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Teil I — Isa-Kathrin Benson

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Drei Jahre später.

Da läuft er mit großen Schritten die Straße entlang. Unter der Last seines bunten Beutels ist sein Körper nach vorn gebeugt. Er ist einer von denen, für die es nur unwürdige Namen gibt. Penner. Aussteiger. Vagabund. Stromer. Bettler?

Die meisten sind bettelarm. Dieser immerhin bettelt nicht. Sie sieht ihn hin und wieder – immer allein – nie mit denen, die an den Hecken sitzen und trinken, die lallen und pöbeln, die Wut und Missmut streuen gegen die scheelen Blicke derer, die sich vom schäbigen Anblick belästigt fühlen.

Für Isa-Kathrin Benson ist es schwer zu sagen, was diesen einen so einzig macht. Sie schätzt sein Alter zwischen vierzig und fünfzig. Sein schwerer Gang vergreist die schmale Gestalt. Das dunkle Haar, dem etwas Glanz geblieben ist, stößt wellig bis zum Nacken, doch die Furchen in seinem Gesicht zerkratzen das letzte Bild von Jugend.

An einem kalten Wintertag hatte sie ihn im Buchhaus «Am Stadtbrunnen» gesehen. Es saß auf der roten Lesecouch wie selbstverständlich vertieft in eine kleine Lektüre. Sein schäbiges Hab und Gut lag zu seinen Füßen. Den graugrünen Parka hatte er geöffnet, nicht abgelegt. Vielleicht schamvoll, vielleicht glücklich, im Warmen sitzen zu dürfen und etwas von dem Leben zu erfahren, aus dem er ausgeschlossen ist. Momentan. Oder länger? Im Gesicht eine goldene Brille, die er zuvor niemals trug, die er auf der Straße nicht trägt. Ein Mann, mittendrin und doch am Rand der Gesellschaft?

An jenem Tag fühlte sich Isa-Kathrin Benson machtlos ihn anzusprechen. Wie eine Gesunde am Bette des Kranken, dem eine Buchautorin, wie sie eine ist, nichts bieten kann als bloße Worte, aufgereiht in Zeilen aneinandergefügt zu Seiten?

Für einen Moment legte der Mann das grüne Büchlein aus der Hand. Etwas stach in ihre Augen. Etwas, was nicht zu ihm gehören konnte.

Ihre Lippen öffneten sich stumm; ihre Wangen erschlafften. Dann ist sie gegangen. Staunend. Grübelnd.

Verblüfft ist sie noch immer: Warum liest einer von denen Goethe?

War es nur das Werk Goethes, das sie nachsinnen ließ? Hätte sie sich gedankenlos abgewendet, wäre er ihr so begegnet, wie sie ihn bisher kannte: Mit hängenden Schultern unterm abgenutzten Mantel. Mit ausgetretenen Schuhen. Mit prall gefülltem Plastik-Beutel. Wäre ohne Goethe ihr Denken anders?

Sie war nie ein Ignorant. Sie setzte Prioritäten. An erster Stelle kam ihr eigen Fleisch und Blut. In ihrem Leben gab es Unerfülltes und es gab Unerfüllbares. Zwar hat fremde Wohlstands-Gier in ihrer eigenen Familie Schatten hinterlassen, die durch ihre Kraft nicht zu erhellen waren, aber es hat niemanden von ihnen auf die Schattenseite des Lebens gedrängt wie diesen Mann, den sie tief in sich drin Vagabundo nennt. Keines der Schimpfworte lässt sie zu. Vagha Nbundho hieß einer in diesem fernen Land, das in ihrem Inneren Spuren hinterlassen hat. Dieser Afrikaner war kein Vagabund. Vermutlich war sein Name, den sie nie geschrieben sah, einer wie hierzulande Werner, Wolfgang, Waldemar oder Meier, Müller, Schulze. Er war ihr afrikanischer Nachbar und gutsituiert, wie es vielleicht auch Vagabundo einmal war.

Isa hatte für Vagha Nbundhos Frau Rosalia Gardinen aus Deutschland mitgebracht. Einen ganzen Koffer voll. Freilich war ihr Ärger groß, als Rosalia den Stoff in lauter kleine Fetzen teilte und vor alle Türen in ihrer Wohnung hängte, um lästige Moskitos fernzuhalten. Afrikanische Logik und europäische Denkart sind so weit voneinander entfernt wie die Kontinente.

Angesichts der Hungernden im bairro - wie man die Elendsviertel dort nannte - waren Gardinen purer Luxus, das wusste sie, aber sie brauchte gegen den übergroßen Mangel in diesem Land den Vorteil, den Rosalia ihr bot. Die Eheleute gehörten zur privilegierten Schicht, die nicht darbte. Auch deshalb fiel es Isa leichter, den Ärmsten in den bairros etwas abzugeben. Auf diese Idee wäre Rosalia nicht gekommen, und sie sollte davon auch nichts wissen. Immer wieder fragte sich Isa damals, warum die Landsleute, denen es besser ging, keine Notiz vom Elend nahmen? Ein Umstand, der unter die Haut ging.

Für einen Moment hebt sich die Erinnerung aus all den Bilder heraus. Dort in der Fremde war sie selbstlos. Sehend. Entschieden. Das fehlt ihr angesichts hiesigen Unrechts, wie es denen dort gefehlt hatte. In dieser Welt ist gar nichts so verschieden wie man glaubt. Den Riss an der eigenen Tür übersieht der Blick in die Ferne.

Ihr Fuß setzt heftiger auf als normal. Muss man sich einmischen, ohne gebeten zu sein? Der sollte etwas tun, der ein Elend zu verantworten hat. Sie hat es nicht zu verantworten. Sie hat das Elend hierzulande sogar kommen sehen, wie im Märchen vom Fischer und seiner Frau. Im Überfluss erkennt man die Sorge nicht, die in den Augen des Nächsten liegt.

Sie will nicht müßig sein und kann doch auch nichts tun.

Vom Dasein ohne feste Bleibe – die einer von denen auch Platte machen nennt - hat sie nur nebelhafte Vorstellungen. Konkrete Bilder findet sie nicht, nicht so konkret, wie vom Elend am anderen Ende der Welt, wo sie hinter die Zäune der dürftigen Hütten sehen konnte, ins offene Herz der Familien …

Zäher Nebel umhüllt die Häuser und kriecht feucht und kalt in Hals und Ärmel. Sie schreitet schneller aus. Der Marsch tut dem Körper gut, klärt auch den Kopf, und genau das ist der Grund, warum sie täglich ihr Pensum läuft. Bei jedem Wetter. Vielleicht gibt die Stadt mit den grünen Parks eine kühlere Sicht auf ihre glühende Idee, die ihr Mann Gary so vehement kritisiert.

Vagabundo ist längst im Nebel verloren. Wohin mag er gehen bei diesem Wetter? Es wäre zu früh, ihn anzusprechen. Sie braucht erst innere Klarheit.

Tiefer Atem strömt in die Lunge. Sie liebt es, in Ruhe über etwas nachzudenken. Freilich muss sie sensibel mit der Sache umgehen. Nicht stocksteif, um nichts zu gefährden. Auch nicht zu biegsam, um die eigene Achtung zu bewahren. Mit dem Kopf durch die Wand ist nicht ihr Stil.

Meistens fällt sie Gary mit ihrem rituellen Ernst auf die Nerven, so wie ihr kaum ein Scherz von ihm gefällt. Dieses Mal aber scherzt er nicht. Er lässt keinen noch so winzigen Zweifel, ihr Vorhaben als absurd zu erklären.

Sie ist sich selbst nicht sicher, ob ihr soziales Denken so weit gehen muss. Bücher mit latenter Sozialkritik – wer will die noch lesen?

Sollte sie diesem Mann stattdessen ein paar Kleidungsstücke bringen? Von Gary? Oder etwas zu essen? Einen Rucksack vielleicht für sein Hab und Gut, damit man ihn nicht als Vagabund erkennt?

Sie hadert mit sich. Gary ist Pragmatiker. Wenn er warnt, sie weiß nicht, worauf sie sich einlässt, steckt meistens ein Fünkchen Wahrheit dahinter.

»Denke an Afrika«, hat er gesagt. »Du kriegst die Hungerleider nicht mehr los, wenn sie erst Blut geleckt haben. Und glaub mir, hier denken die Leute wie dort. Die hat ΄s, der fallen die Tausender nur so in den Schoß. Oder willst du jedem erzählen, wie die Buchbranche wirklich tickt?«

Das von der Buchbranche will sie nicht hören, und über ihre Zeit im Land der roten Erde will sie auch nicht mehr nachdenken. In beides hatte sie ihre Ideale gelegt. Beides lief nicht ideal.

Im fernen Land sah sie das Unrecht in Krieg und Korruption. Der Krieg ist vorbei. Der Rest ist geblieben. Die erste Milliardärin der Welt ist hiesigen Gazetten zufolge die Tochter des dortigen Staatschefs, während im Lande noch immer millionenfach gehungert wird. Der Ursprung vom Reichtum wird nicht hinterfragt — Blutdiamanten und reiche Schätze aus blutgetränkter Erde. Dass es allein der Krieg war, der dort den Hunger brachte, bezweifelte sie schon damals. Woran aber soll sie hier zweifeln? Was treibt einen Menschen heute und hier in ein solches Elend, das keiner sehen will? Wenn menschliches Elend nur stört, ist man abseits des Menschlichen.

Seit langem hat sie keine Ideale mehr. In diesem Teil der Welt, in ihrem Land, sind Ideale, Nächstenliebe und Verantwortung zur Lächerlichkeit mutiert. Der geldwerte Vorteil ist das Maß allen Denkens. Es gibt kein einzig Volk von Brüdern, keine Gerechtigkeit und noch weniger Gleichheit.

Die Beobachtung in diesem Buchhaus hatte bei Isa-Kathrin Benson Gedanken geboren, über die sie früher gelächelt hätte, die ihr in den letzten zwei Nächten den Schlaf raubten — ohne Ergebnis. Verpflichtet fühlt sie sich zu nichts, aber die Jahre unter afrikanischer Sonne, und dennoch auf der Schattenseite der Welt, haben noch Zugriff auf ihren Verstand.

Eines hat sie nächtelang herausgefiltert: Wenn Gary in seiner kühlen Logik davon abrät, dann macht sie das wütend. Er ist Pragmatiker, und genau das ist es schließlich, was sie zuweilen enttäuscht. Ein wenig mehr Innenleben darf auch ein Mann zeigen. Auf dieser Welt gibt es vermutlich mehr Psychologen als es Männer gibt, die sich selbst eine Seele zugestehen.

Der Wind sprüht feinen Regen bis unter die Kleidung. Sie reckt ihr Gesicht dem Niesel entgegen. Ihre glühenden Gedanken kühlt er nicht.

Ein Pechvogel im Visier der Schnüffler

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