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Erster Versuch

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Am Mittwoch-Nachmittag geht sie den Weg durch die Stadt bis zur Kirche hin, wo sie ihn zuletzt gesehen hat. Wie von unsichtbarer Hand gehalten steht sie auf der Stelle und rührt sich nicht vom Fleck. Beim Anblick des großen Gotteshauses will die Denkart ihrer ungläubigen Mutter nicht aus ihrem Kopf:

Warum um alles in der Welt hat man den Kraftquell des menschlichen Willens in den Himmel verlegt? Warum besinnt sich der Mensch nicht auf sich selbst, auf seinen starken Willen, auf Menschlichkeit? Warum geschieht im Namen Gottes so viel Unrecht?

Ein Rollstuhlfahrer kommt auf seinem Vehikel herbeigesurrt. Ein Kirchendiener. Sie kennt ihn aus der Nachbarschaft, spricht oft mit ihm, leiht ihm bisweilen ihr Geschick, wenn seine Not es erfordert. Sein fragender Blick aus der Ferne beschämt sie in ihrem Warten. Wie kann sie erklären, hier auf einen zu lauern, den ein Unglück getroffen hat — ein anderes als ihn. Noch weniger, warum sie sich dieses Ortes besinnt, dessen Bestimmung sie aus Überzeugung meidet.

Mit kräftigem Schritt läuft sie um die Kirche herum. Ihre Religion trägt ein altes Proletarierlied über die stummen Lippen: » ... uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun.«

Sie hat lange verdrängt, wie trügerisch Lebensweisheiten sein können. Logisch, dass sie mit den Jahren vergessen hat, wie sie als Kind erfahren musste, was Hunger ist, und wie Verzicht auf ganz profane Dinge ein Kind scheu gegen das Leben macht. Es ist lang her und die Zeiten waren andere.

Seit langem war ihr klar, dass die Jahre, die noch vor ihr lagen, den Bildern aus ihrer Kindheit in nichts mehr gleichen würden. Ein Déjà-vu ist nie ausgeschlossen. Der Strom der Zeit schwemmt irgendwo etwas an und reißt irgendwo etwas mit sich fort. Entscheidend ist, ob die Menschen sich im Strudel des Lebens die helfende Hand reichen. Dazu müssen sie einander verstehen. Genau hier steckt ihr Problem: Wird dieser Mensch ihre Hand als helfend erkennen? Kann er verstehen, was sie von ihm will?

Isa hält den Atem an. Sie sieht ihn, aber sie weiß nicht, was da in den äußeren Nischen am Kirchenschiff gerade vorgefallen ist. Etwas muss geschehen sein, derweil sie in alten, nutzlosen Gedanken verfangen war. Sie nimmt sich vor, den Mann darauf anzusprechen, das ist besser, als ihn mit ihrer Idee zu überfallen. Wie sollte sie auch etwas in kluge Worte kleiden, was sie in bloße Gedanken zu ordnen noch gar nicht in der Lage ist.

Sie sieht sein Gesicht, das die Spuren der Straße trägt. Sein schmaler Körper ruckt und zuckt beim Richten seiner Kleidung. Alles deutet darauf hin, dass er sich gerade gegen etwas zu erwehren hatte. Er wischt mit den Händen über die Ärmel seiner Jacke und an den Längen entlang, schlägt wütend über die Hosenbeine und zupft seinen Beutel zurecht, während sie einen Kerl in einer auffällig großkarierte Jacke und einen zweiten in brüchigem Leder hinter die ehrwürdigen Mauern verschwinden sieht.

Vagabundo stapft derweil vorwärts. Sein Kopf ist gesenkt, bis er beinahe vor ihr steht.

»Was ist mit Ihnen passiert?«

Als er begreift, dass sie ihn meint, zieht er den Kopf in den Nacken. Jedenfalls vermeidet er, Isa anzusehen. Sie steht im Schutz des Gotteshauses und wartet auf ein Zeichen eines von Gott Vergessenen, auf das erste Wort, das gewöhnlich vieles klärt. Vielleicht müsste sie ein anderer Typ Mensch sein, um das stumpfe Gesicht zu verstehen, das sie sieht. Weniger leidenschaftlich müsste sie sein, weniger mitfühlend, angepasst an das Maß der Elle, die den Nächsten fern hält. Ein solches Erlebnis, wie er es gerade glimpflich überstanden hat, bewirkt nicht selten, ein düsterer Mensch zu werden. Ein Eigenbrötler. Ein Unnahbarer. Ein Hasser?

Ohne Zweifel macht einer wie er eine Menge durch und wird eine Menge zu erzählen haben. Es ist seine Sache, wenn er noch schweigt. Aber ist sie deshalb hier? Kaum traut sie sich, ihn genauer anzusehen. Blicke verraten zu viel. Es ist wie eine Prüfung, die sie zu bestehen hat. Wer länger aushält, ist der Sieger.

Ein schwaches Kopfschütteln wühlt sein Haar herum. Doch Isa spürt, dass etwas in ihm vorgeht. Als er endlich die Lippen öffnet, klingt der Satz wie von Skepsis zerfressen und doch so wohlgeformt für ihre Ohren:

»Was geht die Welt mein Leben an?« Zögerlich kommen die Worte aus trockenem Mund; seine Augen sind weder trocken, noch zögert sein Blick. Er eilt hinweg und kehrt zurück. Er huscht mal hier- und mal dahin und findet doch nicht in ihr Gesicht. Gegenüber an der Suppen-Bar stehen zwei Gaffer. Offenbar haben sie mit Schlimmerem gerechnet. Enttäuscht, dass nichts weiter passiert, trollen sie sich davon.

»Ist es nicht schlimm genug, wenn keinen das Leben des anderen rührt?«, sagt sie schnell. »Aber wenn man schon direkt dabei ist …«

Ihre pure Anwesenheit scheint ihm zuwider. Ihr Drang, mit ihm zu reden, ihm zu zeigen, dass es auch gutherzige Menschen gibt, ist stärker. Noch muss sie für sich behalten, dass sie eine Idee ausbrütet, die sein Leben ändern könnte. Zu unnahbar ist er.

Hat sie auf so morschem Grund gebaut? Was ist sein Leben? Sein Durch-die-Stadt-Ziehen, ohne Sinn und ohne Ziel, sein Nur-den-Tag-Überstehen. Ist das noch Leben?

»Ich sehe Sie oft in der Stadt. Eigentlich bin ich Ihretwegen hier.«

Der Blick des Mannes hält inne. Im nächsten Moment nimmt sein Körper eine drohende Haltung ein.

»Sie hatten mich also auf dem Schirm«, spucken die schmalen Lippen aus. Der Ton ist spröde, als redet er für einen anderen.

»Wer nicht beobachtet, kann keine guten Bücher schreiben. Ich bin Buchautorin und schreibe gerade über … Menschen wie Sie.«

Isa glaubt, ihre letzten Worte haben eine gewisse Wirkung auf ihn. Sofort greift sie nach der Mappe und zieht ein Papier hervor, ein paar Blätter nur, ein Entwurf vom Beginn ihrer Erzählung.

Seine Augenbrauen heben sich: »Das also ist des Pudels Kern.«

Bis zu dem Moment hat sie geglaubt, es sollte nicht schwer sein, einen Mann wie ihn von ihrer guten Absicht zu überzeugen. Grad jetzt ist sie ärgerlich, auf Gary gehört zu haben. Es wäre leichter gewesen, ihn mehrmals still zu beschenken und damit sein Vertrauen zu erwirken. Das hat sie nun verspielt. Kein Wunder, wenn sie stottert: »Ich schreibe in allen meinen Büchern … entweder, wie die gesellschaftlichen Umstände auf einzelne Menschen, auf deren Schicksal zurückwirken. Oder wie jemand unverschuldet in Not gerät und …«

Er lässt ihr nicht die Zeit, die sie braucht. Sein schmaler Mund zwängt ein paar Worte heraus, die ihr sehr gut bekannt sind: »In dieser Welt ist es selten mit dem Entweder-Oder getan.«

Sein Körper muss in dieser Welt zurechtkommen, sein Geist lebt in einer andern. Ist es das, was die geborgten Worte ihr zu sagen versuchen?

»Auch Goethe hatte damit seine Not«, sagt sie wie nebenbei, ohne genau zu wissen, ob sie sich im Verfasser irrt. Mit einem wie Goethe kann sie nicht punkten. »Ich verstehe, dass Sie niemandem vertrauen. Vielleicht auch nicht können. Ich …« Mein Gott, sie kann noch ich sagen. »Ich will meinem Buch etwas Wahrhaftiges geben. Wahrheit ist nie zum Nachteil. Wenn ein Stoff ein reales Leben in sich birgt, kann dieses reale Leben enorm verändert werden …«

»Wahrheit ist schwächer als Unrecht«, sagt das versteinerte Gesicht nach langem Zögern und doch mit so viel Abscheu, dass sie nichts zu erwidern weiß und einfach weiterredet. Viele farblose Worte vom gegenseitigen Geben und Nehmen, von der Zweck-Gemeinschaft, die man eingehen kann, ganz ohne Pflichten.

»Ich kann Sie nicht befreien vom Unrecht, das Sie zerstört hat, aber ich kann mit meiner Art Kunst …«

»In der Kunst ist die Form alles, der Stoff gilt nichts«, sagt er sehr rasch in ihre Atempause hinein und drängt an ihr vorbei.

»Nicht jede Kunst«, hält sie ihn auf, mit Worten nur, nicht deutlicher. »Manchmal ist es die Form und manchmal der Stoff. Guter Lesestoff spürt dem Unrecht nach. «

Ihre zitternde Hand hält mit Mühe das Papier, ihr Mund verstummt, weil seine Faust bedrohlich wird. Sein Ton ist es auch: »Das mit dem Unrecht …«, seine Hand fällt mit dem ersten Wort schwer und trostlos herunter, »hat sich für mich erledigt. Endgültig.«

Isa atmet auf. Noch nie ist ihr ein Mensch begegnet, dem sie so zwiespältig gegenüberstand. Vor Minuten noch trieb sie die eigene Leidenschaft in seine Nähe, und nun treibt sie eine rasch erhobene Hand so sehr ins Grübeln, dass sie an Schlimmes denkt?

Isa widerstrebt es, schlechte Gedanken zuzulassen. Es fällt ihr auch nicht schwer, trotz allem das Gute in ihm zu suchen.

Was wir gestern wussten, zählt heut nicht mehr. Was wir heute wissen, wissen wir morgen besser. An allem ist zu zweifeln.

»Seit ich herumgetrieben werde und sehe, was man tut und wie man ΄s treibt, stehe ich viel besser zu mir selbst«, faucht er atemlos. Sie hört es wohl, aber sie sieht mit neuer Angst seine Augäpfel aus den Lidern schwellen.

Isa schlägt ihre Augen nieder. Auch wenn er Goethe benutzt, dieser Kerl zerrt an einer empfindlichen Stelle. Sie war viel zu lange eine von denen, die die Wirklichkeit als unabänderlich hinnahm, ohne Aufbegehren, ohne Kritik zu üben. Das bereitete ihr seit Jahren Unbehagen. Warum sie nie wieder so sein will, liegt auf der Hand. Sie bewundert Menschen, die deutlich sagen, was sie denken. Frei heraus erhöht das eigene Selbstwertgefühl. Dieser Mensch aber sagt nicht freiheraus, was in ihm umgeht. Er rechtfertigt sein Denken nach den Büchern, die sein Geist zu fassen kriegt. Wie soll sie einen solchen Menschen zu fassen kriegen?

Nicht alles hält sie für aussprechbar. Sie hätte schließlich auch ehrlich sagen können, was sie beobachtet hat und was sie an ihm seither interessiert. Sie kann es nicht, weil das nur eine Seite des Menschen berührt, eine, von der sie nicht weiß, wie er selbst sie empfindet.

»Dieses Papier ist der Anfang meiner Geschichte. Ich bitte Sie … lesen Sie es in Ruhe und entscheiden Sie dann, ob Sie mit mir reden wollen?«

So flehentlich kommt sie sich erbärmlich vor. Er zögert, das spürt sie, deshalb verbietet sie sich jedes weitere Wort. Vielleicht gehen ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf. Zaudernd greift er nach dem Papier, das sie zusammengefaltet seit Tagen mit sich herumträgt. Vielleicht, weil er auf diese Weise wieder etwas zu lesen bekommt?

Für den blauen Geldschein, der zwischen den Seiten liegt, schämt sie sich jetzt und fürchtet zugleich, er landet mitsamt dem Papier im nächsten Abfallkorb. Die erste Silbe, die ihr dazu einfällt, verliert sich in seinem Protest: »Der Worte sind genug gewechselt …«

Sie wartet, dass noch etwas folgt, aber es folgt nichts. Nur sein schleppender Gang entfernt sich durch die Kirchenpforte.

Als wäre sie von innen ausgehöhlt steht sie da und kann nichts anderes denken: Menschen ertragen Schlimmes, um noch Schlimmeres zu vermeiden? Was ist noch schlimmer für einen intelligenten Mann?

Lange brütet sie vor sich hin, dann setzt auch sie den ersten Fuß und geht zweifelnd: Welchem von den beiden Menschen, die sich nicht finden, sollte sie jetzt zürnen?

Sie hat sie nicht kommen sehen. Jetzt sind sie neben ihr und halten Schritt. Der kleine weißhäuptige Mann mit dem stocksteifen Gang. Und die gebeugte Frau an seiner Seite, unscheinbar, aber scheinbar nicht uneins mit ihrem Mann.

»Wo sind wir nur hingekommen«, dröhnt der Bass des Mannes, der einmal Rechtsanwalt gewesen ist. »Jetzt werden wir ehrbaren Leute schon am helllichten Tage angebettelt.«

Erschrocken blickt sie in sein lauerndes Gesicht. Sie weiß nicht, warum der Mann wir sagt, und sie weiß noch weniger, ob er ehrbar ist. Sie nimmt es an und bleibt höflich.

»Er hat nicht gebettelt.« Sie ist klug genug, nicht zu erklären, wer wen gebettelt hat.

»Diese Penner betteln doch alle«, mischt die Frau sich ein. »Mehr haben die doch nicht im Kopf, als sich Fusel zu beschaffen. « Die Frau kommt Isa ziemlich nah. »So etwas braucht unsere Welt nicht.«

Die Worte der Frau sind seelenlos, wenn auch nicht weit von denen entfernt, die ein gewisser Charles Darwin schon um 1830 gebrauchte, als er von natürlicher Selektion gesprochen hatte. Es war nur sein Erkennen von Gesetzmäßigkeiten, keine Willkür, keine Präferenz der Stärke. Die Natur als Schöpfung ist so eingerichtet. Wenn aber die Krone der Schöpfung an diesem Ort, zu dieser Zeit, ein anderes Kapitel aufschlägt, dann müssen andere Gesetzmäßigkeiten wirken. Das Gesetz des Habens, nicht des Seins.

»Er scheint sogar ein intelligenter Mann zu sein«, sagt sie in einem Ton, als spreche sie zu sich selbst.

»Im Schnorren sind die alle clever.«

Isa lässt Menschen gerne gelten. Jetzt macht es sie krank, am Rechtsempfinden eines Rechtsapostels zweifeln zu müssen. Sie kennt diese Leute. Ihr Weg würde sie noch ein gutes Stück in gleiche Richtung führen. Sie muss jetzt seitwärts gehen.

»Aber nicht alle sind an ihrem Elend selber schuld«, kann sie noch sagen.

»Recht haben Sie«, doziert der Mann, der die klaren Worte seiner Frau mit ungewisser Miene zur Kenntnis genommen hat. »Das hätte es früher nicht gegeben.«

Früher, das meint die Zeit, wo es trotz Wohnungsnot keine Obdachlosen gab, und der man heut ein großes Maß kollektiver Schuld nachsagt. Jeder hätte etwas tun können gegen das Unrecht. Jeder? Gut, dann aber damals wie heute. Zu keiner Zeit will einer eine Pflicht erkennen, notfalls gegen den Strom zu schwimmen.

Als sie sicher ist, der Weg der Leute zielt direkt der Heimstatt zu, schwenkt sie kurzerhand ab und lässt die beiden mit sich und ihrer Abscheu vor dem Elend allein.

Sie leben im selben Viertel der gleichen Stadt, im selben Staat der gleichen Welt. Sie hören dieselben Nachrichten, erleben dieselben Ereignisse. Sie sollten in derselben Lage sein, so nüchtern wie möglich zu analysieren. Und dann zeigt sich, wie völlig anders sich das Leben in den Hirnen spiegelt. In klugen wie in begrenzten. Keiner will für die Auswüchse der Zeit etwas können. Jeder ist sich seines Rechts sicher. Das Unrecht findet immer eine Quelle, aus der es sprudelt, und die ist weit entfernt von einem jeden.

So klare Worte gelingen ihr nicht, wenn sie ins Angesicht der Arroganz schaut. Es ist beschämend, dass sie fernab ihrer wohl durchdachten Zeilen so wenig deutlich werden kann. Sie ist erbittert über sich und ihre Verwirrung, in die sie ein «Rechtloser» gebracht hat. Sie ist verbittert über den Mann aus ihrer Nachbarschaft, der einst für das Recht einstand, viele Jahre seines Lebens. Wo ist er hin, sein wissender Blick auf das Recht.

Je länger sie über gewisse Minuten des Tages nachdenkt, desto drängender wünscht sie, genau an diesem Buch weiterzuschreiben. Ihre Gefühle, die das Denken im Griff haben, könnten schwinden und dann würde es eine völlig andere Story werden.

Am Abend liest sie im «Werther» und recherchiert im Faust. Die Zitate des Vagabundo waren alle nicht ganz korrekt und kaum vollständig. Aber sie kamen frei aus einem Munde, dem man gewöhnlich nicht ein Quäntchen davon zutraut. Umso mehr muss sie seinem Schicksal nachspüren. Irgendwo muss etwas Ungewöhnliches zu finden sein …

Ein Pechvogel im Visier der Schnüffler

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