Читать книгу Ein Pechvogel im Visier der Schnüffler - Maxi Hill - Страница 9
Felix, der Pechvogel
ОглавлениеSein Weg zum Zentrum hin führt durch die Ostrower Straße, wo die herausgeputzten Fassaden der Bürgerhäuser vom einstigen Reichtum dieser Stadt künden. Für Sekunden bleibt Felix Renner stehen und blickt hinauf. Zum ersten Mal gehen auch seine Gedanken bis zu den Reliefs, zu den Traufen und Pilastern. Er hat sein Gefühl für alles Schöne versiegelt, wie auch für so vieles andere. Was hat sich ereignet, dass er in diesem Moment die Welt mit helleren Augen betrachtet?
Nichts ist geschehen. NICHTS. Nur die Neugier einer Schreiberseele hat ihn für kurze Zeit über sich selbst grübeln lassen. Manchmal muss man etwas aufgeben, um für etwas anderes frei zu sein.
Er wendet seinen Blick ab von den Farben, den Stucks und den Fenstern, hinter denen glückliche Menschen leben. Und unglückliche, er ist ja kein Träumer.
Was heute in ihm ist, hat mit der Frau nichts zu tun. Nicht im Geringsten! Es gab zwar diesen Satz von ihr, der geeignet wäre, jemanden zu bekehren: Leben ist Veränderung. Kein Mann wirft achtlos weg, worum er kämpfen kann.
Jemanden vielleicht, er nicht. Er mochte, wie sie das sagte. Wenn sie nur nicht die Sache mit seinem Vorteil ins Feld geführt hätte. Da musste er wütend werden, das hat die Zeit ihn gelehrt. Es war kein geistreicher Satz, wenn auch mit Schärfe gesprochen.
Er wendet sich ab von den aufdringlichen Gedanken, die er — merkwürdig unschlüssig — nicht bis zur letzten Konsequenz bedenkt.
Am Ende der Straße ein Haus, das aus der Reihe fällt. Grauer Marmor und viel Glas. Hier liegt das Geld der Leute. Südwärts sieht man den Anbau wachsen. Ausladend. Einnehmend. Alles scheint vollkommen. Nichts ist einzuwenden. Jeder kann es sehen. Die Macht des grauen Hauses mit der spiegelglatten Fassade wächst unaufhörlich. Die großen Banken operierten mit weltweiter Gier und obskuren Kniffen. Sie merkten zu spät, wie sie im Gegenwind der Macht des Mammons zu schwanken begannen.
Sein Geld liegt nicht in diesem grauen Haus, und es lag auch niemals dort. Bevor er sein Haus hat bauen können, vierzig Kilometer von hier, musste er betteln um einen kleinen Kredit. Nicht einmal jetzt muss er betteln. Jetzt ist er frei von diesen Zwängen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan.
Er schwenkt nach rechts und läuft der Fußgängerzone zu, die vom dicken Turm bewacht wird.
Plötzlich bleibt er stehen. Etwas fühlt sich neu an. Vor dem gelben Haus auf dem kleinen Platz steht ein Brunnen auf den Marmorplatten — ein steinerner Kelch. Darauf erhebt sich eine kleine Venus aus einer Gruppe Wasser speiender Delfine. Warum hat er die Venus, warum die kleinen Delphine noch nie bemerkt? Jetzt denkt er darüber nach, warum sein Fühlen so stumpf geworden ist. Leben ist Veränderung, ärgert er sich. Aber die Veränderung, die diese Frau herbeiführen will, besteht nur im Vorzeichen, nicht im Inhalt.
Was ihr Buch betrifft, so weiß er nicht genau, warum er davon nichts hält. Vielleicht, weil er ein selten dämliches Arschloch ist. Vielleicht, weil er zu klug ist für die Fäden einer Spinne. Freilich hätte er ihr erklären können, dass ihre hastigen Worte ihn nicht überzeugt haben. Vielleicht könnte er sagen, warum ihre Zeilen, die er gern gelesen hat, es besser konnten. Er kann nicht aus seiner Haut und lässt es auch in Zukunft bleiben. Er wird ihr aus dem Wege gehen, grundsätzlich. Mit Hoffnung spielt man nicht.
Wäre er früher einem bestimmten Menschen aus dem Wege gegangen, ihm wäre eine bittere Erfahrung erspart geblieben.
Dass er gar zwei Menschen hätte meiden müssen, fällt ihm wieder ein. Genau genommen drei.
Drei ausgestreckte Finger krallen sich wieder ein, die Hand wird zur Faust: In Deutschland kann jeder jeden anschmieren. Woher sollte er den Beweis nehmen? Keiner, der den Rang dafür hätte, macht sich die Mühe, die Wahrheit herauszufinden.
Sein Weg führt am Turm vorbei. Auf dem Platz gegenüber hat man Tulpenrabatten angelegt. Die sanften Strahlen der Vormittagssonne wärmen nicht nur die Blüten. Sie wärmen auch ihn, auch das nimmt er heute wahr. Und wie aus dem Nichts fällt ihm ein, warum er den kleinen Brunnen nicht hat sehen können. Er war geschützt vor den Tücken des Winters, ummantelt mit einer hölzernen Pyramide. Grün?
Es scheint ein besonderer Tag zu sein, wenn auch kein glücklicher. Er weiß, dass er nicht mehr so empfindet wie bisher. Und es macht ihn unsicher, wenn er gar nichts empfinden kann, wo er doch seit Stunden an diesen einen Tag denkt: Vom Eise befreit …
An diesem Tag lockerte der Winter wie heute seinen eisigen Griff. Wolkenlücken sorgten für ein paar Sonnenstrahlen. Milde fuhr in seine starren Glieder, ließ ihn wieder hoffen. An einem solchen Tag wie heute öffnete sich endlich das Tor der Haftanstalt …
Ob er noch am Leben ist, fragte er sich dort zum letzten Mal. Jetzt längst nicht mehr. Andere Menschen erleben im Frühling unbeschreibliche Glücksmomente, wenn das Leben aus dem Winterschlaf erwacht. Er spürt kein Lebensglück. Ihm ist, als sei er von innen ausgehöhlt worden und nur die leere Hülle seines Körpers schwebt durch die Zeit. Glück gehört für ihn zu einer anderen Gedankenwelt, zu einem verlassenen Universum. In dieser Welt gibt es kein Glück für ihn. Er hat es verspielt. Die großen Ideale sind dahin, die kleinen Ziele unerreichbar.
Vor einem Schaufenster sieht er sein Spiegelbild — einen greisenhaften Körper, schwerfällig, nach vorn gebeugt. Hinter ihm laufen Leute, suchen rasch ihr Abbild in der Scheibe. Einige erschrecken — die meisten geben sich eitel. Das Bild, was wir sehen, ist nicht das, was wir sind. Es ist das, was wir glauben zu sein
»Es ist ein einförmig Ding um das Menschengeschlecht…« Dieser Werther. So unstet und von Liebe zerfressen, hat er sich aufgegeben.
»… nur muss mir nicht einfallen, dass noch so viele Kräfte in mir ruhen, die alle ungenutzt vermodern und die ich sorgfältig verbergen muss … Und doch! Missverstanden zu werden ist das Schicksal von unsereinem.«
Es war nicht das erste Mal in den letzten Jahren, dass ihn jemand missverstanden hat. Es war das erste Mal, dass jemand so sehr in sein Gewissen rückte, und dieser jemand wollte ihm sein Unglück deutlich machen.
»Sonst sind mir nur einige verzerrte Originale in den Weg gelaufen …«
Also zieht er weiter seine Bahnen allein von Süd nach Nord, von Ost nach West, bis er die Sonne sinken sieht.
So war er schon immer. Er wollte immer er selbst sein. Er scherte sich nie um die Meinung anderer und lebte sein Leben, wie es ihm gefiel. An eine Zeit, wo ihm die Hände zitterten, kann er sich nicht erinnern. Nicht einmal, als seine Eltern starben. Auch nicht, als seine Scheidung anstand. Jetzt aber zittern seine Hände. Ein innerer Aufruhr quält ihn, und er ist sicher, dass das einen besonderen Grund hat.
Für einen Moment hatte er geglaubt, bei der Frau einen besonderen Blick gesehen zu haben. Wären nur ihre Worte nicht gewesen. Derlei machen stutzig, wenn man das Leben kennt, wie er es kennenlernen musste. Dieser Typ Mensch ist anders gepolt. Der will selber den Reibach machen und den Gewinn in das Haus mit der spiegelglatten Fassade tragen. Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles …
Was diese Frau «seinen Vorteil» nennt, ist nur ein Köder für den hungrigen Fisch, der gierig anbeißt. Das passiert ihm kein zweites Mal!
Seine Füße nehmen größere Abstände. Auf dem Weg durch die Stadt spricht er leise vor sich hin: Er hätte nicht an Gold denken sollen. Nicht jetzt und nicht damals. Auch wenn er damals nicht den Goldwert meinte, wohl aber die Seltenheit seines Schatzes, wie sie dem Golde anhaftet.
An der Schlosskirche hält er inne. Wie von selbst löst sich der dritte Finger aus seiner Faust. André — dieses Schlitzohr — hat ihm von der Kirche erzählt. Hier hätten sich einst die Obdachlosen der Stadt getroffen, weil der Pfarrer sein Herz noch nicht dem schnöden Mammon verkauft habe. Die Menschen auf der Flaniermeile «Sprem» hätten sich von ihnen gestört gefühlt. Dem habe ein Stadtpolitiker Rechnung tragen wollen: »Auch Tauben finden sich immer dort ein, wo sie gefüttert werden.« Er habe die Stimmen der feinen Leute für seine Wiederwahl gebraucht. Genutzt habe es nicht. Dieser Tauben-König habe ob der Empörung glattzüngiger Moralprediger seinen Hut nehmen müssen. Vertrieben worden seien die Obdachlosen trotzdem. Auf subtilere Weise. Vom Umbau an Platz und Straße hatten nun sie sich gestört gefühlt.
Diesem André traut er nie, aber diese Geschichte könnte stimmen.
Was seine Gedanken ausgelöst hat, weiß er schon nicht mehr, als er in den Durchbruch einbiegt. Die große graue Wolke steht jetzt über ihm. Es wird ungemütlich für seinen langsamen Gang durch die Stadt. Schnell dahinflitzende Regenschirme setzen inzwischen bunte Tupfer in das Grau. Der Mann vom Buchhaus rückt seine Ladenhüter unter das schützende Vordach …
Während Felix seine Kapuze hochschlägt, ist er wieder da, der Gedanke, den er hartnäckig verdrängt hat: Sollte er nach drinnen gehen und zu einem Buch greifen? Zu Hemingway? Oder Feuchtwanger. Goethe oder Dürrenmatt? Vielleicht zu Simmel; einer von denen, die der gerechten Welt eine Chance geben.
In schweren Gedanken steht er unter dem Baum dicht an der Mauer und rührt sich nicht.
Man braucht die Kraft poetischer Worte. Besinnen. Erkennen. Bekehren. Das ist der Sinn des Lesens. Warum finden meine Kinder so merkwürdige Zerstreuung im Verlust des Wesentlichen? Hab ich sie nicht selbst erzogen? Wie können sie leben ohne die Freude am Geist, der Fragen und Zweifel gebiert, der Neugierde weckt und Antworten gibt.
Ein wenig zu hastig schwenkt er rechts ab. Heute will er dorthin gehen, wo niemand ihn vermutet. Das pompöse Glashaus mit den vielen Büchern, aus denen die Studenten der Universität ihr Wissen schöpfen. Er hat Zeit für den Weg bis dahin.
Wieder einmal geht er der Gefahr aus dem Wege — der Last, die ihn ereilt — wenn diese Frau ihn noch einmal zu fassen kriegt. Die Welt ist zu schlecht. Dass in dieser Frau etwas von Güte ist, dieses Gefühl überkam ihn, sobald sie ihren Blick auf ihn warf. Es verschwand wieder in seinem Wissen, dass alles vergänglich ist. In guten Momenten sah er, wie ihre Augen mitfühlend auf seine Lippen gerichtet waren. Genau wie die von Hinnerk Petersen in Sankt Peter Ording!
Es ist heller Vormittag und er friert. Das Gefühl in ihm ist nicht mehr das des pedantischen Bibliothekars, der er einst war. Es ist verfärbt vom Absurdesten, was ein Mensch sich selbst zumutet. Selbstverleugnung. Verkrüppelung des Geistes. Dieses Selbstverordnete ist angetan, den Menschen in seiner Haut zu brechen, die Tatkraft zu rauben, die Ehrfurcht vor den Worten zu bestreiten, die seine Melodie des Lebens waren.
War Werthers Tod doch nicht so sinnlos? Hat er ihm den einzig gangbaren Weg gezeigt?
Er setzt seinen Fuß hart auf und holt die Worte zurück, die er so treffend fand und die er selbst — und diese Frau ganz sicher auch — niemals zu schmieden imstande gewesen wäre.
Ich kann nicht müßig sein und kann doch auch nichts tun.
Es ist zu spät. Erschöpft von dieser Erkenntnis, die ihn an diesem Tag wie ein Fieber packt, sucht er die Bank an der Ziegelwand der alten Stadtmauer. Er zieht die Kapuze seines Mantels tiefer ins Gesicht und senkt seinen Kopf auf die Brust. Zum ersten Mal seit seinem Fall vermisst er das schmale Büro hinter steifen Regalen mit unzähligen Büchern, aufgereiht in fester Ordnung und eiserner Strenge.
Und wie er so sitzt — verloren und frierend — hört er die Strenge von Ilka, seiner Frau, die lauernd auf den verlässlichen Moment zu warten pflegte, in dem er sich seinen Büchern zuwandte.
»Wo kämen wir hin, wenn auch ich meine Arbeit mit nach Hause brächte …«