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Gutes Leben — schlechtes Leben

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Samstagabend. Sie laufen am Bauzaun entlang, Isa und ihr Mann Gary. Seit Jahren kaschieren Bretter das Unvermögen der Stadtoberen, ein Bauvorhaben zu Ende zu führen. Der Abriss der Pavillons aus den siebziger Jahren war rasant gegangen. Jetzt zerfurchen öde Narben das Gesicht der Stadtmitte. Einst krümmte sich eine Brücke über das satte Grün der Wiese. Üppige Blütenrabatten zogen sich darunter durch und weiter längs der Stadtmauer entlang. Dann forderten einige Meinungsmacher, die Relikte aus der ungeliebten Epoche der Arbeiter- und Bauernmacht müssten weg. Jetzt erträgt man seit Jahren klaglos den löchrig-hölzernen Bauzaun, von dem zwischen abscheulichen Graffitis zerfetzte Plakate herabhängen.

Es ist ruhig in der Stadt.

»Wo bleiben die vielen Menschen?«, fragt Gary. »An eine Großstadt kann man nicht mehr glauben.«

Früher flanierten viele Leute in der Abendstunde durch die grünen Promenaden, erfreuten sich an den kunstvoll gestalteten Schaufenstern oder suchten einen Platz in einem Restaurant. Freilich reichten die Plätze nie aus.

»Mir macht es nichts aus«, sagt Isa. »Den Luxus, sofort einen freien Tisch zu bekommen, haben wir damals immer ersehnt.«

Gepflegt essen zu gehen war ein Luxus, den sich jeder bisweilen leistete. Eine Frage des Preises war es nicht. Auf die edlen Zutaten kam es an, für die man diverse Beziehungen brauchte.

»Ich mag den Überfluss genauso wenig wie den Mangel«, bekennt Isa. Gary zieht die Schultern an, zumindest heute gibt er ihr Recht:

»Wer hätte damals gedacht, wie Überfluss die Beziehungen der Menschen hemmen kann. «

»Sag nicht, im Mangel liebten wir uns mehr …«

»Nein. Nachbarn und Kollegen waren enger miteinander. Man redete mehr und gab sich ehrliche Tipps, wo etwas zu ergattern war, oder wie das Leben leichter ging. Wer redet heute im Fahrstuhl noch über mehr als über Lapidares: Das verrückte Wetter. Die heutige Jugend. «

Isa hakt sich bei Gary unter und versucht, seinen Schritt zu halten.

»Veränderung bringt immer auch Ungewolltes mit sich«, sagt sie. Worte über die Zeit, wenn das Nachtleben pulsiert, wenn die Bars und Diskotheken öffnen, erspart sie sich. Es ist nicht ihre Zeit. Seit Langem meidet sie die Stadt zu später Stunde. Es ist zu unsicher geworden. Schlägereien gehören zur Nacht genauso wie Überfälle, Diebstähle und Einbrüche. Daran will sie heute nicht denken. Wie lange waren sie nicht mehr aus. Gary fehlt gänzlich die Lust und ihr fehlt die Kraft, ihn mitzureißen. Heute hat er überraschend seine übliche Nörgelei über die Anzugordnung gelassen: Krawattenzwang ist ein Fall für die Menschenrechtskommission. Diese Ignoranz ist sie gewöhnt. Er beherrscht sie genauso, wie er aufmerksam sein kann. Die Krawatte hat er umgebunden, ihr zuliebe. So ist er eben.

Die tief stehende Sonne taucht den Altmarkt in goldrotes Licht. Es ist mild, und es ist die Zeit, wo man bald wieder unter den Bäumen vor den alten Giebelhäusern sitzen kann. Isa nimmt sich selten die Zeit dafür, obwohl ihr gerade der Altmarkt gut gefällt, seit man ihm — gegen die vielen Kritiker — neuen Charme eingehaucht hat.

Sie laufen ostwärts. Bei der Kirche war in einem der prächtigen Bürgerhäuser bis vor zwei Jahren eines der vielen Bankhäuser zu finden. Heute ist ein Grieche der Hausherr, und den hat Gary für diesen Abend ausgesucht.

Sie überqueren die Gertraudtenstraße, als Isa zusammenzuckt. Da steht einer mit einem großen bunten Beutel neben den hohen Pflanzkübeln. Den dunkelhaarigen Kopf in den Nacken gelegt, so fixiert sein Blick den Glaskasten an der Wand. Die Speisenkarte? Noch ehe sie näher kommen, trottet der Mann davon — nach vorn gebeugt, als ziehe ihn der schwere Plastikbeutel hinab. Mit ausgetretenen Schuhen, mit hängenden Schultern unter dem graugrünen Mantel, mit einer stauchenden aber sauberen Hose. Schamvoll, weil sie ihn gesehen hat? Ihr ist, als gäbe er seinen Schritten mehr Kraft. Er schaut sich nicht um, geht seinen Weg der ungewissen Nacht entgegen. Am Gerichtsplatz schwenkt er gänzlich aus ihrem Blick.

»Das war er«, tuschelt Isa aufgeregt. »Dieser Obdachlose, von dem ich dir erzählt habe.«

Gary scheint sie gar nicht gehört zu haben. Er hält die Tür und lässt sie eintreten.

»Wer weiß, ob der heute schon etwas gegessen hat.«

Keine Reaktion. Gary ist bemüht, einen angenehmen Platz für sie zu suchen.

Im Restaurant ist es noch geruhsam. An zwei Tischen flackern Kerzen. Die kleinen Lampen an den Wänden der Nischen leuchten den Raum nicht aus. Sie bleibt einen Moment stehen, um sich zu gewöhnen.

»Guten Abend.« Vom Tresen her hört sie den fremden Akzent in der Stimme des Kellners. Kaum kommt sie zu Atem, da erscheint der Mann mit zwei eiskalten Schnäpsen und fragt nach der Bestellung.

»Für mich bitte einen weißen Martini«, sagt Isa. Und dann fragt sie den Mann, warum es in einem griechischen Restaurant keine Mousakka gibt.

»Weil Deutsche zu wenig essen Mousakka. Wir wollen nicht jeden Abend Mousakka aufessen. Wir können nicht nächsten Tag noch einmal aufwärmen, und für Schweine ist zu teuer.«

Sie drückt stets ein Auge zu, wenn ein Fremder nicht korrekt spricht. Sie selbst hat drei Fremdsprachen gelernt und kann nicht eine nur annähernd so gut.

Inzwischen empfiehlt der Kellner ein Gericht aus den gleichen Zutaten — Hackfleisch, Auberginen, Creme Bechamél. Es sei als Einzelportionen in Fett gebacken und heiße Paputsaki. Das nimmt sie, und Gary entscheidet sich für Bifteki.

Es war zu erwarten, dass sie vorzeitig passen muss. Diese Portionen sind selten zu schaffen, aber Gary zuliebe verzichtet sie darauf, eine Portion für den kleinen Hunger zu verlangen. Er — der stadtbekannte Hochschuldozent — möchte nicht als Pfennigfuchser gelten.

Vor ihrem noch halbvollen Teller sitzend, bemerkt sie, dass auch Gary vorzeitig streikt. Ihre Wangenmuskeln verhärten sich.

»Mundwinkel nach oben, mein Schatz!« Da ist wieder dieser Satz, der sie bisweilen aus der Fassung bringt. Sie weiß, wie wenig sie es noch immer beherrscht, die bleierne Schwerkraft ihrer ärmlichen Kinderstube einfach hinwegzulächeln. Und es macht sie wütend, wenn ausgerechnet er das missdeutet.

»Ja. Es macht mich wütend …Es macht mich so wütend …«, zischt sie. »Wir schaffen unsere Portionen nie, aber da draußen hungern Menschen. «

»Ich hab schon gemerkt. Kein guter Tag heute?«

»Der Tag ist gut. Diese Welt ist es nicht.«

»Ach. Noch immer das Afrika-Syndrom? Du kannst nicht die ganze Welt retten. Das hast du doch gelernt.«

»Die Welt vielleicht nicht, aber den einen oder anderen.«

Gary blinzelt schadenfroh: »Hättest ihn wohl gerne mitgenommen.« Er grinst dabei, aber nicht das erbost sie. Er hatte sie also genau verstanden, vorhin, als er sich taub stellte.

Sie liebt ihren Mann, wenngleich mit den Jahren das Begehren der Verantwortung Platz macht. Bisweilen stellt sie sich gegen ihn, weil ihre Überzeugung eine andere ist. Gerade ist es mal wieder soweit, aber Gary ist mit seiner Ironie noch nicht am Ende. Mit listigem Augenschlag sagt er: »Sieh es mal so: Der Kerl hatte doch gar keinen Schlips um. «

Ihre Augen blicken weder feurig noch matt; sie sehen kühl aus, aber nicht feindselig. Nur ihr Mund hat etwas von der Verbissenheit behalten und ihre Tonlage ähnelt dieser. Obwohl sie bei seinem Seitenhieb ihre Lippen breit zieht, klingt zwischen ihren Worten große Besonnenheit mit, um die sich Isa stets müht. Jetzt ist nicht der Moment, wo sie mit ihm in Wortgefechte verfallen möchte. Wenigstens ihre Augen lässt sie schimpfen, als sie flüstert:

»In Afrika haben wir geholfen, weil denen unser Verstehen schon Hoffnung machte. Solange Hoffnung in ihnen war …«

Er muss spüren, wie sie das wir widerwillig herausquetscht.

Gary wird deutlicher. Wieder einmal.

»Ging es dir wirklich um deren Hoffnung? Ging es nicht vielmehr um deine Selbstbestätigung? Und jetzt wieder. Eigensinn ist ein schlechtes Almosen.«

Im Handumdrehen spürt sie kein Schlagen mehr in ihrer Brust. Es ist ein wildes Rütteln, ein Getöse zwischen den Rippen, das ihre Bestürzung verstärkt. Es ist wie ein Déjà-vu. Alles kehrt wieder zurück. Nur an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit.

Garys Feststellung hat zweifellos Berechtigung. Im gleichen Maße, wie sie ihre Ohnmacht damals im schwarzen Land zu hassen begann, war sie auch von einem Gefühl erfüllt, das man schlechthin Gewissensnot nennt. Nicht sosehr, weil sie in der Fremde nicht über die Mittel verfügte, die nötig gewesen wären, sondern weil sie nicht wusste, was wirklich sinnvoll war. Und wieder einmal weiß sie es nicht. Heute und hier noch weniger.

Die Familie der Flüchtlingsfrau Ntumba nahm damals alles dankbar hin, was sie ihr heimlich brachte, aber sie erbat sich nichts. Niemals. Sogar auf die immer gleiche Frage, was sie ihr bringen soll, erwiderte sie, es sei gut, was sie bringe. Warum sollte dieser Mann mit dem schleppenden Gang anders sein? Ob er schon den Text gelesen hat?

Mit einem Schlag wird ihr etwas klar, was sie nie offen eingestehen wird. Gary hat Recht. Ihr geht es nicht um fremde Hoffnung. Ihr geht es um ihr eigenes Seelenheil. Sie muss etwas tun, um ihrer selbst willen.

»Ich habe längst begonnen zu schreiben. Manchmal löst das für einen von denen etwas aus. «

Gary lacht, wie er manchmal lacht und wie es ihr nicht gefällt. Im Tonfall gleicht es einem seiner Scherze, die ihm bisweilen sehr leicht von den Lippen rutschen. In der Bedeutung sind es Peitschenhiebe. Isa versteht sie genau als solche. Ihr glühendes Gesicht hätte sie verraten müssen, doch Gary sieht nichts darin als weibliche Vermessenheit.

»Ich wusste es.« Er streckt seine Hand über den Tisch und legt sie auf ihre.

»Schreib, wenn es dir hilft. Aber recherchiere nur dort, wo du sicher bist. «

Sie mag diese kranke Vorsicht nicht, die in allen Menschen steckt, wenn sie von Obdachlosen hören. Aber Gary und kranke Vorsicht, das passt nicht zusammen. Zwar mag sie auch seine Art nicht, mit ihr umzugehen, aber es ist weder die Zeit noch der Ort, um hitzig weitere Grundsätze auszutauschen.

Damals vor diesen notdürftigen Hütten im schwarzen Land musste sie sich zurücknehmen, durfte keine Hoffnung schüren, die nicht zu halten war. Hier gibt es keinen Grund, sich abzuwenden, Gefahr zu wittern, die dort nicht zu bestreiten war.

Diese bairros zu besuchen war ihnen verboten! Und es war in der Tat ein gefährliches Terrain. Im rechtlosen Raum gedeihen rechtsfreie Gedanken. Wenn es ums nackte Überleben geht, wird gefeilscht und geneppt, und dort im Hinterhof der Welt ging es dabei zuweilen hitzig zu. Wahrhaben wollte sie es nie.

»Wir helfen Marco, von dem wir so gut wie nichts wissen«, hatte sie damals zu Gary gesagt. »Warum nicht einigen von denen, deren Elend wir sehen?« Damals meinte sie eine Familie von den Kriegsflüchtlingen in den unwürdigen Hütten rund um die Stadt.

»Es geht nicht darum, nicht helfen zu dürfen. Wenn du einmal angefangen hast, hängen die an dir wie die Kletten. Schau dir diese Masse an. Willst du zwanzig durchfüttern. Oder hundert? Oder tausend?«

Man kannte solche Worte. Die, hatte er gesagt. Die, das waren die Hoffnungslosen, die von einem winzigen Tröpfchen warmen Regens nicht übermütig werden würden.

Bisweilen auf ihrem Schleichweg zurück vom bairro hatte sie sich frei gefühlt, als habe sie eine verdammte Schuld beglichen.

Seit sie jetzt diesen Goethe-Leser kennt, fühlt sie sich wieder schuldig, nichts zu tun. Dieses Gefühl kriecht so tief unter ihre Haut, dass sie sich schämt, zu jenen zu gehören, deren gleichgültiges Wegsehen die Ungerechtigkeit verschärft. Jeder Mensch ist ein Grundrechtsträger, jeder hat ein Recht auf Würde. Gary sagt: »Jeder hat auch ein Recht, so zu sein, wie er selbst es möchte.«

Wer möchte bloßes Existieren? Und wer will dieses Vegetieren noch Leben nennen?

Schon am nächsten Morgen auf dem großen Platz schlägt ihr wieder der ganze Wohlstand entgegen. Die halbe Stadt scheint auf den Beinen. Schlendernde, hetzende, suchende Menschen drängen sich durch drei Reihen wild gemischter Buden, Stände und Verkaufswagen. Der Ramsch billiger Textilien, den Inder oder Vietnamesen feilbieten, stößt sie ab. Niemals würde sie an einem dieser Stände ein Stück der Massenware kaufen, das gar unter unwürdigen Zuständen in Bangladesh produziert wurde. Das Gemüse aber liegt frisch und gut geordnet, wenn auch in solcher Menge, die kaum an einem Tag ihre Käufer finden kann. Trotzdem kauft sie bei einem der drei Vietnamesen gerne ein. Kein deutscher Händler steckt ihr einen Bananen-Bonus in den Beutel, wie auch kein deutscher Gastwirt eine Zugabe ausschenkt. Heute kauft sie nicht ein. Sie hat etwas anderes vor.

Ein Gärtner bietet struppige Zweige der Korkenzieher-Weide an. Ostern ist nicht weit. Sie hat noch nicht an Ostern gedacht. Gewöhnlich denkt sie beizeiten daran, und gewöhnlich holt auch sie sich das Grünzeug ins Haus, der Entfaltung wegen. Wo ist es hin, das gewöhnliche Leben. Was ihr Nachbar mit Eifer verfolgt, gerät bei Isa Benson gerade zur Nebensache. Ein ganz anderer Eifer ist ihr in die Glieder gestoßen, hat ihr auf lange Zeit Stoff zum Grübeln und Forschen beschert.

Ihr Blick auf den Schlund der Einkaufspassage bringt wieder Besinnung auf den Tag, der nichts Gutes und nichts Schlechtes bringen wird, dessen Stunden — eingeteilt in das profane Leben — schneller vergehen werden, als ihr lieb ist.

Gleich bei der großen Tür, die wie von Geisterhand schließt und wieder aufspringt, blühen im künstlichen Beet erste Tulpen und Narzissen. Doch es riecht nicht nach Frühling. Der Duft von Kaffee und Fettgebäck schwebt durch die Mall. Ein Kiosk mittendrin zieht seine Kunden an. Je näher sie kommt, desto stickiger wird der Dunst von Käse auf warmer Pizza, von Zwiebeln auf frischem Mett. Nichts für ihre Nase und nichts für ihr Gemüt. Da sitzen sie und rauchen und trinken schon früh am Morgen. Wartende auf die rechte Zeit für ihren Tagesplan, Harrende, deren Tag nicht zu planen ist.

Den Gerüchen rasch entfliehend, stößt es ihr heiß in den Kopf. Die Einkaufspassage ist vielleicht ein guter Platz, um auszuruhen vom langen Marsch durch den Tag. Aber sie ist kein guter Platz, wenn die Düfte den Speichel locken, den Magen täuschen, die Därme aufwühlen. Kein Wunder, dass sie Vagabundo hier noch nie gesehen hat.

Vorsichtshalber hatte sie ihre Fragen schriftlich an die Sekretärin der Amtsleiterin geschickt. Der Leumund städtischen Beamtentums hat ihr diese Notwendigkeit eingeimpft. Wenn sie das Leben etwas gelehrt hat, dann schreibt sie die größte Enttäuschung stets ihrer eigenen Erwartung zu. So auch an diesem vorösterlichen Morgen.

»Ich bin Frau Weber«, sagt die gutmütig blinzelnde Frau, die ihr die Tür geöffnet hat. »Darf ich Ihnen Frau Deichmann vorstellen. Unsere Amtsleiterin.«

Diese Vorzimmerdame — eine nette, mittelblonde Mittfünfzigerin — zeigt ihre soziale Kompetenz in jeder Geste. Sozialamt gerecht.

Sekunden später sitzt eine dunkelhaarige, um einiges jüngere Frau vor ihr — attraktiv und ebenso wenig sauertöpfig, wie man es ihr glaubhaft versicherte. Auf den ersten Blick dürften die Betroffenen hier gut aufgehoben sein, ist Isas erster Gedanke. Aber wann hält schon der erste Blick, was er verspricht. Wären sie in dieser Welt gut aufgehoben, müsste sie nicht hier sein.

Die Büros, die unzählig von den langen, sauberen Gängen abgehen, sind hell und zweckmäßig. Es ist angenehm warm, und die Chefin des Amtes — Marlen Deichmann, so steht es auf dem Namensschild am Schreibtisch — fragt Isa, ob sie einen Kaffee wünscht oder ein anderes Getränk. Nein. Sie ist noch nicht so lang aus der Business-Mühle heraus, dass sie vergessen hätte, wie knapp bemessen die Zeit ist und wie wenig wichtig ein Buch für das wahre Leben ist, dem man hier zu dienen hat. Freilich ist sie zweifelnd: Vielleicht sieht im warmen Raum bei kühlem Licht der städtischen Machtzentrale die Lage der Betroffenen gar nicht sonderlich bedrohlich aus. Vielleicht ist sie im Beurteilen der Lage anderer Menschen auch längst nicht mehr gerecht …

Die Frau ist ebenso intelligent wie verständnisvoll. Abbitte ist nicht vonnöten. Alles, was die Frau ihr erzählt — sogar hilfreich aufgeschrieben hat — hinterlässt den Eindruck, als Autorin, die ein Unrecht beklagen will, ist sie hier auf dem falschen Weg. Ein falscher Weg kann das Richtige erklären, wenn er sich letztlich als dienlich erweist.

Zu guter Letzt sagt die Frau: Die Stadt agiere, wie es die Gesetze vorschreiben und wie es den Strukturen gerecht werde. Mehr noch. Frau Deichmann versichert ganz ohne Pathos: Sie tue alles, was in ihrer Kraft stehe. Sie würde handeln, bevor das Kind in den Brunnen fällt. Meistens.

Betreten von diesem Eindruck kommt Isa der Besuch wie Bettelei vor, wie ein Heischegang, wie ein Raubzug gegen kostbare Beamtenzeit. Plötzlich fühlt sie sich sonderbar unwichtig.

»Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen. Als Autor braucht man direkte Kontakte«, sagt sie merkwürdig zögernd in das nickende Gesicht. »Die Stimmung. Die Menschen. Das ganze Für und Wider. Bevor ich anderswo das echte Leben erforsche, möchte ich unbedingt die tatsächlichen Bedingungen dieser Stadt erfragen.«

Frau Deichmann verweist mit Kennermiene auf ihr Pamphlet.

»Wir sind sehr gut aufgestellt. Seit Jahren haben wir keine Kältetode zu beklagen. Die enge Vernetzung schließt aus, dass jemand durchs Raster fällt.« Sie schlägt die Augen nieder und zupft an ihrem dunklen Haar. »Es sei denn, er will keine Hilfe.«

Garys Worte komme in ihren Sinn: Jeder Mensch hat ein Recht, so zu sein, wie er selbst es möchte. Gary, der Pragmatiker.

Die Frau erhebt sich wortlos und geht zur Tür.

»Frau Weber, bitte mal die Telefonnummer von Herrn Pracht.«

Kurz darauf reicht sie Isa einen kleinen Zettel mit einer Nummer und redet, als ob sie selbst sehr gern an einem Buch über ihre Klientel schreiben würde.

»Gehen Sie unbedingt zum Obdachlosenhaus beim Deutschen Roten Kreuz. Und zum Straßen-Café. Dort finden Sie viele Betroffene. Nicht alle sind obdachlos. Es gibt auch von denen ohne ständigen Wohnsitz nicht wenige, die unsere Angebote annehmen. Vielleicht erfahren Sie dort, was sie noch wissen möchten.«

Was will sie wissen? Was mit einem von denen geschehen ist. Warum einer, der Goethe liest, auf der Straße lebt. Warum einer, der Wissen hat, nichts wissen will. Was also will sie im Straßen-Café, was in der Notschlafstelle? Dort wird sie ihn genauso wenig finden und noch weniger überzeugen können, mit ihr zu reden.

Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hat, kam das Gefühl, er würde es ja wollen, traue nur keinem Menschen mehr. Sie will sich bemühen, weil ihr gefällt, was sie ahnt. Ob der Mann, über dessen Schicksal sie in Leidenschaft verfällt, an seiner Lage unschuldig ist, interessiert sie nur nebenbei. Sie will die Misere eines Lebens erforschen, das einmal ein anderes war. Ein Mensch, der einsam seiner Wege geht, keinem zu nahe kommt, der Bücher liest und Goethe zitiert. Vielleicht wird er dafür von den Mitschläfern in der Notschlafstelle genarrt?

Für sie wird das Schreiben über einen solchen Menschen nicht schwer sein. Es wird sie erbauen, ergötzen, befriedigen …

Diese Leidenschaft kennt sie bestens von jenen Stunden, in denen sie mit weiblichem Instinkt Geschichten schreibt, die das Leben diktiert. Nicht ihr Leben. Das Leben derer, die kein Glück, kein Ruhm, kein Lorbeerkranz schmückt.

So oft sie ins Gesicht dieser Frau schaut, spürt sie, wie etwas in ihr hochsteigt, das sie so niemals als einen Teil von ihr anerkannt hätte. Jetzt aber ist sie Teil eines Systems geworden, das das eigene Interesse über alles stellt. Ihr Vorteil schöpft aus dem Nachteil eines Anderen. Dieser Nachteil ist ihre Chance für ein neues Buch. Ein Déjà-vu? Alles wiederholt sich. Isa kämpft gegen innere Untertöne an. Auch wenn es de facto so ist, seelenlos war sie nie. Tatsächlich ist sie für diesen Job mit zu wenig gebotener Härte ausgestattet.

Noch lange an diesem frühen April-Tag tobt tief in ihr der Kampf einer sozial Mitfühlenden gegen die wirtschaftlich Denkende. Es war nie das Geld, das sie dirigierte. Es sind ihre Wurzeln, in denen sie sich verfängt. Und es gibt diesen eigenen Schatten, über den zu springen sie nicht gut genug trainiert ist; die bleierne Schwerkraft ihrer armseligen Herkunft.

Ein Pechvogel im Visier der Schnüffler

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