Читать книгу Die Würde - Maxi Hill - Страница 4

Betty

Оглавление

Von Minute zu Minute, und das am Ende eines langen, wütenden Wartens auf Amadou, wächst ihre Sorge. Es ist bereits 23 Uhr. Für diese Nacht hat man den ersten Frost angekündigt und er ist mit seiner hellen Jacke unterwegs. Noch ist ihr nicht klar, dass dieser Augenblick eine Wende anzeigt. Sie kann sich nicht erinnern, jemals um sein Wohlbefinden besorgt gewesen zu sein. Irgendwo tief in ihr keimt die Gewissheit, dass diese Sorge Liebe bedeuten könne. Wie oft schon hörte sie von Frauen jener Art, zu der sie selbst nicht gehört — und zu der sie nie gehören wollte —, wie treue Bindung die Selbstachtung fördert. Genau das scheint es zu sein, was Betty jetzt spürt. Allmählich glaubt sie, das wilde Kind in ihrem Bauch erzeugt erste Muttergefühle. Dann wieder meint sie, der beschwerliche Dienst im Pflegeheim habe sie ehrfurchtsvoll vor dem Leben gemacht. Doch von Selbstbetrug hält sie nicht viel. Gerade dort, zwischen den roten Mauern bei den Hinfälligen, wächst ihre tiefe Abscheu gegen das Leben.

Sie setzt sich zu Tisch, schweigsam und ohne ihren Hunger zu stillen, den sie ihrem Kind zuliebe stillen sollte. Noch vor einigen Monaten hat sie jeden Hunger gestillt. Noch vor einigen Monaten war es ein anderer Hunger, ein Hunger nach Leben in Wollust und Selbstaufgabe.

Ihre Hände streichen über die Wölbung des Bauches. Nie war ihr auch nur ein Gedanke gekommen, so, wie sie einst liebte, das konnte keine Liebe sein. Von ihren vielen Rechtfertigungen hat es nicht eine verdient, Rechtfertigung zu sein.

Sie lächelt seltsam, nicht bitter, nicht einmal unglücklich, eher listig:

Ob Amadou ein kleines Geheimnis hat? Vermutlich verbringt er diese Nacht mit einer anderen Frau. Mit einer schwarzen, wie er ein »Schwarzer« ist? Oder mit einer weißen wie sie selbst?

Betty bleibt erstaunlich ruhig. Keine Frau der Welt hat etwas wie sie, etwas, das Amadou Neuschöpfung genannt hat, etwas, das seinen größten Stolz entfacht hat.

Sie steht auf, schlendert schwerfällig in der Wohnung umher, kramt in einigen Papieren und sucht in Amadous Habseligkeiten nach einem winzigen Beweis seiner Untreue. Ein kleiner, abgegriffener Zettel steckt in der Brusttasche seines Hemds. Nicht der banale Zettel, wohl aber die in steiler Schrift geschriebene Adresse bekommt in Bettys Augen eine gewisse Bedeutung. Ihre fixe Idee über Amadous Liebschaft verliert sich im langen Grübeln. Professor Doktor Piet Hein …? Verdammt.

An den Namen der Frau, Toni, kann sie sich noch genau erinnern, nicht aber daran, ob dieser Mann, der Sohn von Irma Hein, Piet heißt. Eines aber weiß sie ganz bestimmt. Das Paar war lange Zeit außer Landes, und als sie kamen, waren sie braun wie die Neger. Und dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie waren aus Angola zurückgekehrt und Amadou hatte diese Adresse bekommen. Die Adresse des Sohnes von Pissnudel Irma. Ein Aufschrei entweicht ihren Lippen: »Wie klein doch die Welt ist!«

Die Nacht war kalt, wie angekündigt. Drüben vom Fluss steigen Nebelbänke auf, grau und träge. Sie schwappen über die Unterstadt und ziehen in breiten Schleiern herauf. Hier oben entladen sie ihre feuchte Last an kahlen Ästen und blanken Fensterscheiben.

Betty erwacht aus einem ängstlichen Traum. Der Platz auf Amadous Schlafstatt ist unberührt. Ihre Blicke jagen durch das Zimmer, finden einen ärgerlichen Halt. Sein gestreiftes Hemd hängt noch immer über dem Stuhl, seine Arbeitsjacke baumelt am Haken im Flur. Sie betrachtet es mit einer gewissen Verachtung. Plötzlich sind das überflüssige Gegenstände, die nicht einmal dazu taugen, Amadou zu ihr zurück zu zwingen. Wer zum Teufel hält ihn davon ab? Sie fröstelt. Düster und schweigsam läuft sie von einem Fenster zum anderen. Irgendwann reißt sie in jähem Zorn am Riegel und zieht das Fenster auf. Er muss da unten stehen und sich nicht herauf trauen. Natürlich traut er sich nicht. Er ist nicht stark genug, um zu dem zu stehen, was er in dieser Nacht getrieben hat. Sie stellt sich vor, wie er die halbe Nacht um das Haus geschlichen ist, wie er sich gequält hat, nach oben zu kommen. Sie selbst hat nicht vergessen, wie sich Beschämung anfühlt. Sie ruft seinen Namen nach draußen in die Kälte, einmal, zweimal. Nichts, keine Antwort. Beim Hinunterschauen droht sie die Last ihres Leibes zu erdrücken. Lange wird das Balg nicht mehr brauchen, um reif für diese Welt zu sein. Diese Welt! Was für eine Welt wird es sein?

Sie muss raus, muss mit jemandem reden, wenn nicht mit Amadou, dann vielleicht über Amadou, der aus lauter Heimweh dem Abbild seiner Schwester Nsamba verfallen war.

Die Würde

Подняться наверх