bald ein Kind, das alles änderte. Jetzt erfuhr Judith, was häusliche Gewalt ist, die sie nie zuvor erfahren hatte. Doch von Ulli loszukommen, fiel ebenso schwer, wie vom Alkohol zu lassen. Die Fürsorgestelle riet ihr zum Entzug.

»Ich dachte, das krieg ich mit kaltem Entzug selber hin«, sagt sie, ein wenig lächelnd. »Doch das war Selbstbetrug. Das kriegst du nicht hin, wenn um dich herum alles säuft.«

Judiths Augenlider flattern unruhig. Isa fragt sich insgeheim, ob es ihr selbst gelingen würde, so über eigene Schwächen zu reden. Allein das ist es zu dieser Stunde wert, der jetzt so freimütigen Frau geduldig zuzuhören.

»Sie brauchen einen strukturierten Tag«, warnte die Fürsorgerin, und hatte nur das Kind im Blick, für das sie sich zuständig fühlte. Für mich fühlte sich niemand zuständig.«

Judith zieht die Schultern an und schaut auf den Boden, dessen Spuren von Sand verkünden, dass ihr Tagwerk noch nicht vollbracht ist. Ein kleiner Ruck lässt sie weiterreden: »Das musste auch niemand. Jeder ist selbst seines Glückes Schmied wie auch sein eigener Sargnagel. Ich hätte eher Ulli vergiften können — und manchmal war ich nahe bei — als die Kraft aufzubringen, einfach zu gehen. Wohin sollte ich denn? Ich hatte kein Geld und keine Wohnung. Ich wusste was passiert, wenn ich …« Judith schluckt schwer: »Nun hatte ich doch den Kleinen.«

»Warum war es so schwer, sich helfen zu lassen?« Judith lächelt schräg: »Waren Sie je abhängig? Nicht, dass ich Alkohol meine. Überhaupt abhängig.« Sie wartet keine Antwort ab. Isa weiß sie längst. Kein Mensch bekennt sich zu einer Sucht, zu welcher auch immer. Und die hat viele Namen: Alkohol, Bulimie, Spielautomaten, Internet, Sex …

»Als ich nicht mehr weiter wusste, ging ich zur Therapie. Aber das verschlimmerte die Lage noch. Ulli hat mich wohl deshalb ständig geprügelt. Er konnte nicht ertragen, dass ich es schaffen könnte, und ich habe ihm damit auch noch Recht gegeben. Ich hasste ihn und brauchte ihn zugleich, und ich wusste nicht, was stärker war. Bald bin ich kaum noch auf die Straße gegangen … hatte ja ständig blaue Flecken, Blutergüsse und einmal sogar einen Schlüsselbeinbruch.« Judith zieht mit ihren Zähnen die Oberlippe ein und wartet lauernd.

»Beziehungsabhängig«, flüstert Isa und Judith nickt. Es dauert, bis sie mit feuchtem Blick gesteht: »Der schlimmste Schlag kam noch: Das Jugendamt nahm mir den Sohn weg. Er kam zu einer Pflegefamilie. Er, der Vater von Tobias, hat nichts unternommen. Ihm ging das Kindergeschrei vom ersten Tag an tierisch auf die Nerven …«

Alle drei Monate durfte Judith ihrem Sohn einen Kurzbesuch abstatten. Doch dann zogen die Pflegeeltern nach München. Das lag für Judith unerreichbar in einer anderen Welt.

»Es war grausam. Aber insgeheim dachte ich, ab jetzt wird es wenigstens mit Ulli besser klappen. Das war eine verdammt Illusion. Als er mich beinahe zu Tode geprügelt hat, bin ich endlich weg. Erst auf die Straße. Dort lebte ich Monate lang, bis der Winter mich in die Notschlafstelle trieb. Etwas Besseres konnte mir gar nicht passieren. Dort herrschte Alkoholverbot.«

»Wie lange ging das gut?«

»Gut geht es bis heute nicht — nicht verlässlich. Wenn man so allein ist, muss man höllisch aufpassen. Aber zum ersten Mal seit langer Zeit kümmerte sich nun wieder jemand um mich — und das Beste ist, ich kümmere mich wieder um jemand. «

»Das ging einfach so?«

»Nichts geht einfach so. Die Beratungsstelle hat mir einen Termin beim sozialpsychiatrischen Dienst vermittelt und sie meldete mich beim Jobcenter wegen Hartz IV an. Jetzt habe ich wieder eine eigene Wohnung und …« Ein Strahlen kommt in das blasse Gesicht: »Ich durfte Tobi zu mir nehmen. «

»Welch ein Glück«, lächelt Isa und weiß doch nicht so genau, ob es für das Kind tatsächlich ein Glück ist.

Gedankenschwer läuft Isa an diesem Tag zurück in ihr liebevolles Zuhause. Judith bleibt in all ihren Gedanken. Ein Glück, dass sie mit ihr gesprochen hat. Das Sprichwort aus Afrika bewahrheitet sich wiedereinmal: Du weißt nicht wie schwer die Last ist, die du selbst nicht trägst.

Ob sie dort im Café je Vagabundo antrifft, ist unklar. Auch Judith ist sich nicht sicher, ob sie beide denselben Mann meinen. Sie wollte sich aber umhören und wenn nötig einen Vorstoß wagen. Das will Isa nicht. Irgendwie muss sie den Mann diplomatisch dazu bringen, mit ihr zu kooperieren. Schlimmstenfalls auf subtile Art und Weise. Am besten sie schreibt erst einmal weiter und überzeugt ihn mit ihrer Art, die Lage zu beurteilen. Sollte es nicht gelingen, muss sie mit sich selbst ins Gericht gehen.

Gary wartet zu Hause schon auf Isa, aber sie erzählt ihm nichts von diesem Tag, der längst in Dunkelheit gehüllt ist. Sie will ihm nicht schon wieder einen Anlass für Ironie geben.

Ein Pechvogel im Visier der Schnüffler

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